Chan Mee Koi, der Leitende Direktor von 'EBS Exploration, Building and Services AG Taipeh', spürte eine innere Unruhe, die er sich nicht erklären konnte und die ihn an geordnetem Arbeiten hinderte. Er ging über die weite, geschwungene Wendeltreppe, die sich im Zentrum seiner Büroetage im Penthouse befand, hinauf in das Observatorium. Hier war er noch immer zu innerer Harmonie gekommen: Der Blick aus der Höhe der 88. Etage auf die tief unter ihm liegende Stadt, das Spiel von Licht, Farbe und Wind im Dunst des Flusses und der fernen See; selbst ein Unwetter, das mit der Wucht eines Taifuns über das Land fegte, hatte zu seiner Beruhigung beigetragen, weil es ihm an einem kritischen Tag gezeigt hatte, dass nicht alle Probleme von Menschen beherrscht werden können, dass es also Ereignisse gibt, die man als unabänderlich hinzunehmen hat.
Eigentlich hatte Chan allen Grund, mit der Entwicklung zufrieden zu sein. Der Vorschlag aus einem Workshop des Direktoriums, einen riesigen Freizeitpark im Meer zu entwickeln und damit die wirtschaftliche Zukunft des Konzerns für Jahrzehnte abzusichern, war durch den Familienrat angenommen worden. Es wäre zwar günstiger gewesen, wenn diese Entscheidung bereits eine Woche vorher getroffen worden wäre, am Geburtstag von MaTzu, der Meeresgöttin. Aber Ma Rugu, der Bruder seiner Frau und als Leiter des Betriebes ‚EBS Shen Tiefbau und Transport‘ im Familienrat, hatte seine Bestrebungen, Chan als Leitenden Direktor zu diskreditieren, auf die Spitze getrieben, die Auseinandersetzung zwar verloren, aber damit zumindest einen Aufschub der Entscheidung um eine Woche erreicht. In der zweiten Beratung war der Vorschlag schließlich angenommen worden, aus für Chan noch nicht ersichtlichen Gründen auch mit der Stimme Ma Rugus, auch wenn er damit bestimmte Vorbehalte verbunden hatte, was eigentlich einer Stimmenthaltung gleichkam. Aber was sollten Vorbehalte in dieser Phase? Es war lediglich zu entscheiden, dass untersucht werden solle, ob der Vorschlag durchführbar sei!
Es war ein Vorschlag und ein Beschluss von weittragender Bedeutung. Chan gestand sich ein, dass eine nur zweimalige Beratung als Entscheidungsgrundlage äußerst wenig war. Er hatte im Stillen mit einer viel gründlicheren und langwierigeren Beratung gerechnet. Hatte er nicht schon deshalb allen Grund zur Zufriedenheit?
War nicht auch die Erfolglosigkeit des Angriffes von Ma Rugu auf ihn ein weiterer Grund, in Ruhe die Arbeit fortzusetzen? Sicherlich nicht: Ma Rugu würde ihn weiter bekämpfen, offen oder im Stillen, er musste auf der Hut sein. Und das Verhalten der Mitglieder der Familie Bai im Familienrat, die wie alle den Streit unter großem Entsetzen erlebten, würde sicherlich in nächster Zeit ebenfalls noch für Überraschungen sorgen.
Dazu kamen Chans eigene Zweifel an dem vorgeschlagenen Projekt, die er mit der Suche nach sachlich fundierten Antworten zu entkräften suchte. Aber in einem Punkt war er sich sicher: Da es um die Zukunft des Unternehmens ging, wenn auch erst um die noch ferne Zukunft, musste er die Zügel in der Hand behalten! Dafür war der Vorschlag zu schwierig, aber auch zu wichtig für das Unternehmen. Und außerdem war es höchst interessant, unmittelbar selbst zu betreiben, was sich wohl aus der ersten Idee entwickeln ließe. Mehr als eine erste Idee war es noch nicht, und sie war so kühn, dass er sich wunderte, dass der Familienrat so schnell zugestimmt hatte.
Der Familienrat, bestehend aus jeweils drei Mitgliedern seiner Familie, Chan, und der Familie seiner Frau, Bai, hatte am Mittwoch der vergangenen Woche über den Vorschlag zum zweiten Male beraten. Der Rat hat in dem Geflecht von Unternehmen und Betrieben, zu dem sich die Unternehmensgruppe in den letzten zwanzig Jahren entwickelt hat, eine gewichtige Stellung. Er ist trotz anderslautender vertraglicher Vereinbarungen der eigentliche Träger der Verantwortung für alle wesentlichen Pläne, für die Mitarbeiter und ihre Familien. Er stellt erforderliche Finanzmittel, so weit die in den Familien vorhanden sind, zur Verfügung und spricht Empfehlungen an den Leitenden Direktor aus.
Chan war noch nie von den Empfehlungen des Familienrates abgewichen, wenn er sich auch die Möglichkeit immer ausdrücklich vorbehielt. Da der Familienrat bisher nur einstimmige Entscheidungen getroffen hatte, wäre es auch unlogisch gewesen, den Empfehlungen, an denen er vorbereitend mit einer Stimme beteiligt war, letztlich doch nicht zu folgen.
Aber: Er spürte als Leitender Direktor eine besonders schwere persönliche Verantwortung, auch den beiden Familien gegenüber, unabhängig von der Frage, ob er sich nach den Vereinbarungen mit den Familien im Falle eines Misserfolges hinter der Verantwortung des Familienrates hätte verstecken wollen oder können. Hatten seine Eltern seine große Ernsthaftigkeit vorausgesehen, als sie ihm als dem Ersten Sohn in hoffnungsvoller Erwartung den Namen Mee Koi, 'Vermehrer des Familienschatzes', gaben? Oder fühlte er sich wegen seines Namens dem elterlichen Wunsch in besonderem Maße verpflichtet? Jedenfalls bezweifelte er, wenn seine Gedanken abschweiften, dass Ma Rugu, der versuchte, nach den Aufgaben des Leitenden Direktors zu greifen, ein solches Maß an Verantwortlichkeit empfand.
Nun hatte der Familienrat seinem Vorschlag zugestimmt. War das nicht Grund genug, gestärkt mit der Arbeit zu beginnen?
Chan konnte und wollte sich den Konzern auch nicht aus den Händen reißen lassen!
Das Unternehmen war aus dem kleinen Baubetrieb seines Vaters entstanden. Ein Erdbeben vernichtete 1975 das Wohn- und Betriebsgebäude in der Nähe von Keelung, wo die Familie damals ansässig war. Nach einer schlaflosen Nacht hatten die Götter und die Ahnen seiner Mutter empfohlen, die Familie solle nach Taipeh ziehen. Dort richtete der Vater ein neues Unternehmen ein für Bauarbeiten nach der alten Bauweise mit Bambus und Holz und nach der neuen Bauweise mit Stein, Stahl und Glas.
Nach den ersten zehn Jahren hatten seine Eltern das ihnen möglich Erscheinende erreicht: Der Baubetrieb entwickelte sich zu einem florierenden Geschäft, das so viel Gewinn erbrachte, dass die notwendigen Mitarbeiter für die Baustellen, für Planung und Verwaltung eingestellt werden konnten und die Familie immer auskömmlichere Zeiten erlebte.
