Vorwort und Warnung
Ich weiß es nicht!
Ich frage mich, seit die Idee begann, Gestalt anzunehmen, ob man so etwas schreiben darf. Gibt es einen Ehren-Kodex, der besagt, dass man solches nicht beschreibt, nicht zu Papier bringt? Ist das nur der greisende Traum eines alternden Hirns und deshalb ängstlich zu verbergen? Oder darf man sie aufschreiben, die Geschichte, so wie sie begonnen hat, zu entstehen, weil sie nun einmal da ist, begonnen hat, sich zu entwickeln, und entscheidet der Leser, ob sie in die Vergessenheit gehört? Ich weiß es nicht!
Aber: Die Gedanken, die immer wieder um die Geschichte kreisten, drängten mich, sie aufzuschreiben.
Also habe ich versucht, die Verbrechen als solche sachlich zu beschreiben und meine Aufmerksamkeit den Menschen zuzuwenden, den Tätern, ihrer Denkweise, ihrer Motivation, dem Umfeld.
Außerdem: Was wird alles in den letzten Jahren dem Leser sorgfältig formuliert angeboten!
Und was ist, wenn ...? Wenn doch jemand das Buch erwirbt, die Geschichte liest?
Dabei hat sich die Geschichte tatsächlich zugetragen, glaube ich! Naja, wenigstens einen Teil von ihr glaube ich in der Zeitung gelesen zu haben. Und der fiktive Teil ergab sich, wurde akzentuierter, detailierter. Die Geschichte ist auch nicht hier passiert! Sie könnte aber hier passiert sein, nicht nur dort, wo ich sie geschehen ließ! Sie könnte überall passieren! Ähnlichkeiten mit lebenden Personen und tatsächlichen Ereignissen sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig entstanden.
Keine Ausflüchte: was ist, wenn doch jemand die Geschichte liest?
Vorsorgliche Warnung!
Die Erzählung ist geeignet, das moralische Empfinden zu verletzen! Sie kann den Leser erschrecken, verunsichern, empören, beleidigen, Sitte und Anstand verletzen!
Wenn der Leser empfindsam ist, empfehle ich, die Erzählung ungelesen wegzulegen, alle Dateien zu löschen, Ausdrucke im Container für Altpapier schamhaft zu verstecken.
Wer das nicht tut und weiter liest, möge nicht den Autor beschimpfen.
Und sie ist eine Mahnung:
Die Decke von Anstand und Moral auf unserem Gewissen ist so dünn und verletzlich!
Hüten wir uns davor, in Versuchung geführt zu werden!
Der Autor
Sig Meuther
Landgerichtspräsident Dr. Renner-Lepsch sah kurz auf seine Fingerspitzen, wie nach einer erledigten schweren Arbeit, und lehnte sich in dem dicken Ledersessel genüsslich zurück. Er war nicht eitel, nicht mehr nach einem so langen und erfolgreichen Berufsleben. Früher, unterwegs auf dem beruflichen Werdegang, war er stolz auf jede gemeisterte Etappe, sog aus ihr den Ehrgeiz für die nächste Hürde und spürte seine wachsende Selbstsicherheit, die ihm eine Würde vermittelnde Ausstrahlung verlieh. Jetzt, seit ein paar Jahren, war er am Ziel, ein weiterer Aufstieg käme nicht infrage, lag auch nicht auf der Halde unerfüllter Träume. Er war im Senat geachtet, wurde häufig um seinen Rat gefragt und sein “Laden”, wie er das Landgericht I im vertrauten Kreis scherzhaft nannte, arbeitete zügig und effektiv. Selbst vor der Judikative hatten die Medien in den letzten Jahren den Respekt verloren und man unterschied nicht mehr zwischen Urteilsschelte und Richterschelte. Sein Haus war bisher trotzdem nicht in die Schlagzeilen geraten. Gute Organisation, engagierte Richter in den Kammern, keine unverantwortbaren Rückstände mit Fristversäumnissen. Gut, er hatte den einen oder anderen im Ministerium davon überzeugen müssen, dass das im Wesentlichen das Verdienst seiner gradlinigen Führung war und seiner Fähigkeit, Menschen zu motivieren. Es hatte auch Ärger gegeben, als die Regierungspartei ihre Leute in der Justiz unterzubringen versuchte. Aber mit ihm konnten sie das nicht machen! Noch nie! Nicht mit ihm! Wollten sie ihm früher sagen, was er zu tun hätte, so kamen sie jetzt, um ihn zu fragen! Das war eine befriedigendere Situation, und er genoss sie.
