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Leni und Gero

 

 

Sie saßen auf der nach Westen gerichteten Terrasse, in den weich gepolsterten Liegestühlen, einen schmalen Tisch mit Obst und einer Flasche Champagner zwischen sich. Leni hatte nach dem Besuch der Sauna in ungewohnter Kühnheit vorgeschlagen, in den flauschigen Bademänteln zu bleiben, sie genoss offensichtlich das Gefühl paradiesischer Bedenkenlosigkeit und die sanfte Wärme des frühen Abends vor der verglasten Fassade des nur mäßig besetzten Restaurants.

Der salzige Atem der Nordsee trug den Duft der Dünenwälder, der Kiefern, des Harzes und der feuchten Erde herüber. Die nachmittägliche Sonne strebte geruhsam dem Horizont zu, dieser nadelfeinen Linie zwischen dem blaugrauen Wasser der See und dem von dünnen Schleiern verzierten Himmelsblau, und sie wärmte sogar die Schatten in der Seele. Es gäbe einen farbenprächtigen Sonnenuntergang, das wusste er, das Licht wäre wie ein Bonus für die vergangenen guten Tage.

 

Als sie ihn anrief, vor wenigen Wochen, war er mehr als überrascht, fast verwirrt. Aber er erkannte die Stimme sofort, auch weil jemals nur sie ihn Gero genannt hatte. Damals, im Abschlussjahrgang der Oberschule, als die Liebe in ihren jungen Köpfen alle Wahrnehmungen verdrehte. Bis die Anforderungen der Prüfungsvorbereitung und der Zwang zum Erfolg ihnen die wertvolle Zeit stahl. „Einen Aufschub!“, beteuerten sie sich, „Nur einen Aufschub!“, und sie glaubten daran. Bis sich ihr Leben veränderte.

„Woher hast Du meine Nummer, Leni?“, fragte er erstaunt, sie hatten lange nichts voneinander gehört.

„Ich habe beim Aufräumen die alten Schulunterlagen im Schrank gefunden und Deinen Geburtstag gesehen!“, log sie. „Herzlichen Glückwunsch! Den Rest hat Google für mich erledigt. ‚Pauli & Partner Potsdam‘! Nobel, Dein Auftritt!“

 

Sein Puls hatte sich beschleunigt, wie früher, in ihrer stürmischen Zeit. „Ich mache nicht mehr sehr viel selbst. Die Jungen sollen zeigen, was sie können.“

Nach nur wenigen Sätzen lud er sie ein: „Wir haben uns so viel zu erzählen. Komm mit mir nach Ording, Leni, an die Nordsee, für eine Woche. Ein paar Tage Ausspannung und Wellness, Spaziergänge in der gesunden Luft, es wird Dir gefallen.“

Sie hatte gezögert, aber nach ein paar Tagen nach dem Hotel gefragt. Und jetzt saßen sie hier.

 

Er würde ehrlich sein, hatte er sich vorgenommen. Sagen, was gesagt werden müsste, ohne Verschweigen und ohne Beschönigungen, für Lügen war ihm ihre Nähe zu wertvoll und seine Zeit zu schade geworden. Und er war bereit, ihr zuzuhören, auch wenn alte Schmerzen neue Narben schürfen würden.

Sie hatten viel miteinander geredet. Sie waren in den wenigen Tagen gewandert und gefahren, nachmittags, wenn die Pflege des Körpers am Vormittag nach der Anregung des Geistes verlangte. Er kannte die Region von vielen Besuchen, die endlos scheinenden sandigen Strände, den Leuchtturm von Westerhever, den Eider-Damm, die kleine Kirche in Welt. Sie hatten über Vieles gesprochen, Belanglosigkeiten, wären sie nicht zwischen ihnen gesprochen worden.

 

„Lässt man eine Dame so lange auf eine Antwort warten?“ Sie nahm ein Stück Apfel aus der Schale auf dem Tisch und sah ihn schelmisch an.