Als Vater Chan starb, die schweren frühen Jahre bei Keelung und die des späteren Neuaufbaues in Taipeh hatten das Herz in einem Maße belastet, dass es eines Tages seinen Dienst nicht mehr versah, drohte dem jungen und noch nicht gefestigten Unternehmen großes Unheil. In einem solchen Fall sieht der Staat mit seinen Gesetzen vor, dass der Betrieb zwischen den Kindern als Erben aufgeteilt wird.
Mee Koi studierte zu dieser Zeit an der Universität Tainan Verkehrswesen, nachdem er sein Studium an der Universität Taipeh in Ökonomie und Architektur bereits abgeschlossen hatte. Er beendete sein Studium kurzfristig mit dem Diplomgrad eines Magisters und kehrte in den elterlichen Betrieb zurück.
Der zwei Jahre jüngere Bruder Chan Naru-Pei hatte von frühester Kindheit an Geschick im Umgang mit Baumaterialien entwickelt, viel stärker als Mee Koi. Naru-Pei werkelte bereits als Kind auf dem Betriebshof, sah den Bauarbeitern bei der Arbeit zu und half schon bald auf den Baustellen.
Als der Betrieb ausreichende finanzielle Freiräume schaffte, erfüllte die Familie sich einen weiteren, lange gehegten Traum. Die Eltern hatten den Zweiten Sohn Naru-Pei genannt, 'den rechten Weg mit voller Energie'. Jetzt konnte man den Göttern hilfreich die Gelegenheit geben, den Heranwachsenden auf den rechten Weg zu bringen. Vater Chan schickte auch den Zweiten Sohn an die Universität, zum Studium der Fachrichtung Hochbau. Das wäre bei der Veranlagung Naru-Peis die beste Grundlage für seine Tätigkeit im Betrieb. Außerdem veränderte sich die Art, zu bauen: größere Vorhaben, andere Materialien, neue Techniken. Das erforderte gründliches Studium bei den besten Lehrern! So wurde Naru-Pei eine wertvolle Hilfe und nach dem Tode von Vater Chan konnte er sofort und in voller Verantwortung den technischen Betrieb mit allen Baustellen weiterführen.
Das dritte Kind der Familie Chan, Zhanshi, acht Jahre jünger als Mee Koi, war ein schwieriges Kind.
Der Vater lehnte ihn aus vielen Gründen ab: Zwei Kinder seien nach Auffassung des Staates genug und man störe nicht ohne Not die Harmonie mit dem Staat; mit zwei Kindern habe die Familie Chan genug zur Fortsetzung der Familientradition getan; ein weiteres Kind störe in diesem Zeitpunkt den Aufbau des Betriebes, der noch jede Hand benötige.
Der Dritte Sohn stand immer im Wege, auf dem Betriebshof vertrug sich seine Anwesenheit nicht mit der inzwischen groß gewordenen Geschäftigkeit, den Fahrzeugen und den Maschinen. So konnte Zhanshi auch kein Verhältnis zu seinem Vater und dem elterlichen Betrieb entwickeln, und seine Mutter wurde immer nachsichtiger, um auszugleichen, was dem späten Sohn an Zuwendung und Verständnis fehlte.
Zhanshi, 'der Kämpfer', so von der Mutter genannt, weil er als ungewollte Schwangerschaft und als spät Geborener bereits so viele Widerstände durchzustehen hatte, Zhanshi wurde immer aufsässiger, fordernder, entwickelte sich besonders an der Schule zum Rebellen.
Als der Monat der Trauer vergangen war und die Behörden wegen der Aufteilung des Erbes und des Betriebes anfragten, bat Mee Koi seine Mutter und seine beiden Brüder an den großen Tisch auf der Veranda hinter dem Büro. Mee Koi als das älteste männliche Mitglied der Familie hatte nun die Verantwortung für Familie und Betrieb.
Es war unangenehm, über die anstehenden Fragen zu reden. Zhanshi war den beiden ersten Gesprächswünschen ausgewichen, mit Hinweisen auf Veranstaltungen in seiner Schule, bis Mee Koi ihn eines Morgens vor dem Verlassen des Hauses ansprach und ihm ernst in die Augen sah: “Zhanshi, mein Bruder, ich weiß, wie sehr Du Dich in Deiner Schule bemühst. Ich bewundere Deinen Eifer. Aber auch wir müssen über unsere Pflichten gegenüber dem Betrieb reden. Nenne mir einen Termin, an dem Du mit der Familie reden kannst.”
Zhanshi konnte nicht mehr ausweichen, man einigte sich auf den frühen Nachmittag des nächsten Sonntages. Das war, wie später allen Beteiligten bewusst würde, die Geburtsstunde des Familienrates.
Mutter Chan hatte sich viel Mühe gegeben, das Gespräch angenehm zu gestalten. Blumen standen auf dem Tisch, süßer Tee und kleine Gebäckstücke. Der Platz des Vaters war gedeckt und geschmückt. Mee Koi als Ältester setzte sich rechts neben den Platz seines Vaters. Zhanshi wirkte ungeduldig und Mutter Chan lief, ihrer inneren Unruhe folgend, geschäftig hin und her.
“Ob wir es wollen oder nicht,”, begann Mee Koi, “ob es für den Betrieb förderlich ist oder nicht: Das Gesetz verlangt, dass wir den Betrieb in drei gleichgroße Teile zerschneiden.”
Mutter Chan wollte aufstehen, um sich dem Altar und den Ahnen zuzuwenden: 'Drei Teile! Was wird aus mir? Vater!'
Mee Koi legte die Hand auf ihren Arm und hielt sie auf ihrem Platz. “Das Gesetz verlangt es, aber es kann nicht verhindern, dass wir uns auf eine bessere Regelung einigen!”
Zhanshi wirkte wie in Gedanken versunken. Naru-Pei, der alle Baustellen bis in den letzten Winkel kannte und den Betrieb in den letzten Wochen weitergeführt hatte, fragte gereizt: “Bist Du schlauer als das Gesetz?”
Mee Koi trug seinen Vorschlag vor. Für das Gesetz werde der Betrieb aufgeteilt: Zhanshi erhalte den Besitz, Naru-Pei führe den Baubetrieb und Mee Koi übernehme Verwaltung, Planung und Finanzierung. Dann sei jeder von den anderen beiden abhängig und man müsse sich in Zukunft einigen, was im Interesse des Betriebes nicht schwer sein dürfte. Außerdem werde für die Mutter gemeinsam gesorgt.
Zhanshi antwortete als Erster: “Ich will keine Aufgaben im Betrieb übernehmen. Ich bin zu jung und unerfahren und will zunächst meinen eigenen Weg suchen.”
Mee Koi hatte auch zu diesem Einwand einen Vorschlag: “Dann verwaltet unsere Mutter mit unserer Hilfe Deinen Betriebsteil so lange, bis Du Dir über Deine Absichten klar geworden bist.”