Er sah seinen Besucher freundlich und aufmerksam an: Johannes Worner hatte ihm gegenüber Platz genommen. Der dritte Sessel war noch unbesetzt.
Worner war jung, etwa Ende dreißig. Er hatte flinke Augen, so als dürfe ihm nichts in seiner Umgebung entgehen. Er saß aufrecht, beide Füße nebeneinander auf den Boden gestellt, die Unterarme auf die Lehnen gestützt. “Machen Sie es sich bequem!” hatte er Worner mit einer Geste der rechten Hand aufgefordert, als sie sich setzten, aber nach Bequemlichkeit sah das nicht aus! ‚Typisch Politiker!' dachte Dr. Renner-Lepsch, ‚Wie auf dem Sprung! Aber wenigstens offen!' Dr. Renner-Lepsch hatte Seminare in Verhaltenspsychologie besucht, als er am Beginn seiner Laufbahn glaubte, das juristische Handwerkszeug alleine sei für den angestrebten Erfolg nicht ausreichend. Es hatte ihm sehr geholfen!
Worner hatte Dr. Renner-Lepsch in der vergangenen Woche angerufen: “Guten Tag, Herr Dr. Renner! Mein Name ist Worner, Johannes Worner! Ich weiß nicht, ob mein Name Ihnen bekannt ist.”
“Nun, Herr Worner, auch wenn er mir tatsächlich noch nicht bekannt sein sollte, werden Sie mir sicherlich sagen, warum Sie mich anrufen. Mein Sekretariat sagt, es sei dringend?”
“Ja, ich möchte Unklarheiten immer möglichst schnell beseitigen. Sie verstehen: Probleme sind zum Lösen da und nicht zum Sammeln! Hahaha! Nun, im Ernst gesprochen: Am liebsten möchte ich Ihnen meinen Wunsch persönlich vortragen. Sie sind ein viel beschäftigter hoher Beamter. Wann haben Sie eine Stunde Zeit für mich?”
“Das kommt auf die Art Ihres Wunsches an. Manchmal gibt es Wünsche, die andere Prioritäten erfordern! Oder handelt es sich tatsächlich um ein Problem, wie Sie es eingangs nannten?”
Das war ermutigend. “In vier Sätzen zusammengefasst: Ich kandidiere im Herbst nächsten Jahres erneut für den Landtag. Die Fraktion hat mich zum Sprecher für Fragen der Justiz bestimmt. Ich brauche einen zuverlässigen Berater. Ich würde Ihnen gerne vortragen, warum diese Personalfrage so wichtig für mich ist!”
Worner bekam Gelegenheit, bereits nach zwei Tagen seinen ungewöhnlichen Wunsch bei Dr. Renner-Lepsch vorzutragen und zu begründen und tat das sehr überzeugend. Dabei war der heutige Termin vereinbart worden.
Dr. Renner-Lepsch bot Kaffee und Mineralwasser an. Es war ein warmer Tag trotz des noch zeitigen Frühjahres. “Ich habe die neuen Umfrageergebnisse gesehen, nicht schlecht!”, ermutigte er seinen Besucher. Worner hatte einen guten Eindruck bei ihm hinterlassen, alles wohl durchdacht, fair formuliert, sein Anliegen war es Wert, unauffällig unterstützt zu werden. Deshalb war er an seinem Besucher interessiert und behandelte ihn mit freundlicher Aufgeschlossenheit.
