Es waren nur Wenige, die das Geräusch gehört hatten. Es ging fast völlig unter im Rauschen des Windes und in dem alltäglichen Lärmpegel aus Straßenverkehr, Handy-Klingeltönen und Workmen, dieser Flut von akustischen Signalen, die zumeist überflüssig waren wie der Schmutz im Rinnstein, die dem Individuum ständig und unaufgefordert signalisieren sollten, dass er wichtig sei, mitten drin im Geschehen, immer mit der Welt verbunden.
Hedwig Wulder würde später bei ihrer Befragung sagen: „Ich? Nein! Ich habe nichts gehört. Oder: Ich habe etwas gehört, mir aber dabei nichts gedacht. Es war auch nicht laut, so mittel, wenn Sie verstehen, was ich meine. Ich fuhr mit dem Fahrrad die Heimbacher Straße hinauf, ich wollte nach Hause, ich war einkaufen, und ich wohne in Weiler, und das Wetter war ja gut, bis auf den Wind. Und da war wohl etwas, ich glaube, ich war gerade an dem Steinbruch vorbei, wissen Sie, da vor der Stadt auf der rechten Seite, oder war ich noch davor?“
„Sie kamen also aus der Stadt“, würde sie gefragt, „und wollten nach Hause. War viel Verkehr an dem Tag?“
„Ach wissen Sie: Ich fahre ja immer auf dem Radweg. Da geht das mit dem Verkehr an einem vorbei. Und ich hatte den Kopf voll. Ich musste doch nach Hause! Wenn Paul von der Arbeit käme, wissen Sie: Das ist mein Mann, also wenn der käme und ich wäre noch nicht da, das gäbe wieder Ärger. Deshalb war ich auch in Eile.“
„Erinnern Sie sich, zu welcher Uhrzeit Sie an dem Steinbruch vorbeifuhren?“
„Nein, ich schaue doch nicht ständig auf meine Uhr! Die Zeit reicht ohnehin nie für alles. Paul kommt um fünf. Und ich musste mich eilen, also ging es auf Fünf zu. Vielleicht auch erst kurz nach Vier. Aber nicht früher.“
„Also zwischen vier und fünf!“, würde die nächste Frage lauten. „Was haben Sie denn da gehört? Und was haben Sie sich dabei gedacht?“
„Ich weiß das nicht mehr. Irgendetwas Belangloses. ‚Ist wohl was runtergefallen!‘. Hätte etwas von einem Auto heruntergefallen sein können. Habe mich, glaube ich, auch einmal umgedreht, nur ganz kurz, aber nichts gesehen. Muss ja nach vorne schauen, auf dem Fahrrad, der Radweg ist so schmal und hat Schlaglöcher. Das sage ich Ihnen: Das muss bald mal repariert werden. Da fahren so viele aus Weiler längs, Schulkinder und so! Aber da denkt keiner dran!“
Sie würden den Pförtner von ‚Laubacher Formteile‘ befragen. Er machte zu der Zeit seinen Rundgang, das hatten sie bereits ermittelt.
„Das mache ich an jedem Arbeitstag!“, würde Kuno Burke, der Pförtner, nicht ohne Stolz sagen. „Morgens zu Beginn und nachmittags nach Ende des Betriebes. Das muss alles seine Ordnung haben. Herr Laubacher duldet keine Nachlässigkeit. Ich kontrolliere die Tore und den Zaun, die Parkplätze und die Werkstofflager. Was denken Sie, was da alles passieren könnte!?“ So hatte Herr Laubacher es ihm eingeschärft!
„Und an dem fraglichen Nachmittag haben Sie auch wieder ihren Kontrollgang gemacht?“
„Ich habe um Sechzehn-Zehn die Loge verlassen, als die Mitarbeiter gegangen waren. Um Sechzehn-Fünfundvierzig war ich wieder zurück. Dann habe ich mein Journal geschrieben und bin um Siebzehn-Null nach Hause gegangen.“
„Und an die Zeiten können Sie sich noch so genau erinnern? Ich meine: Das ist ja schon ein paar Tage her.“
„Ich habe das Journal zu führen, da steht das alles genau drin. Das ist wichtig, es kommt aufs Detail an, hat Herr Laubacher uns gesagt. Und ich bin gründlich! Ich will die Arbeit ja nicht verlieren!“
„Ja, das verstehen wir!“, würden sie ihn bekräftigen. „Sie waren also auf Ihrem Kontrollgang, in der von Ihnen genannten Zeit, und was ist Ihnen da aufgefallen?“
„Ich kann mich nur um das Werksgelände kümmern. Naja, und um die Zufahrt, aber sonst, was draußen ist, das sehe ich nur so am Rande. Und deshalb habe ich mir nichts weiter dabei gedacht. Da war ein kurzes Geräusch, ich kam von dem Tor zum Steinbruch zurück. ‚Klatsch‘, oder ‚Klapp‘ oder so ähnlich, jedenfalls ganz kurz und flach. Ich dachte noch: ‚Wo kam das denn her? Ist da etwas umgefallen? Vielleicht vom Wind?‘ Es blies nämlich ein heftiger Wind, an dem Nachmittag. Aber ich habe nichts Besonderes mehr gesehen und deshalb auch nichts im Journal vermerkt. Wenn ich jedes Geräusch eintragen würde, was denken Sie, was da oft für ein Lärm ist!“