Naru-Pei, für den alles seine Ordnung haben musste, hatte Zweifel: “Wie soll das Zusammenwirken der einzelnen Betriebsteile gestaltet werden, die Verantwortung, die Teilung von Kosten und Erträgen?”
Mee Koi erinnerte: “Bisher war der Gesamtbetrieb in einer Hand, in der des Vaters. Dabei hat es nie Streit zwischen uns Brüdern über Verantwortung, Aufgaben oder Erträge gegeben. Wir drei bilden gemeinsam unterhalb des Gesetzes eine gemeinsame Hand, die den Betrieb und die Familie trägt. Wir planen gemeinsam und wir entscheiden gemeinsam.”
Dieser Tag bekam, aus späterer Zeit rückschauend betrachtet, historische Bedeutung. Es wurden die Grundsätze vereinbart, die in den folgenden Jahren zu einem ganzen Geflecht von Betrieben unter dem Dach einer Holding und zur Schaffung eines verantwortlichen Familienrates führen würden. Damit wurde eine Zerteilung des jungen Betriebes in nicht lebensfähige Teilbetriebe verhindert und gleichzeitig wurden wesentliche gesellschaftliche Grundsätze gewahrt: die hohe Bedeutung der Familie, der Vorrang des Wohles des Betriebes und die Pflege der Harmonie im familiären Bereich.
Mee Koi reichte seine Hände, zu der neben ihm sitzenden Mutter, über den Tisch hinweg zu seinem jüngeren Bruder Naru-Pei: “Geben wir uns die Hände, damit alles so beschlossen sei für alle Zukunft.”
Zögernd ergriff auch Zhanshi die ihm entgegen gereckten Hände, schloss den Kreis, gab damit seine Zustimmung und gleichzeitig dem Familienunternehmen Chan die Möglichkeit, den Tod des Vaters ungefährdet zu überdauern.
Dass diese Grundsätze klug gewählt waren, zeigte sich mit der Zeit immer deutlicher. Die Ausdehnung der Aktivitäten der Familie, die Entwicklung zu einer ganzen Gruppe von Gesellschaften, Unternehmen und Betrieben und ihre Einordnung in die Struktur des Unternehmens machten zu keiner Zeit Schwierigkeiten. Als Mee Koi heiratete und gleichzeitig mithilfe der Familie seiner Frau neue Betriebe für notwendig gewordene Aufgaben gründete, wurden der Familienrat vergrößert, aus beiden Familien mit jeweils drei Mitgliedern besetzt und dabei die Zuständigkeiten neu geordnet. Unverändert blieben aber die seit Jahren bewährten Grundsätze: die Verantwortung des Familienrates durch Bereitstellung von für neue Betriebe benötigten Finanzmitteln, durch paritätische Besetzung Einigungszwang zwischen den Familien zur Wahrung der Harmonie, Geschäftsführung in den einzelnen Betrieben nur durch einen Familienangehörigen.
Der Familienrat hatte sich gerade wieder einmal trotz unerwarteter Schwierigkeiten bewährt. Jedenfalls hoffte Chan, dass die aufgrund dieser Empfehlung zu treffende Entscheidung für die Zukunft richtig sei.
Vorausgegangen waren Überlegungen Chans als Leitender Direktor der Holding: Die Unternehmensgruppe hat inzwischen eine erhebliche Ertragskraft. Da alle Unternehmungen aus Mitteln der Familien finanziert werden, bleiben die Erträge den Familien und schaffen dadurch die wirtschaftliche Grundlage für noch größere Unternehmungen in der Zukunft. Die von EBS verwirklichten Projekte sind bisher immer größer geworden. Das gerade bezogene neue Verwaltungszentrum, in dem auch die Unternehmensführung untergebracht ist, mit dem achtundachtziggeschossigen Hochhaus Taipeh 105, dieses zwar mit geringerer Anzahl von Etagen als das in der Stadt im Jahre 2004 eingeweihte Kongresszentrum Taipeh 101 mit seinen einhunderteins Etagen, aber auf den Meter genau so hoch, weil auf einem der Hügel im nördlichen Stadtgebiet errichtet, auf den Meter genau so hoch geplant zur Wahrung der Harmonie in der Stadt und zwischen konkurrierenden Unternehmen, dieses neue Verwaltungszentrum hat Aufsehen erregt, auch wegen seiner Größe in der Trägerschaft eines Familienunternehmens. Das nächste Projekt, gerade vertraglich vereinbart, ein gemeinsames Verwaltungszentrum für mehrere Industriebetriebe in der Region Pingtun, wird neue Maßstäbe setzen, nicht nur wegen seiner Größe, sondern auch durch die Tatsache, dass es gelungen war, die sehr verschiedenartigen Betriebsverwaltungen in einem Zentrum zusammenzufassen und in vielfacher Hinsicht kooperieren zu lassen. Nun fordert die Zukunft vorausblickende Überlegungen.
Die Erfahrungen mit diesen Großprojekten bewirkten, dass Chan und das Direktorium von EBS die Scheu vor großen Vorhaben verloren hatten.
Andererseits war sich Chan bewusst: Die Zukunft will geplant, gestaltet werden. Sie nähert sich zwar unaufhaltsam, aber Erfolg entsteht nicht von alleine. Man muss sich schon weit im Voraus vorstellen können, mit welchen Aufgaben man zu welcher Zeit die Ertragskraft des Unternehmens absichern kann.
Deshalb hatte sich die Direktorenkonferenz am 17. April dieses Jahres, also vor noch nicht ganz drei Wochen, mit der Frage befasst, welche Aktivitäten wohl in Zukunft für EBS infrage kommen könnten. Man hatte analysiert, dass Urlaub und Freizeit den Menschen das meiste Vergnügen bereiten, dass etwa 8 % des Volkseinkommens hierfür ausgegeben werden und dass der Tourismus durch viele aktuelle Einflüsse im Lande und international in Zukunft das größte Entwicklungspotenzial hat: Eine jährliche Steigerung der Umsätze im langfristigen Durchschnitt um über 70 % wurde prognostiziert, höher als in allen anderen Wirtschaftszweigen. Auf dieser Grundlage hatte die Direktorenkonferenz vorgeschlagen, einen riesigen Freizeitpark im Meer zu planen. An dem Bau und dem späteren Betrieb könnten alle heutigen und viele zusätzlichen und neuen Unternehmungen von EBS beteiligt werden, sodass eine dauerhafte, erweiterungsfähige und ertragreiche Steigerung des Firmengewinnes erzielbar sei.
Der Familienrat hatte eine erste Beratung abgebrochen, nicht etwa wegen unübersehbarer Konsequenzen des Projektes, sondern wegen unsachlicher Angriffe Ma-Rugus gegen Chan als Leitender Direktor. Aber bereits in der zweiten Beratung war empfohlen worden, die Untersuchungen für das Projekt aufzunehmen.
In der folgenden wöchentlichen Direktorenkonferenz hatte Chan dem Direktorium mitgeteilt, dass sein Vorschlag positiv aufgenommen worden sei und jetzt eine Arbeitsgruppe mit den Untersuchungen beginnen könne. Die Abteilungen wurden gebeten, jeweils ihren besten Mitarbeiter für diese Aufgabe freizustellen, sofern der jeweilige Direktor nicht persönlich in der Arbeitsgruppe beteiligt bleiben wolle. Die Arbeitsgruppe habe innerhalb einer Woche ihre Arbeit aufzunehmen, die Koordination erfolge durch Djin Lian-Moot, die Direktorin der Abteilung Konzernleitung.