Es war ihm zunächst schwergefallen, sich auf den Wunsch Worners einzulassen. Als leitender Beamter stand er der die Regierung tragenden Partei nahe, ohne ihr Mitglied zu sein. Aber er hatte in all den Jahren aus seiner Sympathie nie einen Hehl gemacht. Und zur Belohnung war ihm der Aufstieg auf der Karriereleiter leicht gemacht worden. Nach dem Gespräch im Findungsausschuss war der Vorsitzende am Telefon noch deutlicher geworden als in der nicht öffentlichen Sitzung: Man würde ihn gerne zum Präsidenten des Landgerichtes I vorschlagen, weil er parteineutral sei und man der Öffentlichkeit zeigen wolle, dass es nicht den so oft und peinlich behaupteten Klüngel in der Besetzung leitender Stellen gäbe; dafür erwarte man dann aber auch, dass die in der Vergangenheit gezeigte Loyalität gegenüber der Regierungspartei auch künftig gepflegt und auch mal öffentlich gezeigt werde. Er hatte die Stelle übertragen bekommen. Dann waren die Jahre ins Land gegangen: Die Regierungspartei zerrieb sich zwischen Skandalen und internen Machtkämpfen, die Politik verkrustete immer mehr und gerade der Bereich der Justiz, nach Meinung der Politiker in der Öffentlichkeit nicht mit hoher Attraktivität ausgestattet, musste immer größere Sparpotentiale erfinden. Unzufriedenheit wuchs, auch in den Amtsstuben, selbst bei überzeugten Parteigängern. Die Opposition hatte für den Wahlkampf diese Unzufriedenheit aufgegriffen und die Umfragen signalisierten einen möglichen Machtwechsel.
“Wir kennen natürlich Ihre Einstellung, Herr Dr. Renner!”, hatte Worner in dem ersten Gespräch betont. “Es gab ja auch eine Zeit, da hatte die Regierungspartei Ihre Sympathie eventuell sogar verdient! Umso mehr ermutigt mich die Tatsache, dass Sie sich meinen Wunsch angehört haben. Vielleicht sind Sie auch zu der Auffassung gelangt, dass sich Vieles ändern muss in unserem Land!”
Worner hatte berichtet, dass seine Partei fest davon ausgehe, dass die Regierungspartei ihre Mehrheit verliere. Dann könne die derzeitige Opposition alleine oder in einer Koalition die Regierung stellen. In diesem Fall werde er, Worner, als Minister für Justiz in die Regierung eintreten. Hierfür benötige er zuverlässige Ratgeber, die aus dem juristischen Alltag kämen. “Sie wissen viel besser als ich, wie schwierig die Lage in der Justiz im Allgemeinen und in den Gerichten und im Strafvollzug im Besonderen ist. Die Menschen in unserem Land haben ein Recht darauf, dass die notwendigen Verfahren zügig und zuverlässig abgeschlossen werden. Und ich meine 'zuverlässig', besonders im Strafvollzug! Und wie sieht die Praxis aus? Ich will das ändern!” hatte Worner gesagt, damit zwei dringende Problembereiche genannt und schon alleine deshalb die unausgesprochene Zustimmung des Gerichtspräsidenten gefunden.
“Nun, das sind lobenswerte Absichten, aber so einfach ist das nicht!”, glaubte Dr. Renner-Lepsch warnen zu müssen, zumindest Worner herausfordern zu wollen. “Der Finanzminister sagt, dass sogar er jeden Euro nur einmal ausgeben kann. Und denken Sie an die hierarchisch ausgerichtete Bürokratie, die zwar nicht sonderlich liebevoll von der derzeitigen Regierung behandelt worden ist, sich aber mit dem Blick nach oben bequem eingerichtet hat.” Er dachte dabei an das Ministerium: Es war einfach grauenhaft, wie man mit Anregungen und Vorschlägen dort umging!