„Und Sie waren ganz alleine im Werk, zu der von Ihnen genannten Zeit? Denken Sie bitte noch einmal darüber nach: Kraftfahrer oder Lieferanten? Putzfrauen? Herr Laubacher?“
„Ich sagte ja schon: Ich mache meinen Kontrollgang, wenn keiner mehr da ist. KEINER! Sonst könnte ich ja meine Loge nicht unbeaufsichtigt lassen. Und Herr Laubacher? Das ist ja sein Werk. Und da ist sein Wohnhaus links von der Zufahrt, wenn ich von meiner Loge aus schaue. Er ist immer irgendwo im Werk. Herr Laubacher ist da ein Vorbild für uns alle! Er arbeitet oft bis in den späten Abend. Aber das ist ja sein Werk, auf ihn brauche ich nicht aufzupassen. Ich stelle die Telefone auf sein Büro um, ob und wie lange er dort oder irgendwo anders im Werk ist, erfahre ich nicht.“
Sie wussten ja schon, was sie von ihm hören wollten. Also fragten sie weiter: „Haben Sie Herrn Laubacher denn gesehen, auf ihrem Rundgang an dem Nachmittag? Oder jemanden aus der Familie?“
Kuno Burke würde sich nachdenklich am Kopf kratzen: „Jetzt, wo Sie so genau danach fragen: Ich habe sie alle gesehen. Herrn Laubacher, Frau Laubacher und Frau Hilde. Ich habe noch gedacht: ‚Na? Familienausflug?‘. Kam ja nicht so oft vor, dass Frau Hilde und Frau Laubacher hinter dem Chef hergelaufen sind. Aber das war vorher! Das war noch vor meinem Rundgang. Und die Familie trage ich ja nie in mein Journal ein!“
„Wissen Sie denn, wohin die drei Personen gegangen sind?“, würden sie sich zu vergewissern versuchen.
„Die waren wohl im Steinbruch, ob alle, das weiß ich nicht, aber wahrscheinlich ja. Und das Tor war nur angelehnt, als ich auf meinem Rundgang vorbei ging. Ich habe es natürlich zu gemacht.“
„War das nicht ungewöhnlich: Alle drei Personen gehen in den Steinbruch?“
„Ach, wissen Sie: Herr Laubacher ist ja der Chef. Und bei seiner Frau und seiner Tochter ist immer alles ungewöhnlich. Da hört unsereins auf, sich Gedanken zu machen.“, Burke ließ erkennen, dass das Ungewöhnliche bei den Laubachers für ihn zum Gewöhnlichen geworden war.
Niemand war auf den Gedanken gekommen, dass es sich um einen Schuss gehandelt haben könnte. Deshalb machte sich auch niemand Gedanken über Ursachen und Folgen.
Warum hätte man auch solches denken sollen?
Es ist eine noch stille, fast idyllische Landschaft, die die kleine Stadt umgibt. Ein flaches Tal senkt sich zwischen bewaldeten Hügeln von Norden herab, mit einem kleinen Bach, der auf dem Talgrund mäandert, sich von den Wassern aus den Hängen und dem Abwasser der Menschen ernährt, eine Mühle antreibt, heute noch, mehr zur Schau als zur Arbeit, und dann den Ort in östlicher Richtung verlässt.
Die Hügel sind freundlich zu den Menschen, nicht schroff, nicht steil, nicht zu hoch. Ihre Kuppen und Hänge sind bewaldet. Wie zum Trotz zeigen sie an ganz wenigen Stellen ihren Charakter, ihre herbe Struktur, ihren felsigen Kern, der die Menschen seit Jahrhunderten herausgefordert hat, nach Schätzen zu suchen, nach Silber, nach Eisenerz. Am nördlichen Eingang der Stadt steht der größte von ihnen, fast schon ein Berg, wuchtig, wie um den kalten Winden aus dem Norden und dem jungen Fluss im Tal die Richtung zu weisen: ‚Hochspitz‘ nennen ihn die Karten in den amtlichen Archiven, ‚Hausberg‘ die Menschen in ihren Häusern. Die dem Tal zugewandte westliche Seite des ‚Hausberges‘ zeigt eine in die Höhe aufsteigende felsige Formation, als hätten Urkräfte das Gestein wie eine Zeitung gefaltet und aus der schützenden Decke niedrigen Bewuchses herausquellen lassen. Nähert man sich der Stadt durch das Tal von Norden und sieht den ‚Hausberg‘, noch nicht seine von Niederwald nur teilweise verdeckten Wunden an seinem Fuße, aber seine nackte Flanke, kann man sich dem Eindruck von Macht, von Mächtigkeit, von Dauerhaftigkeit und Unteilbarkeit nicht entziehen.