Eigentlich waren alle Voraussetzungen zur Aufnahme der Arbeit an dem neuen Projekt günstig. Und trotzdem: warum diese Unruhe? Was störte die Harmonie zwischen dem Geist und den Empfindungen? Chan verließ rastlos das Gebäude, setzte sich in seinen Wagen und fuhr aus der Stadt in östlicher Richtung. 'Wohin will ich?', fragte er sich. Er suchte einen Platz, an dem er sich auf sich und seine Gedanken ungestört konzentrieren könnte.
Der Garten mit den Gräbern der Ahnen in dem kleinen Dorf nahe Keelung, so dachte er, würde ihm heute keine Antworten auf seine Fragen geben. Trotzdem waren seine Gedanken bei seinem verstorbenen Vater, gingen den Lebensweg zurück bis in frühe Tage der Kindheit. Nur sehr selten nahm der arbeitsame Vater sich Zeit für seine Kinder, um Lob, Tadel, Belohnung oder Bestrafung auszusprechen. Deshalb blieben die wenigen Ereignisse auch unauslöschlich im Gedächtnis. “Ältester Sohn!”, hatte der Vater eines Tages gesagt, “Begleite mich an das Meer. Das Meer ernährt uns auch dann, wenn andere Quellen versiegen. Du sollst lernen, wie ein Mann Fische fängt.”
Welch ein aufregender Tag! Sie wanderten den Strand entlang, fingen einen Fisch, den sie auf einem offenen Feuer aus angeschwemmtem Holz brieten, und wanderten weiter. Bis zu den rätselhaften Felsen, halb im Sand, halb im Meer, wie ein großer Fisch, ein alter Mann aus Stein, große und kleine Klippen, aufgetürmt, von Wind und Wellen zernagt. Hier gab es reiche Beute, Krebse und Muscheln, sie fingen Fische in bunten Farben mit einer einfachen Leine.
Der Wind frischte auf, Wellen sprangen gegen die Felsen. Sie setzten sich auf eine etwas erhöhte, ausgewaschene Felsenbank. Der Vater sagte, nach der Arbeit müsse man sich jetzt ausruhen. In der Zeit könne auch das Meer sich wieder beruhigen und den Rückweg freigeben. Er strahlte Wissen und Stärke aus, was dem Jungen das Gefühl gab, in Geborgenheit an einem Abenteuer für Männer teilzunehmen, das keine Angst zuließ, auch nicht, als Gischt und Wellenkämme nach den Füßen der Beiden griffen.
Erst spät am Abend erreichten sie festes Ufer und machten sich auf den langen Heimweg durch die Nacht. Als Mee Koi viele Jahre später den Tag als großes Erlebnis in Erinnerung rief, gestand sein Vater, mit welcher Furcht vor dem wild gewordenen Meer und mit welcher Angst um das Leben des Kindes er auf dem Felsen ausgeharrt hatte.
Da wuchs aus der Erinnerung an einen abenteuerlichen Tag eine eigenartige, widersprüchliche Erkenntnis: die Ängste des die Gefahr kennenden Mannes im Gegensatz zu der Gewissheit des Kindes im Schutze des Vaters. Ob es diesen Platz noch gab?
Mee Koi stellte den Wagen neben der Strandstraße ab, ließ Jacke und Schuhe im Auto und machte sich auf den Weg, der ihm nach so vielen Jahren wieder vertrauter wurde. 'Das Wasser!', dachte er, 'Immer wieder das Wasser. Sehe ich nur deshalb Wasser, weil ich auf einer Insel lebe? Sonne, Licht und Farbe beflügeln die Sinne. Auf dem festen Land könnte ich bauen. Aber die Zukunft suche ich auf dem Wasser!'
Er begann, Muscheln, kleine Steine und Holzstücke einzusammeln, 'wie damals, als ich an der Hand des Vaters wanderte!', erinnerte er sich. Die Erinnerung an das Zusammensein mit dem Vater war schmerzhaft, aber zugleich wohltuend und ermutigend.
Die Felsen waren fast noch so wie in seiner Erinnerung, vielleicht etwas kleiner, waren sie nicht höher, mächtiger, wilder gewesen? Er fand den Platz, auf dem er mit seinem Vater den Wellen getrotzt hatte, und kämpfte ein Gefühl tiefer Rührung zurück.
Er begann, die eingesammelten und mitgebrachten Stücke in das Meer zurückzuwerfen. Sollte er vielleicht auch ein paar Meerestiere fangen und nach Hause tragen? Wäre Mali Bo, seine Frau, erfreut, frischen Fisch zum Abendessen zubereiten zu können? Wohl nicht, lächelnd gab er den Gedanken wieder auf, 'Wir haben eine andere Zeit und andere Gewohnheiten!'
Er setzte sich auf einen niedrigeren Felsvorsprung, er wollte wieder die Wellen an den Füßen spüren! Kann Angst durch die Füße in das Meer fließen? Überträgt sich die Harmonie in der Bewegung des Meeres auf den Konflikt zwischen Verstand und Gefühl? Viele Gedanken gingen ihm durch den Sinn, die meisten hätte er vor seinen Freunden nicht ausgesprochen. 'Nun ist es aber genug!', befahl er sich, 'Ich bin kein Kind, ich habe Aufgaben!' Auf dem Heimweg war er ruhiger, er sah wieder das offenkundig Notwendige.
Chan Mee Koi saß wieder an seinem Schreibtisch im Observatorium. Die Klimaanlage sorgte unauffällig dafür, dass die zunehmende Wärme der Mai-Sonne ihn nicht erreichte: Die Sonnenseite wurde elektronisch gesteuert beschattet, aber nur so stark, dass die Sensoren eine ausreichende Helligkeit, die Chan bestimmen konnte, feststellten. Dazu verdunkelten sich die Glasscheiben, in einem frei wählbaren Farbton und in einem sanft abnehmenden Verlauf: Der Himmel erschien dunkler, Dunst über der Stadt war nicht mehr wahrnehmbar, aber der Blick hinab auf die Häuser, die Straßen und Gassen und ihre Betriebsamkeit, auf den Fluss, der die Stadt durchzieht, war hell und klar. Temperierte Frischluft stieg aus dem Fußbodenbelag auf, sorgte für angenehme Wärme und Luftfeuchtigkeit, nahm etwa vorhandene Luftverunreinigungen mit und verließ das Büro über Mikro-Kanäle, die in einem hauchdünnen Geflecht unter der Glaskuppel verliefen. Ein altertümliches Telefon oder zumindest den üblichen Communikator suchte man in Chans Büro und auch hier oben im Penthouse vergebens. Jeglichen Datenaustausch steuerte er über ein Display in seiner Schreibtischplatte, Bildscheiben und Ton-Paneele waren in einer Schrankwand eingelassen, die einzelne Sektionen in der Fläche des Observatoriums andeutete und der er sich bei Bedarf zuwenden konnte.