Worner war schon lange Politiker, erfahren in der Kunst, zu überzeugen: Er hatte Dr. Renner-Lepsch angelächelt, so als sehe er eine hoch erfreuliche Vision: “Sehen Sie, Herr Dr. Renner, dort liegt die große Chance der Opposition. Wir werden die Ausgaben umschichten und neue Schwerpunkte bilden. Und wenn die Beamtenschaft sieht, dass die neue Regierung die Ärmel hoch krempelt, dann wird ein frischer Wind in die Amtsstuben einziehen, glauben Sie mir!”
“Das zu glauben mag ja berechtigt sein.” wechselte Dr. Renner-Lepsch das Thema. “Aber wie kommen Sie gerade auf mich und mein Landgericht? Es gibt die Universitäten und Hochschulen, viele andere Gerichte, die Obergerichte. Und schließlich das Ministerium. Wenn Sie kundige Ratgeber außerhalb Ihrer Partei suchen: Warum kommen Sie zu mir?” Dr. Renner-Lepsch lächelte bei der Frage, aber in seinen Augen lauerten Selbstgefälligkeit und Verletzlichkeit.
Worner klopfte sich in Gedanken anerkennend auf die Schulter! Das war eine äußerst schwierige und delikate Frage und er hatte damit gerechnet, dass sie so oder zumindest so ähnlich gestellt würde. Er hatte lange darüber nachgedacht, wie er antworten würde, ohne Dr. Renner-Lepsch zu brüskieren, denn sein Anliegen hatte eine andere Person zum Ziel. Deshalb war ihm die Antwort leicht gefallen, er hatte wie in Gedanken mit dem Kopf genickt: “Ich könnte es mir jetzt leicht machen, mit der halben Wahrheit. Ich könnte sagen, dass es weithin bekannt ist, dass Ihr Haus schnell und zügig und zuverlässig arbeitet, kurze Verfahrensdauer, große Sicherheit in der Urteilsfindung, kostengünstige Organisation, und dass das Ihr Verdienst ist, Herr Dr. Renner, und dass ich deshalb Sie als meinen Berater gewinnen möchte.” Wie um die Wirkung seiner Worte zu beobachten hatte Wörner eine kurze Pause gemacht, sich in seinem Sessel aufgerichtet und seinem Gegenüber offen in die Augen gesehen: “Und dann? Dann würden Sie mir antworten, das lasse Ihre Loyalität nicht zu, die Menge Ihrer Pflichten ohnehin nicht und auch nicht Ihr Wille, Ihr Gericht nicht durch den Stellvertreter vernachlässigen zu lassen. Habe ich recht?”
Was hätte Dr. Renner-Lepsch darauf antworten können, ohne seine souveräne Haltung, die ihm zum Wesensmerkmal geworden war, zu verletzen? Er hatte in neugieriger Erwartung die Augenbrauen gehoben.
Worner nickte wieder, wie bedauernd, mit dem Kopf: “Sehen Sie? Und ich hätte zwar Ihr Wohlwollen gewonnen, aber eine Niederlage einzustecken. Das mag kein Politiker, der etwas auf sich hält!” Er lachte das gespielte Bedauern aus seiner Stimme: “Und deshalb antworte ich mit der zweiten Hälfte der Wahrheit: Ich will den besten Mann aus Ihrer Mannschaft! Ich habe meine Ohren natürlich auch im Bereich der Justiz und deshalb viel Gutes über ihn gehört. Wenn schon nicht Sie, dann den, den und keinen anderen! Mit ihm mache ich ein modernes Justizwesen!”
Dr. Renner-Lepsch hatte sich schnell entschlossen, mit der Anerkennung für seine Arbeit zufrieden zu sein und den Wunsch zu unterstützen. Auch so könnte er seinen Einfluss noch einmal erweitern, diesmal bis in die hohe Politik.
So waren sie verblieben und hatten den heutigen Termin vereinbart. Sie plauderten, bis die Sekretärin Frau Silber meldete, Herr Wiedukind sei da. “Ich bitte ihn herein!”