Auch die Wälder haben Narben, wo der Mensch sich Platz geschaffen hat. Erzbergbau hatte sich in den Untergrund gefressen, bis vor ein paar Jahrzehnten, als die Ausbeute den hohen Aufwand nicht mehr lohnte. Bäume haben sich wieder ausgebreitet, um mit Blatt und Nadel die Blößen zu bedecken. Industriebetriebe waren entstanden und wieder vergangen, Gießereien, Porzellan, Energie, und die verfallenden Gebäude weigern sich noch, zwischen aufschießendem Grün die Hoffnung auf Teilhabe am Leben aufzugeben.
Verkehrswege vierteilen das Tal. Der von Norden kommende, auf einen historischen Handelsweg zurückgehende, in seiner Bedeutung aber verarmte Weg überspringt den kleinen Fluss, folgt dem westlichen Rand des Oberpfälzer Waldes und findet, weiter im Süden, hinter München einen Verlauf über die Alpen. Ihn hat die Flora weitgehend verdecken, einbeziehen können, unter dem Waldrand mit Ginster, auf der freien Strecke mit Brombeerhecken und Haselnussgesträuch. Die jüngere, die in jüngerer Zeit erst verkehrsgerecht ausgebaute zweite Straße bietet im Westen einen Anschluss an das Autobahnnetz und damit an das pulsierende und Hoffnung nährende Wirtschaftsleben, um dann im Osten die Landesgrenze zu passieren -zu ‚überspringen‘ wäre den bis vor wenigen Jahren notwendig gewesenen langwierigen Grenzkontrollen nicht angemessen gewesen- und unter den Ausläufern des Erzgebirges dem anwachsenden Fluss zu folgen. Ihn umgeben diesseits landwirtschaftliche Nutzflächen, die den Wald und seine den Ertrag schädigenden Bewohner bis hinter ein paar kleine Ortschaften zurückgedrängt haben. Jenseits der Grenze nähert sich der Wald der Straße, bietet verdeckten, lauschigen Parkplätzen Raum, Raum für Wanderer und für mannigfaltige Dienstleistungen, ein kleines Wirtschaftswunder, an dem viele fleißige Frauen bei Tag und Nacht arbeiten, zur heimlichen und nie eingestandenen Freude auch der Söhne der kleinen Stadt.
An dem Schnittpunkt der Straßen, an dem alten, der neue ist mit einer kreuzungsfreien Umgehungsstraße nach außen verlegt worden, hatte sich die Stadt gebildet. Eine Mühle, ein Hufschmied, ein Gasthaus mögen die Keimzelle gewesen sein. Mit den Jahrhunderten wuchs der kleine Ort zu einer kleinen Stadt. Die Menschen sahen, dass sich die Welt nur ganz langsam verändert. Nur ganz langsam, und wenn überhaupt, dann nicht immer zu ihrem Besten! Sie lernten, mit dem Wenigen zu leben, das die Natur und ihr mühsamer Broterwerb ihnen gab. Gab es einmal Wohlstand, neue und lohnendere Arbeitsplätze mit besserem Einkommen, so lernten sie schnell, dass es töricht war, sich darauf zu verlassen: Die Werke schlossen, schnell wie sie entstanden waren, und ließ die Menschen ratlos zurück.
So lernten sie, wenn sie sich nicht entschlossen, die Heimat zu verlassen, Bescheidenheit, Zufriedenheit, schon als Kinder. „Wir müssen anfangen, moderner zu denken!“, hatte die Leiterin des Kindergartens an einem Elternabend gefordert. „Wer sagt den Kindern, wie das Leben ist? Vater und Mutter! Und woher wissen die Eltern, was für das Leben notwendig ist? Von den Großeltern! Aber Kinder dürfen nicht nur aus der Vergangenheit, sie müssen für die Zukunft lernen! Kinder müssen lernen, wie das Leben in zwanzig Jahren sein wird!“ Die Eltern gingen ratlos nach Hause! „Sollen wir unsere Tochter jetzt hier abmelden?“, fragte eine Mutter beim Hinausgehen laut und vernehmlich ihren Mann. Aber ihr Mann war in Gedanken versunken, tiefer, als sie es von ihm gewohnt war. „Man ist, wie man ist!“, murmelte er zur Antwort, „Man kann sich doch nicht teilen!“
Sie rieten ihren Kindern, den Besitz zu wahren und dem Neuen zu misstrauen. Sie warnten sie vor Veränderungen, die sich meist als unzuverlässig erwiesen hatten. Sie ermahnten sie zu Eifer gegenüber Gewohntem und Zurückhaltung bei Fremdem.
Da hatte das Böse keinen Platz. Es gab zwar auch hier Übles, Streit, Raufereien, Missgunst, und der Schiedsmann hatte seine Arbeit. Aber Böses? Das gab es draußen in der Welt, bei den Anderen! Aber nicht hier, bei ihnen! Höchstens einmal in den Köpfen, aber das blieb folgenlos, das erfuhr ja niemand!
Wer hätte da auf den Gedanken kommen sollen, dass es sich um einen Schuss gehandelt haben könnte?