Oft hatte Chan überlegt, ob er sich im Penthouse einen Fitnessraum einrichten lassen solle. Aber er stellte bald fest, dass er sich im Büro nicht für derartige Betätigungen freimachen konnte, dazu brauchte er fest abgesprochene Termine, einen Sport-Klub und ein paar wenige gute Freunde für ein gleichgesinntes Zusammensein. Im Büro reichte die Zeit nur gelegentlich für eine belebende und entspannende Massage.
Für diesen Tag hatte der Leitende Direktor die anstehenden dringendsten Fragen abgearbeitet. Nun drängten sich andere Gedanken auf: das Projekt ‚See-Park‘, die Arbeitsgruppe, deren Arbeitsbedingungen.
Er stand von seinem Schreibtisch auf. Ihm stand im Penthouse alles zur Verfügung, was er benötigte, um Geist und Körper an einem langen Arbeitstag wach und leistungsfähig zu erhalten. Er betrat den sanitären Bereich. Heiße Tücher für das Gesicht und kaltes Wasser für Hände und Puls halfen ihm, die Gedanken auf das neue Projekt zu konzentrieren. Dann durchsuchte er die Vorräte in den Regalen und Kühlzellen des Erfrischungsraumes. Das Restaurant in der neunundsiebzigsten Etage kontrollierte täglich Frische und Vollständigkeit. Lian-Moot hatte es Chan und sich angewöhnt, jede Woche etwas Ungewöhnliches anbieten zu lassen. Das weckte immer wieder die Neugierde: Gibt es etwas Neues? Heute begnügte er sich mit Nüssen aus Südamerika, mit einem Fruchtsaft und mit frischem Wasser.
Das Projekt ‚See-Park‘ verursachte bei Chan jetzt, nach seinem Aufenthalt am Meer, angenehme, geschäftige Unruhe. Er kannte dieses belebende Gefühl und wusste es zu steuern, es in Fortgang umzuwandeln: nicht von dem komplexen Problem und von den eigenen Gefühlen verwirren lassen, sondern zügig und zielgerichtet das Naheliegendste veranlassen.
Er freute sich. Er hatte immer geglaubt, der inneren Routine bisher entgangen zu sein und sich täglich aufs Neue begeistert seinen Aufgaben zuzuwenden. Jetzt stellte er zu seinem großen Erstaunen fest, dass dieses Projekt, da sich alle dazu entschlossen hatten, ihn elektrisierte, dass es unerwartete Kräfte weckte und ihn fesselte.
Zunächst hatte Chan sich mit Djin Lian-Moot, der Direktorin der Zentralverwaltung, zusammengesetzt. Er hatte mit ihr erörtert, welche Rolle er von ihr in den jetzt anlaufenden Untersuchungen erwarte: persönliche Beteiligung, Koordinierung aller Aktivitäten, Protokollierung aller wichtigen Arbeitsschritte und Absprachen, Information über Hintergründe. Dann hatte er gebeten, Lian-Moot möge ihm helfen, andere Aufgaben nicht mehr höchstpersönlich selbst zu erledigen, entbehrliche Funktionen müssten auf Mitarbeiter delegiert werden, er brauche verfügbare Zeit für das neue Projekt.
Lian-Moot hatte bereits für erste Auswirkungen gesorgt: Chan schritt durch sein Büro, ein Glas Wasser in der Hand, und hatte seine alltäglichen Aufgaben bereits erledigt, vorzeitig dank geraffter Information, delegierter Zuständigkeiten und schließlich auch seiner eigenen Hinwendung zu den interessanteren neuen Überlegungen.
Als Erstes mussten die Arbeitsbedingungen für die Arbeitsgruppe ‚See-Park‘ geregelt werden. Planung erfordert Mut und Kreativität und beides erfordert eine anregende Umgebung. Hierfür wollte Chan zunächst sorgen.
Ein Gebäude von der Größe des Tower Taipeh 105 macht seinen Planern erhebliche Probleme.
Das erste Problem besteht in der Frage: Wie gestalte ich den Turm architektonisch so, dass er nicht nur die ihm zugedachten Funktionen erfüllt, sondern darüber hinaus den Charakter seines Bauherrn widerspiegelt, in das Stadt- und Landschaftsbild passt, Harmonie ausstrahlt, aber dabei optisch so unverwechselbar wird, dass er den Betrachtern, den Nachbarn, den Menschen in der Stadt, ja: möglichst den internationalen Medien als angenehm und interessant erscheint. Vor diesen und ähnlichen Fragen stehen Architekten bei jeder ihrer Arbeiten, aber es ist offenkundig so, dass die Ergebnisse aller Überlegungen bei einem Hochhaus besonders augenfällig werden.
Die Architekten, die wenige Jahre zuvor den Tower Taipeh 101 planten, wollten ebenfalls etwas Unverwechselbares schaffen. Sie verließen deshalb die bisher gewählten Pfade, die in aller Welt zu großen Glasfassaden, mehr oder weniger gegliedert, geführt hatten. Sie entschieden sich für eine Bauweise, die die Etagen jeweils in Zehner-Gruppen aufsteigen ließ, ausgehend von einer verjüngten Form, in der Höhe aufstrebend und sich verbreiternd, eine neue breitere Basis schaffend für die an der Basis wieder verjüngt beginnende nächste Gruppe. Dadurch entstand der optische Eindruck eines wachsenden großen Pflanzentriebes, eines Bambus-Triebes. Das Ergebnis gab den Planern recht: Das Gebäude war lange Zeit Mittelpunkt des internationalen Medieninteresses, weil das Gebäude sich wohltuend und originell von den sonst üblichen Türmen abhob.
Als Chan mit Dschos und seinen Planern die Gestaltung des Tower Taipeh 105 erörterte, entschied man sehr schnell, diesen gewählten Weg der Anleihe bei der Natur ebenfalls zu beschreiten: Kein Kopieren einer fremden Idee, sondern Wahrung der Harmonie und Bekräftigung des Grundsatzes, dass Taiwan der Natur als gestaltendes Element in der kultivierten Umwelt eine hervorragende Bedeutung zumisst. Schließlich hatte man, weil man am Anfang eines sich hoffentlich fortsetzenden Baubooms stand, noch die Möglichkeit, ein einmaliges Stadtbild baulich zu prägen, auch für später folgende Vorhaben.
Bei der Suche nach natürlichen Vorbildern entschlossen Chan und die Planer sich nach sehr langen und kontrovers geführten Diskussionen, den Blütenstand einer Lotos-Blüte nachzuempfinden: ein schlanker runder Schaft, eine nicht zu stark ausladende Knospe und darüber als Symbol der Blütenblätter und der Fruchtkörper das Bauteil, das mit Penthouse und Observatorium abgeschlossen wurde.
Kontroverse Diskussionen rief nicht die Idee an sich, sondern die als Vorbild gewählte Lotos-Blüte hervor.