Gerhard schrak hoch aus seinen Gedanken über die Vergangenheit, über die Zukunft, die morgen mit der Heimreise beginnen würde, sah sie über die ihm trotz ihrer Nähe noch wie unüberbrückbar vorkommende geringe Entfernung hinweg an. Hatten Wissenschaftler nicht vor Jahren untersucht, was an einem Gesicht Sympathie hervorruft? Das Gleichmaß im Abstand der Augen und des Mundes! Ihre Symmetrie war noch immer makellos. Und ihr Mund …! „Oh! Verzeih‘, Leni! Ich war in Gedanken. Was hast Du gefragt?“

 

„Erinnerst Du Dich noch an die Ohrfeige, die Du mir damals gegeben hast?“

 

Die Zeit der Banalitäten war plötzlich zu Ende! Sie hatte die Initiative ergriffen, eine Grube in ihrem Herzen geöffnet! „Ändert es noch etwas, wenn ich mich jetzt entschuldige?“, fragte er, unfreundlicher als gewollt.

Er erinnerte sich genau! Es gibt Dinge, die vergisst man nicht, je mehr man sich das Vergessen wünscht. Es war in einer Ecke auf dem Schulhof geschehen. Sie waren vierzehn Jahre alt!

„Ich war enttäuscht, wütend und dazu in der Pubertät. Du hattest heftig mit Franz geflirtet und mich gesehen, aber nicht beachtet.“

 

Sie wusste jetzt, dass auch er sie nicht vergessen hatte! „Ich kam mir so hilflos vor, Gero! Was wussten wir denn damals voneinander! Aber die Kinder von heute leben trotz Aufklärung und Internet mit denselben Widersprüchlichkeiten!“

„Du bist Lehrerin geworden.“, stellte er nachdenklich fest.

„Ja. Aber ich kann noch nicht einmal meinen Enkeln bei ihren eigenen Erfahrungen helfen!“ Er hörte Enttäuschung in ihren Worten.

 

Sie versuchte ein anderes Thema, sprang in der Zeit vorwärts, als hätte damals neuer Schmerz das Gewesene verschüttet. „Als ich ein paar Jahre später aus Amerika zurückkam, warst Du nicht mehr da!“

 

Die Anklage schmerzte ihn. Man hatte es ihm gesagt, auf einem der Jahrgangstreffen. Dass Leni, dass Helene Becker mit ihm gerechnet, auf ihn gehofft habe. Sich wohl enttäuscht nach kurzer Zeit in eine Ehe gestürzt hatte und zur Familie ihres Mannes gezogen war. Mit einem Kaufmann Andreas Weidling, Elektro- und Haushaltswaren, München. Arbeitsam, solide, bodenständig.

„Du weist doch, wie meine Eltern waren. ‚Du musst etwas Besseres als wir werden, Junge! Studiere doch etwas!‘ Und Du warst nach dem Abitur plötzlich weg. Ohne mir einen Ton zu sagen. Worauf hätte ich denn warten sollen? Ohne zu wissen, wie lange?“

 

Die Stimmung schien ihnen zu verderben, ausgerechnet heute!

 

Leni sah zum Meer hinaus. Sie sah ihn nicht an. Sie würde seine Antwort hinnehmen, ohne in seinem Gesicht nach der Wahrheit zu forschen. „Denkst Du gelegentlich noch an uns? An die ungenutzt verstrichene Möglichkeit? Was wäre wenn?“

Sie wussten voneinander! Von den Gedanken, denen damals Nichtigkeiten im Wege standen.

Gerhard setzte sich auf und zündete einen Zigarillo an. Das einzige Laster, das ihn bereits seit seiner Jugendzeit begleitete. Sie mochte den Duft. Sie hatte es ihm bereits am ersten Tag gesagt. Er erinnere sie an Andreas, ihren verstorbenen Mann. Vielleicht hatte dessen Rauchen sie auch nur an Gero erinnert.