Erwin Laubacher würde selbst wie auch schon in den Vorjahren nicht zur Ausstellung gehen. Seine Produkte brauchte er nicht im Ort vorzuzeigen und zu bewerben, sie wurden nicht von ‚dem Mann auf der Straße‘ gekauft, wie er gelegentlich abfällig feststellte. Er belieferte die Industrie! Seine Frau und seine Tochter hatten den Auftrag, sich kurz im Messepark zu zeigen. Er hatte Wichtigeres zu tun!
„Erwin, Du weißt doch, wie die Leute sind!“, hatte seine Frau Franziska am Morgen nach dem Frühstück noch gemahnt. Sie wagte es nicht oft, ihn zu kritisieren, aber heute erfüllte sie eine ungewohnte, lange Jahre nicht gefühlte Stärke.
„Leute! Leute! Wenn einer die Leute kennt, dann ich!“, hatte er gereizt geantwortet. „Ich bin hier geboren worden! Ich bin mit ihnen aufgewachsen!“
„Was hast Du gegen mich, Erwin? Du bist schon seit gestern so … so … aufgebracht. Ich verstehe deine Erregung ja. Aber warum richtet sie sich gegen mich? Ich habe doch nur gemeint, dass auch Du Dich auf der Messe zeigen solltest. Du als Stadtrat …!“ Sie hoffte, ihren Mann überzeugen zu können. Gerade jetzt wäre es doch so wichtig, Normalität vorzuzeigen!
„Und was bringt mir das, Fränzli? Nehmen sie deshalb mehr Rücksicht auf das Werk? Ich habe Wichtigeres zu tun, als mich den Leuten zur Schau zu stellen. Gerade jetzt! Wenn Dich jemand fragt: Ich bin seit gestern Nachmittag verreist! Das entschuldigt mein Wegbleiben!“ In den frühen Zeiten ihrer Beziehung hatte er sie, um ihrem Vornamen auszuweichen, den er ‚einfach unmöglich‘ fand, zärtlich Fränzli genannt. Wollte er sie wohlgesonnen stimmen, benutzte er noch heute diese Kurzform.
Franziska sah ihn nachdenklich an. Er wollte also nicht, dass sie ihn noch weiter bedrängte. „Also seit gestern Nachmittag!“, stellte sie einlenkend fest. „Ich habe das verstanden. Und damit wir uns einig sind: eine bestimmte Uhrzeit? Nach dem Kaffee? Und wo bist Du, wenn ich fragen darf?“
Darüber hatte er noch nicht nachgedacht. Nach dem Kaffee? Gestern hatte es keinen Kaffee gegeben! Dafür war keine Zeit geblieben! Jetzt wusste er nur, dass er ein paar Tage nicht zu Hause sein wollte. Er musste einfach wegfahren! Allen Fragen ausweichen! Auch denen, die er sich selber stellte! Und eine Lösung finden! Er hätte gleich gestern Abend fahren sollen, sagte er sich. Aber für diese Erkenntnis war es jetzt zu spät! Und die Nachtruhe hatte ihm nicht geholfen, er hatte kaum geschlafen, hatte gegrübelt, wollte seine Ratlosigkeit aber nicht eingestehen. „Wir können nicht alle gemeinsam verschwinden! Und ich muss Kontakte pflegen: Die Rohstoffe aus Leverkusen, die Abnehmer in Stuttgart und Bochum, die Maschinen aus München, das kommt doch nicht von alleine! Ich rufe Dich an.“
Er warf ein paar Sachen in eine Reisetasche, Hemd und Krawatte, Wäsche zum Wechseln für ein paar Tage, einen Pyjama, Rasierapparat und Zahnbürste, griff nach einem dunklen Anzug, der wie die anderen Anzüge von einer Klarsichthülle geschützt in dem großen begehbaren Kleiderschrank hing, und ging nach einem nur kurzen Abschied in die Garage. Er würde den A 8 nehmen, er wollte ja nicht auffallen. Er fuhr nicht durch die Stadt zum Autobahnzubringer, sondern verließ das Werk nach Norden auf der von ihm eigentlich ungeliebten Landstraße, die kurvenreich dem Tal folgte und sich in einem schlechten Zustand befand. Dass er dort nur langsam fahren konnte, störte ihn heute nicht. Wenn er zum Flughafen Hof-Plauen führe? Das Wetter war nicht schlecht: nur wenige Wolken, etwas böiger Wind, trotzdem eigentlich gutes Flugwetter. Er könnte abends in seinem Ferienhaus auf Texel sein! Das würde ihm gut tun: Wind und Meer, den Fischern bei der Anlandung ihres Fanges zusehen! Er wählte die Rufnummer des Aero-Club Hof.
Über den Wolken hatte er den Piloten gebeten, ihn nur in einem wirklich dringenden Fall zu stören: „Du verstehst: die Vorbereitung auf die Geschäfte!“ Der Pilot hatte nur kurz zur Bestätigung mit dem Kopf genickt, er kannte das. Er hatte ohnehin genug zu tun, mit der Navigation, und über den Niederlanden blies ein für diese Jahreszeit heftiger Nordwest.