Zunächst hielt man es nicht für sinnvoll, auf einem runden Schaft, der ja als Verwaltungszentrum Büroräume aufzunehmen hatte und deshalb eine ausreichend große Grundfläche erforderte, eine ausladende Knospe mit einer Höhe von fünfzehn Geschossen auszubilden. Lichtbilder über das Erblühen eines Lotos und daraus abgeleitete Computer-Animationen führten dann zunächst zu ausgewogenen Proportionen zwischen der Höhe des Gebäudes, dem Schaftdurchmesser und der Form der Knospe. Außerdem schlug Chan vor, den Fußboden der untersten Etage der Knospe außerhalb des Turmschaftes in durchsichtigem Panzerglas herzustellen. Ähnlich hatte man vor Jahren den Fernsehturm in Auckland auf der Nordinsel von Neuseeland und in der Folge einige andere touristische Bauvorhaben gestaltet und damit jeweils einen viele Jahre wirksamen Besuchermagneten geschaffen.
Als die Widerstände immer noch nicht aufgegeben wurden, stellte sich heraus, dass der wahre Grund die Bedeutung der Lotos-Blume war. Sie ist eine Sumpfpflanze und gilt wegen ihrer betörenden Schönheit als Symbol urwüchsiger Kraft und Stärke, genauer: der animalischen Überhöhung fleischlicher Lust. In der alten chinesischen Malerei wurde oft eine Lotos-Blüte gezeigt, wenn die darzustellende Szene es nicht angeraten erscheinen ließ, ein männliches Glied, einen Penis, sichtbar darzustellen, was aber über Jahrhunderte hinweg als naturalistische, teils auch als allegorische Darstellung üblich und weit verbreitet war.
Chan hatte gelächelt: “Haben wir nicht in den vergangenen zwanzig Jahren mit urwüchsiger Kraft und Stärke unser Unternehmen aufgebaut? Sind nicht viele Seitentriebe entstanden, Unternehmen mit speziellen Aufgaben unter unserem Dach gewachsen? Schon im alten Ägypten unterstrich man mit Säulen, einer Lotos-Pflanze nachempfunden, die Bedeutung eines Palastes, eines Tempels und seines Hausherren. Zeigen wir den Menschen, dass wir unsere Kraft und Stärke kennen und dass wir sie nutzen wollen, die Zukunft zu befruchten!”
Das war deutlich gesprochen. Es trat ein kurzes, nachdenkliches Schweigen ein. Chans Frau Mali Bo überspielte mit ihrer Selbstsicherheit die leichte Verlegenheit der weiblichen Teilnehmer in der Gesprächsrunde, weil sie sah, dass eine junge Architektin heftig errötete. Mali Bo stimmte der Form grundsätzlich zu, wenn der ebenerdige Teil der Gebäude noch einmal überplant werde und durch eine punktuelle Aufstockung der Eindruck von Blättern geschaffen werden könnte. So entstanden drei Nebenhäuser, schräg aufsteigend mit nach außen versetzten Obergeschossen mit bis zu jeweils fünfzehn Etagen.
Ein weiteres Problem besteht in der Windlast, in dem Druck und Sog, die durch Wind und Sturm auf der Gebäudefassade entstehen. Taifune zogen immer wieder über das Land, der Frühjahrsmonsun aus Südosten und der Herbstmonsun aus den Weiten des chinesischen Hochlandes rüttelten oft wochenlang an den Gebäuden. Dabei wurde die Wucht des Sturmes durch die umliegenden Mittelgebirge nicht nennenswert gemildert.
Ein Teil der Last wurde durch die runde Form des ‚Schaftes‘ abgeleitet. Aber mit zunehmender Höhe verstärkten sich die angreifenden Kräfte.
Die Gestalter des Tower Taipeh 101 hatten in den oberen Teil des Baukörpers eine große, kreisrunde Öffnung gebaut. Hier kann die Windlast sich entspannen, was zusammen mit den in Lee entstehenden Verwirbelungen zu einer deutlichen Minimierung des Problems führt und die angestrebte Höhe erst ermöglichte.
Gegen die kreisrunde Form hatte es heftige Widerstände gegeben: Ist das etwa die aufgehende Sonne in der Flagge des als langjährige Besatzungsmacht ungeliebten, aber aus wirtschaftsstrategischen Gründen akzeptierten Nachbarlandes Japan? Die Gestalter hatten sich gezwungen gesehen, durch eine quer durch die Öffnung verlaufende Brücke diesen ungewollten Eindruck zu verwischen.
Chan ließ diesen Grundgedanken variieren. Die Verringerung der Windlast war auch für die Stabilität seines Turmes notwendig. Außerdem forderte die architektonische Gestaltung, nämlich der obere Abschluss der Lotos-Blüte durch eine Konstruktion, die Blütenblätter und Staubgefäße andeutete, eine Auflösung der bis dahin geschlossenen Architektur. Deshalb ließ Chan eine Öffnung entwickeln, die aus den vier Himmelsrichtungen betrachtet jeweils ein großes Dreieck darstellte. Als geometrische Form korrespondierte das Dreieck mit dem Kreis im Tower 101. Sie war aber vollkommener: Während der Kreis nur aus zwei Richtungen zu erkennen war, signalisierte das Dreieck aus allen Himmelsrichtungen mit der Zahl seiner drei Seiten Glück und Erfolg. Die unglückliche Bedeutung der Zahl Vier, entsprechend der Zahl der Öffnungen in alle Himmelsrichtungen, wurde so kompensiert durch den Eindruck von Willenskraft und Stärke.
Das Dreieck, oder genauer: der Luftraum in der Form einer Pyramide, stand auf dem Kopf. Das erzeugte zunächst einmal den optischen Eindruck von Leichtigkeit. Die Gebäudeteile über dem Luftraum, das Penthouse und das Observatorium, wirkten wie im Raum frei schwebend, was durch eine verspiegelte Unterseite des Baukörpers noch betont wurde.
Die Seiten der Dreiecke wurden von Gebäudeteilen gebildet, die den oberen Abschluss zu tragen hatten. Hier waren Treppenhäuser, Fahrstühle und Installationen zur Versorgung des Penthouses und des Observatoriums untergebracht, aber auch ganz besonders reizvolle Büroräume, die zwar mit zunehmender Höhe von Etage zu Etage kleiner wurden, aber großzügig verglast und im Inneren offen gestaltet einen überwältigenden Eindruck von Weiträumigkeit und Höhe schufen. Sie waren deshalb für ganz besondere Zwecke vorbehalten worden.
Schließlich, und das war das dritte große Problem der Planer, galt es, vorrangig vor allen anderen Überlegungen, das Gebäude so zu gestalten, dass es durch die häufigen Erdbeben nicht gefährdet wird. Die Region liegt in dem Bereich, in dem die Pazifische Platte und die Asiatische Platte aufeinandertreffen, was fast wöchentlich zu kleinen und viel zu oft zu starken bis schweren Erdbeben führt.
Deshalb untersuchten Wissenschaftler der Universität Taipeh in Zusammenarbeit mit internationalen Fachkreisen die Frage, wie man unter anderem auch Hochhäuser vor den Schwingungen schützen könne, die durch Erdbeben ausgelöst werden und gerade bei Hochhäusern größere Schäden verursachen als das eigentliche Erdbeben selbst. Daraus entstand die These, man müsse dem Hochhaus ein beweglich gelagertes großes Gewicht in das obere Drittel einbauen, das auf die erste Schwingung reagiere und damit jeder weiteren Schwingung die Wirkung nehme.