Hubertus Wiedukind sah sich erstaunt um. Entweder war man mit Dr. Renner-Lepsch alleine im Büro, was oft nichts Gutes verhieß und immer höchste Vertraulichkeit signalisierte, oder es waren viele Kollegen anwesend: die Kammerpräsidenten, um die Stellenverteilung an unterschiedliche Fallzahlen anzupassen, manchmal gab es auch ‚Märchenstunden‘, in denen Dr. Renner-Lepsch philosophische Vorträge hielt, um den Arbeitseifer oder das Gemeinschaftsgefühl zu fördern. Heute war es anders: Ein Zweiter saß an dem niedrigen Tisch, nicht am Konferenztisch vor dem großen Fenster mit dem Blick auf den Neptun-Brunnen im Park, sondern im ‚Wohnzimmer', wie sie das nannten, in der Ecke, meistens für informelle Gespräche im kleinen Kreis, mit den bequemen Ledersesseln und dem Kühlschrank. Er kannte das Gesicht des Mannes, der mit dem Präsidenten sich aus den Sesseln erhob! Wer war das bloß? An den Namen erinnerte er sich nicht so schnell.
Der Landgerichtspräsident stellte sie einander vor und bat, wieder Platz zu nehmen. Er wandte sich zu Wiedukind: “Herr Dr. Wiedukind!” eröffnete er das Gespräch, zu Wiedukinds Erstaunen den akademischen Grad in der Anrede benutzend, ‚Aha!', dachte Wiedukind, ‚Ich soll vorgeführt werden!'. “Ich habe das seltene Vergnügen, zwei so unterschiedliche Persönlichkeiten in einem Gespräch zusammenzuführen, das stattgefunden zu haben ich stets leugnen werde. Und das aus Gründen, die Sie nach dem Gespräch verstehen werden.” Er machte eine Pause, wie um die unverständliche Entschuldigung einwirken zu lassen. Dann fuhr er fort: “Mein Beitrag wird sich also beschränken auf das Öffnen des Tores. Herr Worner, im Schattenkabinett für die nächste Landtagswahl von der heutigen Opposition für das Resort ‚Justiz' vorgesehen, benötigt einen sachkundigen und zuverlässigen Berater. Ich räume ein, dass auch andere Namen bei längerem Nachdenken hierfür infrage kämen, aber Sie sind mein bestes Pferd im Stall. Nun, meine Herren, das Tor ist geöffnet! Hopp hopp, hinaus ins Gelände!”
Dr. Wiedukind störte es zwar, wie ein Pferd auf die Weide geschickt zu werden, aber man kannte ja die gelegentlich etwas burschikose Art des Direktors. “Ich bin parteipolitisch nicht interessiert!” warf er ein.
“Nun hören Sie zuerst einmal dem Herrn Abgeordneten Worner zu!” mahnte Dr. Renner-Lepsch und lehnte sich in seinem Sessel erneut bequem zurück, so als ob er sich aus dem weiteren Geschehen zurückziehe, aber auf Hörweite bleiben wolle.
Und Worner warb geschickt für sein Anliegen, in jahrelanger politischer Tätigkeit rhetorisch erfahren. Er trete für das ihm zugesicherte Amt nur an, wenn er sich eine sachlich fundierte Meinung gebildet habe. Mit Halbwissen sei das mit ihm nicht zu machen. Das sei Betrug am Wähler und an den Betroffenen, die ihm vielleicht mit großen Hoffnungen ihre Stimme geben würden und die dann nicht von einem Unfähigen enttäuscht werden dürften. Er, Dr. Hubertus Wiedukind, wisse doch ganz genau, wo das System seine unverantwortbaren Schwächen habe. Er als erfahrener Mann der Praxis wisse doch, was geändert werden müsse und was auch geändert werden könne. Da spiele doch eine Parteizugehörigkeit keine Rolle, es gehe um die Sache, eine ungeheuer wichtige Sache. Es komme jetzt doch darauf an, Lücken zu schließen, Mittel zu verbessern und die Menschen anzuregen, ja: zu erregen! Nach allem, was er inzwischen erfahren habe, sei Wiedukind der beste Mann für ihn. Er erwarte von Wiedukind keinen politisierenden Eifer, sondern fundiertes Fachwissen.