‚Du als Stadtrat …‘, hatte Fränzli gesagt. Und dabei wusste sie doch genau, dass sie ihn für die große Linie der Konservativen und nicht für die alltägliche Kleinarbeit im Stadtrat benötigten! Und der Stadtrat wusste das auch! Die Christlichkonservativen brauchten ihn: seine Erfahrung! Seine Durchsetzungsfähigkeit! Seine Verbindungen! Er wurde in den höchsten Kreisen der Industrie und der Politik in gleicher Weise geschätzt und geachtet! Warum zeigten sie es ihm nicht öfter, wie wichtig er für sie war? Er wollte keinen Dank, erwartete auch keinen, aber Anerkennung und Rücksichtnahme auf seine Interessen, das zumindest konnte er doch erwarten!
Er hatte sich den Fraktionsvorsitzenden nach der ersten Beratung unter vier Augen vorgeknöpft: „Und das Werk? Willst Du dem Werk das Wasser abgraben? Die Zukunft liegt in der Erweiterungsfähigkeit! Aber das Werk scheint Euch ja nicht mehr zu interessieren! Wie kannst Du nur so beschränkt denken, ohne Visionen, ohne Glauben an die Zukunftsfähigkeit!“
„Aber, Erwin, bedenke doch: Es könnte eine zusätzliche Chance für unsere Stadt sein! Wäre nicht ein für Dich tragbarer Kompromiss möglich?“ Der Fraktionsvorsitzende, der ihn schätzte und nicht verärgern wollte, warb um Verständnis und Einsicht.
„Nur weil so ein roter Sesselpupser behauptet, den Goldesel erfunden zu haben? Und Du glaubst ihm das? Kannst Du nicht rechnen? Nicht mit mir! Nein! Ich lasse mir die Erweiterungsfähigkeit meines Werkes nicht abkaufen! Wenn er sich einen anderen Berg aussucht, soll es mir egal sein, dass Ihr die Stadt ruiniert. Aber nicht auf meinem Gelände!“
Der Stadtrat hatte die ihm vorgelegte und in den höchsten Tönen gepriesene Angelegenheit damals gründlich beraten, aber zurückgestellt und weitere Gutachten angefordert. Man würde sehen, wie die Angelegenheit jetzt weiterginge, jetzt, nachdem ... Er weigerte sich, den Gedanken zu Ende zu denken.
‚Laubacher Formteile‘! Sein Werk! Das Werk seiner Familie! Jetzt schon in der vierten Generation! Was in schwersten Zeiten aufgebaut wurde, würde er doch nicht in guten Zeiten leichtfertig zerschlagen lassen!
Es tat Erwin Laubacher gut, sich in Gedanken über die Behandlung des Projektes im Stadtrat zu erregen, seinem Zorn damit ein Ziel zu geben und dadurch andere Gedanken zu verdrängen. Als sie den deutschen Luftraum verließen, begann er, sich zu entspannen, obwohl zunehmender Wind den Flug unruhig machte. Er empfand so etwas wie Vorfreude.
Erwin Laubacher war fast sechzig Jahre alt. Er war groß, eins achtundachtzig, und kräftig, sodass ihn sein Gewicht, das um fünfundneunzig Kilogramm pendelte, noch nicht ermüdete. Sein Geist war klar und schnell und seine Ausdrucksweise präzise, er kam schnell auf den Punkt. Deshalb fiel es ihm leicht, sich durchzusetzen, zu überzeugen. Seine wichtigsten Eigenschaften entsprachen dem Stier als seinem Tierkreiszeichen: Hatte er sich zu etwas entschlossen, so hielt ihn nichts und niemand auf. Dadurch wirkte er oft rücksichtslos, beachtete auch nicht immer die Interessen der Familie, zog das Wohl des Werkes den Bedürfnissen der Menschen in seiner Familie vor. Er liebte das Materielle: Landschaft und Erdboden, Besitz und Produkt, Frauen und Sicherheit. So hatte er das Werk über die Jahre und alle Krisen hinweg ertragreich geführt.
Zum Landeanflug lehnte er sich bequem zurück. Ein paar Tage Ruhe in seinem Haus, ein paar Spaziergänge am Strand, dann würde er eine Lösung finden!
Eigentlich hatte niemand in diesen Tagen für etwas Anderes Zeit!
An diesem Wochenende fand die große Ausstellung statt! Die Ausstellung des Vereins für Produktion, Handel und Dienstleistung e.V. Wegen des großen Aufwandes hatten die Mitglieder sich vor Jahren geeinigt, die Schau ihres Wollens und Könnens nur alle zwei Jahre zu veranstalten. Jetzt war es wieder so weit!
Vor ein paar Jahren hatten sie beschlossen, dass der Mai der beste Monat für die Ausstellung sei. Das dritte Wochenende im Mai. Die Menschen seien gut gelaunt, dächten an Urlaub, Freizeit und Familienfeste, und es würde viel gekauft: Autos, Kleidung, Gartengeräte und Pflanzen. Man könne mehr Geld verdienen als zu anderen Jahreszeiten. Da kämen selbst der November und die Vorweihnachtszeit nicht mit! Das gab den Ausschlag.