Die Erbauer des Tower 101 hatten daraufhin eine riesige, auf Hochglanz polierte Stahlkugel an acht starken Federarmen in die tragende Konstruktion gehängt und rundum ein Restaurant eingerichtet. Die Gäste verfolgten nun täglich, ob und wann und in welchem Umfang die Kugel Schwingungen anzeigte, ein ungemein spannendes Ambiente, das dafür sorgte, dass das Restaurant täglich sehr stark besucht wurde.
Chan entwickelte mit seinen Ingenieuren und mit Berechnungen der Universität ein anderes, nicht weniger attraktives Dämpfungsprinzip. Er ließ in das Zentrum der 75. bis 78. Etage einen von allen Seiten zugänglichen und einsehbaren Würfel aus Panzerglas mit einer Kantenlänge von achtzehn Metern einbauen, gelagert auf mit Hartgummi ummantelten Stahlkugeln. In dieses Wasserbecken kam ein zweiter, kleinerer Würfel mit einer Kantenlänge von vierzehn Metern, der sich mit Puffern aus Hartgummi am Boden und an den Seitenwänden des größeren Würfels abstützte.
In einem Verfahren, das mehrere Wochen dauerte und eine vorherige genaue Angleichung der Wassertemperatur an die der Glaswände erforderte, wurden beide Becken gefüllt. Über dem großen Glaswürfel wurde ein Restaurant eingerichtet, mit einem Fußboden aus Glas, um jederzeit einen Blick in die Tiefe des Wassers zu haben.
Der mittlere Würfel stand als Swimmingpool dem Restaurant zur Verfügung, mit einer Wassertiefe von vierzehn Metern für Turmspringer, aber auch für Taucher ein ungewöhnliches Angebot, wenn man bedenkt, dass man jederzeit durch die Glaswände der Würfel und der sie umgebenden Gebäudeteile einen fast ungehinderten Blick tief hinab auf die Stadt genießen konnte. Unter Wasser gewann man sofort das Gefühl, nicht in einem Aquarium zu schwimmen, sondern schwerelos über der Stadt zu schweben.
Ein weiteres reizvolles Detail entstand aus der Notwendigkeit, dass das Wasser in den Würfeln bei einem Beben einen Raum benötigt, in den es sich zum Druckausgleich ergießen kann, um seine eigentliche Aufgabe, die Dämpfung von Schwingungen, zu erfüllen. Dieser Raum muss einen gewissen dämpfenden Gegendruck vorhalten und ein ungehindertes Zurückströmen des Wassers ermöglichen. Chans Techniker entwickelten ein gläsernes Röhrensystem, das an den Fenstern des Restaurants aufsteigend entlang führte. Je nach Stärke eines Erdbebens und der Richtung der vom Wasser aufgenommenen Schwingungen stieg das Wasser in den Röhren auf, zeigte mit bunten Perlen auf seiner Oberfläche seine Kraft an und floss wieder zurück.
Die Konstruktion hatte den weiteren großen Vorteil, dass die Wassermenge von rund sechstausend Kubikmetern zusätzlich in das Sicherheitskonzept eingebunden werden konnte, was besonders für die Löschwasserversorgung vorteilhaft war: Man hatte für einen eventuellen Löscheinsatz sofort genug Wasser zur Verfügung und konnte den Behälter mit geringerer Förderleistung kurzfristig und kontinuierlich wieder auffüllen.
Auch die Raumdecke des Restaurants, die den Übergang zu dem auf der Spitze stehenden Luftraum bildete, war aus Glas. Schien die Sonne, so drangen ihre Strahlen ungehindert durch den Luftraum, durch die gläserne Raumdecke und den gläsernen Fußboden des Restaurants in das Wasser ein und brachten es zum Leuchten, weithin sichtbar am hellen Tag. Dieser Lichteffekt führte sehr schnell dazu, dass die Menschen auf der Straße nicht mehr von shengzhi, dem Stängel, sprachen, sondern respektvoll und anerkennend von zhutai-hua, der 'Leuchter-Blume'.
Chan ließ die Ostseite der 82. Etage für den Arbeitskreis ‚See-Park‘ einrichten. Eine den Geist beflügelnde Umgebung, dem großen Ozean hinter dem Gebirge zugewandt, bereits vom ersten Morgenlicht belebt.
Lian-Moot, mit der Koordination des Arbeitskreises beauftragt, entwarf für den Anfang eine zweckmäßige, aber wenig aufwendige Einrichtung.
Im Zentrum stand ein großer Konferenztisch mit bequemen Stühlen und technischen Einrichtungen zur Übermittlung und Darstellung von Daten aller Art.
Der umgebende Raum wurde in Sektoren eingeteilt, die von den Teilnehmern aus den einzelnen Fachrichtungen bezogen werden sollten.
In den Ecken und Winkeln wurden die nebensächlicheren Dinge untergebracht, die der gesamten Gruppe dienen sollten: Versorgung und Erfrischung im nördlichen Winkel, Ruhe und Entspannung im südlichen Bereich sowie Leitung, Koordination und Zwischenaufenthalte in der östlichen Ecke, die schnell von allen nur noch ‚Corner‘ genannt wurde. Von halbhohen Containern abgesehen enthielt der Raum keine weiteren Unterteilungen, keine Wände und keine Raumteiler. Es sollte von Anfang an ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, der Einheit und des ungehinderten Informationsaustausches entstehen.
Von Beginn an war Lian-Moot aber bereits der Ansicht, dass der ehrenwerte Herr Chan einen weiteren Bereich zur Verfügung stellen müsse. Bei der Größe des Projektes bliebe es nicht aus, dass Arbeitsgruppen zu bilden wären mit externen Teilnehmern aus Forschung oder Industrie, aus Regierung und Tourismusverbänden. Hierzu bot sich die Raumeinheit eine Etage höher an, räumlich etwas kleiner, bisher noch ungenutzt. Sie nahm sich vor, den Vorschlag möglichst bald mit ihm zu erörtern.
Das Jahr 2010 ist nach dem chinesischen Tierkreis das Jahr des Tigers. Kann man sich einen besseren Zeitpunkt vorstellen für den Start eines die Zukunft möglicherweise prägenden Projektes? Als Chan sich dieser Tatsache bewusst wurde, das Neujahrsfest war vor wenigen Wochen mit viel Lärm und Feuerwerk gefeiert worden, war der Anfang bereits gemacht. Nicht das Jahr des Tigers hatte ihn zu mutigen Entschlüssen bewogen, sondern die Entscheidungen waren gefallen, ohne dass einem der Beteiligten das gerade begonnene Jahr des Tigers bewusst gewesen wäre. Das konnte man nur als gutes Vorzeichen deuten. Chan würde in der ersten Sitzung der Arbeitsgruppe auf diesen Umstand hinweisen.