“Und wie stellen Sie sich das vor?”, fragte Wiedukind zurück.
“Wir treffen uns ab sofort bis zur Wahl mindestens zweimal in der Woche zu intensiven Gesprächen. Und ich rufe Sie über das Handy an, wann immer ich im Tagesgeschäft eine Antwort suche. Sie brauchen an keinen Parteiversammlungen und an keinen Wahlkampfterminen teilzunehmen. Ich gehe so weit, zuzusagen, dass die Öffentlichkeit nichts über unsere Zusammenarbeit erfahren muss!”
“Und wenn Sie Ihr Wahlziel nicht erreichen?”
Worner lächelte wieder sein Sicherheit ausstrahlendes Lächeln: “Wenn wir diese unwahrscheinliche Alternative einbeziehen wollen, Herr Dr. Wiedukind: Dann müssen wir die angestrebten Verbesserungen im System für eine Periode zurückstellen, was äußerst bedauerlich wäre, und Sie wirken, wenn sie es nicht anders wollen, im öffentlichen Ansehen unbeschädigt an ihrer heutigen Aufgabe weiter. Aber das wird so nicht geschehen!”
“Und wenn die Opposition die Wahl gewinnt? Wenn Sie Justizminister werden?”
Worner wurde ernsthaft. “Ich habe bestimmte Zusagen, die mich ermutigen, zu sagen, wir werden Entscheidendes ändern. Und Sie, lieber Herr Wiedukind, können mir dabei helfen. Sie werden beamteter Staatsminister in meinem künftigen Haus und Koordinierungsaufgaben übernehmen. Wenn Sie wollen, natürlich! Hahaha! Nur freiwillig natürlich! Aber im Ernst: Ich setze große Hoffnungen in die Zusammenarbeit mit Ihnen!”
“Ich sehe zum ersten Mal bei einem Politiker ein Zeichen von ehrlichem Bemühen!”, hatte Wiedukind zum Abschluss bemerkt und um Bedenkzeit gebeten.
“Aber, bitte, nicht zu lange!” hatte Worner gemahnt, “Je eher unsere Arbeit beginnt, umso besser für uns alle!”
Und dabei hatte er Dr. Renner-Lepsch angesehen, wie um abschließende Unterstützung bittend. “Wie ich Herrn Dr. Wiedukind kenne, wird er das ruck-zuck erledigen!”
“Ich weiß nicht, was ich davon halten soll!” hatte Wiedukind gesagt, als Worner gegangen war, “Wir stecken hier voller Arbeit, bis an die Hutkrempe! Und dann: der Politik, der Opposition zuarbeiten! Ich weiß nicht. Unsere Familie hat sich bisher aus der Politik rausgehalten. Alter Grundsatz meines Vaters: Politik verdirbt den Charakter!”
“Mein lieber Wiedukind: Man muss da hin, wo man am besten wirken kann! Sie sehen Zusammenhänge! Sie erkennen Ursachen! Was könnten Sie dort an Einfluss nehmen, versuchen, das System zu verbessern!”
“Wie kommt es, dass Worner sich für mich interessiert? Haben Sie mich ihm vorgeschlagen?”
“Nein, Wiedukind! Ich verschenke doch nicht meinen besten Mann! Das liegt an Ihrem guten Ruf. Es hat sich schon lange herumgesprochen, dass Sie ein vorzüglicher Jurist und ein fleißiger Arbeiter sind. Es gibt sogar Leute, denen das gar nicht gefällt. Die unter Ihren Arbeitsergebnissen leiden, weil sie selbst nicht so erfolgreich und so schnell sind. Ich habe es Ihnen noch nie gesagt, aber jeden Monat beklagt sich ein anderer, der nicht mit Ihnen Schritt halten kann. Mal ist es Ihr Alter, dann Ihre Art, Täter zum Reden zu bringen. Irgendetwas finden sie immer, was sie in ihrer ruhigen Gangart stört. Also wundern Sie sich nicht, dass es außer mir auch noch andere gibt, denen Ihre Arbeit positiv aufgefallen ist.”