Alle gaben sich jede erdenkliche Mühe! Wer jetzt nichts zeigte, geriet in Vergessenheit. Wer jetzt nichts sah, blieb lange Zeit uninformiert. Die Sparkasse verkaufte seltene Silbermünzen. Der parteilose Bürgermeister und sein Stellvertreter von der größten Ratsfraktion fanden sich unter einem mit dem Wappen gezierten und von Flaggen flankierten Transparent ein und warben, noch viel freundlicher als sonst, für sich und, der eine mit Baugrundstücken, der andere mit Kindergartenplätzen, für ihre kleine Stadt. Wer interessiert war, kam vormittags. Wer gesehen werden wollte, wählte den Nachmittag, wenn alle anderen auch anwesend waren und gesehen werden wollten. Und wer etwas auf sich hielt, der kam mit Gattin und, sofern vorhanden, mit Kindern, gut gekleidet, froh gestimmt, trank Sekt oder einen Kaffee, aß Lachs-Kanapees oder Pflaumenkuchen und nahm sich vor der Überzeugungskraft der Verkäufer in acht.
Es gab natürlich auch eine Modenschau. Franz Xaver Humfeldt, der Textilhändler, zeigte Sommermode und hoffte auf ein gutes Geschäft. Sie wurde untermalt mit Kaffeehausmusik, die das Quintett des Musikvereins darbot. Mit den Mädchen aus der Nachbarschaft als Mannequins in züchtiger Kleidung. Die Zuschauerinnen bekamen gerührte Blicke und spendeten begeistert Applaus, die Herren vergewisserten sich der sicheren Verwahrung ihrer Geldbörsen. Hubschrauber flogen ihre Gäste zur nahen Grenze und zurück und die Freiwillige Feuerwehr zeigte in einem eigens für diesen Zweck aufgebauten großen Wasserbecken die Fertigkeiten ihrer Taucher, schließlich schlängelte sich ein kleiner Fluss, der eher nur ein großer Bach war, durch das Tal und stellte natürlich ein nicht zu unterschätzendes Risiko dar!
Am Sonntag, nachmittags um fünf, gäbe es den Höhepunkt der Messe! Ein Bild, ein Gemälde, nein: Ein Kunstwerk würde versteigert! Das musste man doch miterlebt haben! Wer würde das Werk erwerben? Was würde es bringen? Den Erlös aus dem Verkauf des gespendeten Gemäldes erhielte der Kindergarten mit der Auflage, die Kreativität der Kinder damit ganz besonders zu fördern. Das Kunstwerk war während aller Ausstellungstage von Besuchern dicht umlagert. Schließlich kannte man ja die Künstlerin, Jutta Meiningen, sie wohnte in der Nachbarschaft, nur ein paar Straßen weiter, aber hier konnte man sie fragen: was das Bild zu bedeuten habe. Was sie sich dabei gedacht habe. Wie sie bloß auf ihre Ideen komme. Und überhaupt: wie toll man das mit der Spende fände.
Auf Leinwand und Keilrahmen, achtzig mal einszwanzig, war eine Jagdszene zu sehen. Jedenfalls hielten fast alle Betrachter es für eine solche. Die Darstellung wirkte durch den sparsamen Umgang mit Farbtönen und kraftvolle Kontraste. Jutta Meiningen erklärte immer wieder gerne, sie habe Ölfarbe verwendet und die zarten Abstufungen der Schattierung durch die Verwendung von Holzasche erzielt, jawohl: von Holzasche aus den Laubwäldern im Norden der Stadt, die sie nachträglich leicht in den Firnis eingepresst habe. Das Bild zeigte einen Stier mit gesenkten Hörnern, umringt von einer Meute Jagdhunde, vor einem begrünten Hintergrund.
Als sich Sparkassendirektor Horst Heiden, der allseits geachtete und hofierte Leiter der örtlichen Filiale der Kreissparkasse, und seine Frau Katharina Heiden-Weidenthal dem ausgestellten Kunstwerk näherten, wurde ihnen respektvoll Platz gemacht, genug, damit sie das Bild mit angemessener Distanz betrachten könnten, aber auch nicht zu viel, um ihrem Gespräch zuzuhören.
„Ohh, schau mal, Horst, wie zeitnah: ein Bild zur EURO-Krise! Das würde doch gut in Dein Büro passen! Oder hast Du schon einen ‚Meiningen‘?“
Horst Heiden sah sich nachdenklich das Bild an: „Hmm, hmm … EURO-Krise! Interessanter Gedanke! Ich schätze sehr Deinen schnellen Blick, meine liebe Katharina. Woran machst Du das fest?“
„Der Stier, Horst! Der Stier! Er ist doch das Symbol für den Euro. Und die Hundemeute? Sind das die Währungsspekulanten oder die Länder, die den EURO noch haben wollen? Mir fehlt nur die himmelsäugige Europa auf dem Bild!“
Frau Jutta Meiningen näherte sich lächelnd den potenziellen Erwerbern. „Ohh, Frau Meiningen, wie schön, dass wir uns hier treffen! Sagen Sie: Der Stier, das ist doch Zeus aus der griechischen Mythologie?“
Jutta Meiningen lächelte ihr süßestes Lächeln: „Liebe Frau Heiden-Weidenthal! Jeder darf etwas anderes in dem Bild sehen. Wie lange rätseln Experten bereits über das Lächeln der ‚Mona Lisa‘? Für mich hat das Bild den Titel ‚Dein Dich liebender Ehemann‘“.