Er versuchte nach den beiden ersten Zügen einen Scherz: „Es ist nicht wie eine Narbe, die bei wechselndem Wetter schmerzt. Es ist mehr wie ein Muskelkater nach einem Wettlauf: Es schmerzt, aber es hält eine wunderschöne Erinnerung wach!“

 

Sie spürte, dass seine Worte ihr gut taten. Aber es lag noch mehr Unrat in der Seele: „Und dann hast Du Tilly geheiratet. Warum ausgerechnet Tilly?“

 

Mathilde Weber wurde von allen Tilly genannt. Sie war in Manchem das Gegenteil von Leni: apart, wohlgeformt, temperamentvoll, kess und direkt, bisweilen frech, der Schwarm aller Jungen auf dem Schulhof.

„Als ich meine Zulassung als Rechtsanwalt hatte,“, erinnerte Gerhard sich, „gab ich für unseren Jahrgang eine Party. Du hattest Deine Teilnahme abgesagt.“ Oh ja, sie erinnerte sich! Mit Schmerzen! Aber sie hatte kurz davor entbunden, ihr zweites Kind, eine Tochter. „An dem Abend kam Tilly. Du erinnerst Dich sicherlich noch an ihre unbekümmerte Art, zu provozieren. Sie habe jetzt lange genug auf mich gewartet, scherzte sie, jetzt könnten wir heiraten. Ja, so fing es an, obwohl wir alle darüber lachten.“

 

Sie hörte den Schatten auf seiner Stimme. „Ihr hattet Euch nicht lange?“

Es war weniger eine Frage. Das Ereignis hatte sich schnell herumgesprochen, damals. Würde er heute noch Trost benötigen? Würde sie ihn trösten können?

 

„Ich wollte Kinder. Tilly noch nicht, sie wollte leben, die Welt erleben. Nachts auf der Rückfahrt von ihren Eltern kam sie von der Fahrbahn ab, streifte einen Alleebaum und stürzte mit dem Admiral in den Fluss. Man fand sie erst am folgenden Morgen. Sie war schwanger gewesen.“

Er richtete sich auf, schenkte Champagner nach, um sich von der Last der Erinnerung zu befreien. Als er ihr das Glas reichte, berührten sich ihre Finger und Leni hielt einen Moment seine Hand.

„Ja!“, sagte er, leichthin, um die Stimmung zu retten, so als kenne er alle Verletzungen auch ihrer Seele, „Ich fühlte mich danach entwurzelt, entfremdet, war nirgends mehr zu Hause!“

 

„Aber Du kamst zum nächsten Jahrgangstreffen.“, erinnerte sie.

 

Er nickte. „Nur, um Dich zu sehen und Dich zu hören!“, klagte er und zog die Schultern hoch, wie um in sich selbst Schutz zu suchen. „Du warst das blühende Leben, sprühtest vor Erfolg und Energie und Optimismus und zeigtest die Fotografien Deiner Kinder!“

„Wie schmerzhaft muss das für Dich gewesen sein! Aber ich erfuhr erst später von deinem Unglück. Ich sah nur Deine traurigen Augen.“

 

„Dann kam die Wende und ich fand einen Grund, die Stadt mit ihren Erinnerungen zu verlassen. Ich gründete meine Kanzlei in Potsdam und stürzte mich in die Arbeit. Es gab viel zu tun: die Besitzverhältnisse, die Stasi, die Einführung der neuen Rechtsordnung.“ Er sah sinnierend vor sich hin.

 

„Und dann haben wir uns aus den Augen verloren!“, ergänzte sie. „Andreas wurde krank, Lungenkrebs, sein vergeblicher Kampf hat lange gedauert. Das Geschäft war nicht zu halten. Ich musste mir eine Arbeitsstelle suchen. Die Kinder gingen aus dem Haus, ich war plötzlich alleine. Alles zerfloss in Nichts ...!“

 

Würden sie in wenigen Minuten mit dem Schicksal hadern und gemeinsam weinen?