Es gab ein weiteres gutes Vorzeichen. Chan hatte dem Direktorium in der wöchentlichen Besprechung, kurz WEEKLY genannt, am Freitag, dem 24. April, bereits eine Woche nach dem kreativen Workshop an der Ostküste, mitgeteilt, der Familienrat habe das Projekt ‚See-Park‘ eingehend beraten, zwar noch nicht darüber entschieden, aber er habe Grund zu der Annahme, dass die endgültige Entscheidung in Kürze getroffen werde. “Lassen wir den kühnen Plan deshalb noch einige Tage nur in unseren Köpfen reifen!”, empfahl er einen noch zurückhaltenden Umgang. Das Direktorium aber hatte verstanden, welcher Wunsch sich hinter den Worten verbarg.
Der 24. April fiel in diesem Jahr mit dem dreiundzwanzigsten Tag des dritten Monats nach dem Mondkalender zusammen. Während die Wirtschaft sich, nicht zuletzt auch wegen ihrer internationalen Verflechtungen, wie die übrige Welt auch nach dem Gregorianischen Kalender und damit nach der Weltzeitordnung richtete, nach der der 24. April nun einmal der 24. April war, ein Arbeitstag so gut wie jeder andere Arbeitstag, zwar in Stundenscheiben um den Globus wandernd, aber in allen Ländern einheitlich so genannt, gab es in Taiwan wie im übrigen China auch für viele Dinge noch das Sonnenjahr, für andere Dinge auch das Mondjahr. Die Lehrer des modernen Zeitalters mühten sich immer wieder nach Kräften, davon zu überzeugen, dass Sonnenzeit oder Mondphasen keinen Einfluss auf irdische Ereignisse hätten. Aber die Diener der Alten Wissenschaften und Künste wiesen stets darauf hin, dass Jahrhunderte währende Erfahrung gezeigt habe, dass das Wirken der Götter mit dem Mondlauf in Zusammenhang stehe. Und wer klug, zumindest wer vorsichtig war, prüfte neben taktischen, juristischen und wirtschaftlichen Aspekten immer auch die Frage, ob der Zeitpunkt geeignet sei oder ob er sich nicht doch aus Gründen der Vorsorge günstiger gestalten ließe.
Der dreiundzwanzigste Tag des dritten Mondmonats war ein solcher, ein zu berücksichtigender Tag. Es war der Tag, an dem Chan seinem Direktorium mitteilte, dass der Familienrat über das vorgeschlagene Projekt bereits beraten habe. An diesem Tag jährt sich der Geburtstag der Göttin MaTzu, der ‚Himmelskaiserin‘, der Göttin des Meeres, der Schutzgöttin der Fischer und der Seefahrer.
Hatte MaTzu, die Göttin des Meeres, nach ihnen gerufen? Hatte MaTzu die Diskussion in dem Hotel über der Ostküste, über dem Meer, gelenkt und den Gedanken an das Urlaubszentrum ‚See-Park‘ irgendwo im Meer geweckt? Hatte MaTzu den Familienrat beflügelt, damit die große, die Zukunft vielleicht für lange Zeit absichernde Aufgabe möglichst auch an ihrem Geburtstag begonnen werden kann?
Niemand wusste genau zu sagen, in welchem Jahr der Vorzeit die Göttin MaTzu tatsächlich geboren worden war, welchen Geburtstag man also in diesem Jahr zu feiern habe. Nach einer Legende wurde MaTzu in dem Jahr geboren, das man heute als das Jahr 960 der allgemeinen Zeitrechnung bezeichnet, also vor eintausendfünfzig Jahren. Alleine diese geordnete Zahl rechtfertigte ein jubelndes Fest in großer Dankbarkeit. Aber waren Götter nicht viel älter? Würde man sich nicht viel genauer erinnern, in Schriften und Legenden, träfe dieses angenommene Alter tatsächlich zu?
Aber auf die richtige Zahl von Jahren kam es gar nicht an! Götter und ihr Wirken sind zeitlos! Wer ihr Wirken spürt, ist von ihnen zu ihrem Werkzeug erwählt worden, um ihre Wünsche auszuführen. Darin liegt keine Anerkenntnis persönlicher irdischer Wichtigkeit, sondern es wird göttliche Zweckmäßigkeit spürbar. Und doch, bei aller notwendigen Bescheidenheit: Wenn die Pläne der Götter zu den Absichten und Lebensumständen der betroffenen Menschen passten, dann konnte das für die Menschen von Vorteil sein und hierfür hatte man dankbar zu sein.
Chan hatte für diesen Tag keine weiteren Pflichten übernommen. Als sich seine Direktoren verabschiedeten, einige in ihre Büros, um noch unaufschiebbar erscheinende Arbeiten zu vollenden, schließlich zählte die Arbeitswoche noch viele unausgefüllte Stunden, einige zur Pflege der betrieblichen Zusammengehörigkeit bei gemeinsamer Weiterbildung oder bei sportlichem Training, verließ Chan sein Büro und das Verwaltungsgebäude, um zu ungewöhnlich früher Zeit nach Hause zu fahren.
Dann fuhr er mit seiner Frau, Mali Boo, der begeisterten Kennerin der Tempel und historischen Paläste in der weiteren Umgebung, hinauf in das nördliche Gebirge, zum Yangmingshan. Hier, auf der Höhe mit ersten Ausblicken auf das den nördlichen Teil der Insel umgebende Meer, gab es einen der Himmelskaiserin MaTzu geweihten kleinen Tempel, abseits des zum Wochenende zunehmenden Ausflugsverkehrs. Wenn Chan schon nicht an der großen Feier zu Ehren MaTzus in PeiKang teilnehmen konnte, dann wollte er zumindest hier, in Sichtweite des Meeres, der Göttin mit angemessenen, aber bescheidenen Gaben danken und an diesem Ort sich des magischen Dreieckes bewusst sein, das sein Geburtsort bei Keelung im Osten, sein Wohn- und Geschäftssitz in Taipeh von hier aus gesehen im Süden und dieser kleine, aber der inneren Sammlung so sehr dienliche Tempel zur Ehre der Göttin im Norden bildeten. Ehre und Dank Dir, MaTzu, mögen die drei Plätze eine gute Zukunft tragen!
Für den Rückweg wählte Chan die Strecke nach Westen über Tanshui. Auf der Terrasse eines Restaurants über dem Ufer des Tanshui Kang aßen sie zu Abend, genossen die heraufziehende Kühle der Nacht und einen leichten blumigen Rotwein.
Ihre Gespräche waren heiter und gelöst, handelten von dem großen Garten und seiner Gestaltung in diesem Frühjahr, von einer Aufführung der Historischen Theaterwerkstatt Tainan, die in der vergangenen Woche in Taipeh gastiert hatte, man besprach Wünsche für den im Frühsommer geplanten kurzen Urlaub in Vietnam und die Art der Zubereitung des Fisches, den der Wirt für das Abendessen serviert hatte. Über die Aufgaben von EBS, über das Projekt ‚See-Park‘ oder über den Familienrat sprachen die beiden während des gesamten Abends nicht!
Mali Bo genoss den Abend in
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 17.05.2014
ISBN: 978-3-7368-1254-3
Alle Rechte vorbehalten