Katharina Heiden-Weidenthal dachte nur kurz darüber nach, was sie denn wohl mehr zu ärgern begann: dass sie nicht recht haben sollte oder der dämliche Titel? Sie zog die Augenbrauen hoch: „Das müssen Sie mir aber erklären!“
„Die Anregung zu dem Stier fand ich im vergangenen Sommer in einer Höhlenmalerei in der Gascogne, dort war es ein Wisent. Er stellt in dem Bild den heutigen Mann dar: noch wie in der Steinzeit, ein Jäger, Sammler und Fallensteller, stets in der Verteidigung. Die ihn angreifenden Hunde, Jagdhunde, die es erst vom Mittelalter an gab, sind die modernen Einflüsse, die auf ihn eindringen, ihn aber nicht erreichen.“
Frau Katharina Heiden-Weidenthal sah mit gerunzelter Stirn das Bild an, nachdenklich, wie zum ersten Mal, und wandte sich dann der Künstlerin zu: „Na, Sie, hören Sie mal …“, dann griff sie nach dem Arm ihres Mannes Horst: „Komm, Horst, lass uns weitergehen!“
Die Umstehenden wussten nicht, ob sie mit der Künstlerin, mit Jutta Meiningen, die noch immer eine Fremde in der Stadt war, lächeln oder sich mit der Frau Sparkassendirektorin, die aus einer einheimischen Familie kam, ärgern sollten. War ihre Beschreibung des Kunstwerkes eine ernsthafte Analyse oder nur eine provokante Umdeutung? Es setzte eine lebhafte Unterhaltung ein.
Jutta Meiningen aber war unzufrieden mit sich selbst. Warum hatte sie ausgerechnet die Frau des Sparkassendirektors gereizt? Aber deren Hochnäsigkeit und ihr Dünkel gingen Jutta auf die Nerven. Und die waren gerade heute nicht die besten. Bruno, ihr Mann, war nicht nach Hause gekommen! Hatte noch nicht einmal angerufen! Musste er sie denn ausgerechnet an dem Wochenende mit der Ausstellung alleine lassen? Dass die Besucher plötzlich über das Bild redeten, war da nur ein schwacher Trost.
Es war Montag! Es war wie fast an jedem Montagmorgen, nur noch etwas schlimmer: Die Schreibtische quollen förmlich über vor Arbeit, die die Kollegen am Wochenende zwar im Rahmen ihrer Routine bearbeitet hatten, die aber noch abzuschließen war. Eine Schlägerei vor der Diskothek mit fast ebenso vielen Beteiligten wie Zeugen, ein paar Verkehrsunfälle, darunter ein schwerer mit Jugendlichen unter Alkohol, Einbrüche. Die Einbrüche häuften sich in letzter Zeit, machten viel Arbeit, ließen sich meistens nicht aufklären, die Grenze war zu nahe und seit dem Schengenabkommen gab es dort keine Kontrollen mehr. Natürlich kam auch noch der Redakteur der Regionalzeitung auf der Suche nach einer das Wochenende zusammenfassenden Schlagzeile.
Kurz nach elf Uhr, im Tagebuch stand später Elf Null Acht, betrat eine junge Frau die Polizeiwache. Mit dem in seinen wenigen Dienstjahren bereits geübten schnellen Blick nahm Polizeiobermeister Degenhardt das Bild auf: Alter etwa Mitte dreißig, geschmackvolle, gepflegte Kleidung, vielleicht eins siebzig groß, schlank, blond, dunkle Brille, hübsches Gesicht. Er war schon seit ein paar Jahren hier im Revier, kannte die meisten Leute in der Stadt, mindestens vom Ansehen her. Sie hatte er schon öfter gesehen, zuletzt gestern in der Ausstellung: Meiningen, Jutta Meiningen! Sie hatte ein Bild gespendet.
„Guten Tag, Frau Meiningen! Was kann ich für Sie tun?“
Jutta Meiningen war zielstrebig an den Tresen herangetreten. Dass der Polizeibeamte sie mit Namen ansprach, erstaunte sie schon lange nicht mehr. Sie wusste, dass ihr Mann und sie in der Stadt bekannt waren. Das musste auch so sein. Schließlich war ihr Mann erst am Beginn seiner politischen Laufbahn, die sie nach Kräften unterstützte. „Guten Morgen, Herr Degenhardt. Es ist mir etwas peinlich, danach zu fragen. Aber: Ich suche meinen Mann, Bruno!“
Das Gespräch könnte delikat werden! Degenhardt rief einen Kollegen als Vertreter für den Kundenkontakt, wie sie das beschönigend nannten, und bat Frau Meiningen in einen der Vernehmungsräume.