 

Gerhard sah auf seine Armbanduhr und sprang auf: „Komm, Leni! Die alten Hebammen an der Küste sagten früher, mit der Flut kämen die Kinder und das Glück! Lass uns noch ein Stück wandern!“

 

Sie nahmen den hölzernen Steg bis zum Wasser und gingen barfuß nach Süden, der Flut entgegen. Sie hatten den Blick gesenkt, aber ihre Augen sahen weder den Unrat im Spülsaum noch die zierlichen Riffel im hellen Sand. Während ihre Füße den Weg auf der vom Wasser fest gewordenen Sandbank fanden, gingen ihre Gedanken noch einmal alle Wege und Irrwege, verharrten auf den Höhen und in den Tiefen ihres Lebens. Sie kehrten um, als das auflaufende Wasser ihre Knöchel kühlte. Es war ihnen, als hätten sie den in Jahren aufgehäuften Schmerz einem wissenden Meeresgott anvertraut und wohlgesonnen Entlastung erhalten! Es war der sanfte Wind des Abends, der ihre Augen trocknete und nicht fragte, ob es Tränen seien. Sie sahen ein paar Strandsegler und nur wenige Wanderer, die wie sie die Weite des Strandes suchten. Ihre Schultern berührten sich, wenn sie Seetang oder Treibgut betrachteten.

 

„Haben wir vorgestern hier nicht irgendwo unsere Namen in den Sand geschrieben?“ Leni war stehengeblieben, drehte sich suchend.

„Sind wir nicht zu alt für so etwas?“, hatte sie ihn gefragt und nach einem Stock im Treibgut gesucht.

Er ergriff ihre Hand: „Heute schreibst Du, malst Du und baust Du Burgen in den Sand. Morgen kommt das Wasser und übermorgen ist der Sand, als wärest Du nicht hier gewesen. Hier habe ich Bescheidenheit vor der Natur gelernt!“

 

Sie stiegen die Treppe zur ‚Arche Noah‘ hinauf, dem rustikalen Restaurant an der Wasserlinie auf seinen hohen hölzernen Beinen, als die Sonne das Wasser berührte und die Dunstschleier unter dem Himmel erglühten. Ein Tisch in der Ecke der Freiterrasse hinter der gegen den Abendwind schützenden Glaswand lud ein und sie erkundeten die Spezialitäten der Küche.

Zufrieden am Leib, im Geist und in der Seele kehrten sie erst spät zurück.

 

Für den Heimweg am nächsten Tag hatte Gerhard ein Flugzeug gechartert, einen Taxiflug in einer viersitzigen Cessna, in der sie eng zusammen saßen, von dem kleinen örtlichen Flugplatz nach Fuhlsbüttel.

 

Als sich im Hauptbahnhof die Tür des ICE hinter Leni schloss, leise zischend das Gefühl von schmerzender Endgültigkeit hinterlassend, stockte sein Atem. Mit leisem Summen und zunehmender Beschleunigung verschwand das Fahrzeug auf den mäandernden Gleisbündeln und Gerhard wurde sich plötzlich seiner vorher nie erlebten Atemnot bewusst. Er würde Leni anrufen, morgen, spätestens übermorgen! Ihr Blumen schicken! Eine Karaffe mit Sand zur Erinnerung! Vielleicht ließe sie sich noch einmal einladen!

 

Leni bemühte sich, wieder zu Helene Weidling zu werden.

Gero hatte ihr eine Modezeitschrift am Kiosk gekauft, aber sie sah keine Bilder und keine Buchstaben auf den aufgeschlagenen Seiten. Hannover? Göttingen? Die Halte waren nicht in ihr Bewusstsein gedrungen. Zwischen Fulda und Würzburg zwang sie sich, einen Artikel zu lesen. Neuseeländische Wissenschaftler hatten empfohlen, Kinder nicht vor jedem Risiko zu behüten, sondern ihre Entwicklung mit Eigenverantwortung zu fördern. Hatte sie das nicht auch immer gefordert?

 

In München stand ihre Tochter mit den beiden Enkeln am Bahnsteig.

Sie hatte sich wieder gefangen.

Ja, sie empfand Freude, Zufriedenheit, Verpflichtung, auch Stolz!

 

Aber Glück, dachte sie, dieses seltene, tiefe Gefühl, das man bis in die Fingerspitzen spürt und das einen die Welt vergessen lässt, Glück hatte sie für ein paar Stunden am Strand empfunden!

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 23.05.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Denjenigen gewidmet, die rebellisch in unserer Erinnerung ruhen!

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