„Nehmen Sie bitte Platz, Frau Meiningen. Hier hört uns niemand zu. Sie suchen also Ihren Mann?“
„Ja, Entschuldigung, das hat es bei uns noch nie gegeben. Aber ich fange an, mir Sorgen zu machen.“
„Noch ist kein Grund zur Besorgnis. Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?“
„Er verließ am Freitag am frühen Nachmittag das Haus und sagte nur, er sei noch zu einem Gespräch verabredet.“
„Mit wem wollte er sprechen? Wo war er verabredet?“
„Ich weiß es nicht. In seinem Terminkalender ist erst für abends ein Eintrag über ein Treffen in Stuttgart. In seinem Geschäft ist es ja oft so, dass Gespräche plötzlich verlegt werden oder länger dauern als erwartet oder bei einem anderen Gesprächspartner fortgesetzt werden müssen. Ich habe mir deshalb nichts weiter dabei gedacht.“
„Und wann wurden Sie beunruhigt?“ Noch hatte Degenhardt nicht viel zu notieren.
„Aus Stuttgart kam eine Rückfrage, wo mein Mann denn bliebe! Er ist nicht zu dem Gespräch gekommen. Deshalb habe ich versucht, ihn über sein Handy zu erreichen. Dort meldete sich aber auch gestern nur die Mailbox. Dann habe ich im Krankenhaus angerufen, aber dort ist er nicht eingeliefert worden.“
Degenhardt sah die Besucherin nachdenklich an, sah die Sorgenfalten auf der Stirn und den unruhigen Blick ihrer grauen Augen. „Hat Ihr Mann öfter so lange Geschäftsreisen? Könnte er mit Freunden oder einer anderen Frau über das Wochenende verreist sein? Hatten Sie vielleicht Streit in der letzten Zeit?“
Die Frage schien ihr unangenehm zu sein! Jutta Meiningen wirkte plötzlich unruhig, fahrig: „Streit? Eigentlich nicht, nein, ich glaube nicht mehr als andere Paare auch. Und ich habe ja auch gedacht, vielleicht ist er am Montag wieder zurück, wenn auch alle anderen Leute arbeiten müssen. Deshalb habe ich bis heute gewartet. Aber auch heute Morgen habe ich nichts von ihm gehört, keinen Anruf, keine eMail.“
„Geben Sie mir vorsorglich seine Handy-Nummer. Bisher haben wir keine zu Ihrer Aussage passende Meldung über Unfälle oder andere Ereignisse.“
„Ein Unfall kann auch nicht die Ursache sein, seine Wagen stehen beide in der Garage.“
„Dann kann er sich ja eigentlich nicht so weit entfernt haben! Ich spreche mit den Kollegen im Bezirk. Wenn er sich meldet, rufen Sie mich bitte sofort an. Wenn er sich nicht meldet, nehmen wir übermorgen eine Vermisstenmeldung auf. Aber vielleicht hat sich bis dahin alles aufgeklärt. Das kommt öfter vor, als man das so erwartet. Machen Sie sich deshalb noch keine zu großen Sorgen.“
Jutta Meiningen verließ die Polizeiwache, ohne dass ihre Sorgen geringer geworden wären. Aber eines war wenigstens gewiss: Er war nicht in einen Unfall verwickelt, das hätte Degenhardt ihr gesagt!
Degenhardt genoss, mehr noch als seine Kollegen in der Station, bereits nach wenigen Dienstjahren großes Ansehen in der Bevölkerung. Man vertraute ihm, obwohl er kein Einheimischer war. Aber er hatte eine Frau geheiratet, die aus einem der Dörfer auf dem Weg zur Autobahn stammte. Und das zählte genauso.
Sie hatten sich während seiner Polizeiausbildung in Sulzbach-Rosenberg kennengelernt. Elisabeth Hornbach, seine spätere Frau, war damals Krankenschwesternschülerin am dortigen Krankenhaus. Als eine Stelle in der hiesigen Station zu besetzen war, bewarb er sich, wurde wunschgemäß versetzt und baute auf dem Hof der Eltern seiner inzwischen angetrauten Frau ein Wohnhaus. Er wollte eine Familie, eine möglichst große Familie, mit Oma, Opa, Hund und Katze, für Enkel würden sie in den nächsten Jahren sorgen, und er träumte von einem gemütlichen Heim. Martin Degenhardt wollte trotz Polizeidienst sesshaft werden. Er wollte die Menschen kennen und verstehen lernen. „Nur wer die Menschen versteht, kann einschätzen, was in ihnen vorgeht. Verständnis ist der erste Schritt zu Erkenntnis und Schlichtung!“, hatte er bei seiner Vorstellung vor dem Stadtrat gesagt. „Ich möchte nicht als der Repräsentant der Staatsgewalt gesehen werden, sondern der Freund der Familien und besonders der Kinder sein.“ Das hatte einen tiefen Eindruck hinterlassen und sie glaubten es ihm, nachdem er auf Rückfrage versicherte, gegen Böses mit Konsequenz einschreiten zu wollen! Das Böse, das konnte ja nur Fremdes sein, das von außen kam und vor dem man bewahrt werden musste.
Und so freundlich, interessiert und bescheiden trat er auch auf. Er war nicht sehr groß, überschritt nur knapp die für einen Beamten im Polizeivollzugsdienst gesetzlich geforderte Mindestgröße, hatte sich mit seinem Lächeln eher noch
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 03.12.2013
ISBN: 978-3-7309-6668-6
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