“Das ist ja alles sehr schmeichelhaft. Aber hier ist meine Arbeit auch am richtigen Platz: in der Rechtspflege, in der Jugendgerichtsbarkeit, um die Täter zur besseren Einsicht zu bringen. Es ist so schwierig, aber auch unerlässlich. Und die Arbeit wird immer mehr!”
“Hier im Haus halte ich Ihnen den Rücken frei!”
“Es wäre eine völlig andere Arbeit: nur Theorie, keine Praxis, nur Formulierungen, Verfahren, Gespräche mit Unwissenden. Und am Rande der Politik werde ich mit der Zeit zerrieben!”
“Das stimmt alles. Aber Worner ist anders. Er ist der Erste, dem ich glaube, dass es ihm um die Sache geht. Und den Rest, das politische Geschäft, lernen Sie doch in einer Woche! Einen Mann wie Sie zerreibt man doch nicht! Nun reden Sie erst einmal mit Ihrer Frau, schlafen eine Nacht darüber, und morgen sehen wir weiter!” Er griff nach seinem Terminkalender: “Ist Ihnen elf Uhr dreißig recht?”
Hacker kam wütend aus der Schule, er war stinksauer! Er warf seine Tasche mit den wenigen Schulsachen krachend im Flur in die Ecke, in der die Regenschirme an der Wand lehnten.
Und dabei hatte er durchgehalten! Den ganzen Vormittag! Ohne jemand zu verprügeln, noch nicht einmal den Lehrer, diese Mumie! Das konnte sich keiner vorstellen, was das für eine Kraft gekostet hatte!
Heute war wieder so ein Tag. Der ihm die ganze Kraft nahm. Wo eigentlich nichts richtig lief. Das kam vom Nachdenken! Er hatte schlecht geschlafen. Wäre am liebsten im Bett geblieben. Aber dann kamen die Gedanken wieder. An den Jugendrichter. Und das am frühen Morgen, noch vor dem Aufstehen! Hätte er doch nur weiter geschlafen! “In Ihrem Alter”, hatte der Typ gepredigt, “kann die Gesellschaft von Ihnen erwarten, dass Sie darüber nachdenken, was Sie tun.” Oder so ähnlich. Aber keiner hatte ihm beigebracht, wozu das gut wäre. “Räum‘ das Zimmer auf!”, hatte seine Mutter einmal gesagt, als er ein kleiner Junge war. Er erinnerte sich noch genau! Er hatte auf dem Bett gesessen und sich gefragt, wie man das macht. “Ich will nix mehr rumliegen sehen, gar nix!”, hatte sie ihm über die Schulter zugerufen und die Tür hinter sich zugeknallt. ‚Nichts herumliegen sehen!' hatte er gedacht, die Decke, die vom Bett herunter gerutscht war, angehoben und alles unter das Bett geschoben: die Schuhe, einen schmutzigen Pullover, das wenige Spielzeug. Dann saß er da und fragte sich, warum das jetzt besser sei, er verstand das nicht; er fing an, sich zu langweilen; er ging hinaus, auf die Straße.
Als er Monate später im Trotz zurückfragte, ob seine Mutter denn auch das Wohnzimmer aufräume, Kissen und Decken lagen durcheinander auf dem Sofa und auf der Erde davor, leere Bierflaschen lagen dazwischen, ein Aschenbecher mit Zigarettenasche, der eklig stank, bekam er eine Ohrfeige. “Frecher Bengel. So redet man nicht mit seiner Mutter! Wo lernst Du so etwas nur! Als ich so alt war wie Du, na, was meinst Du wohl ...? Hier, bring das raus!” Sie hielt ihm den vollen Aschenbecher hin. Im Hinausgehen hörte er noch, er sei undankbar, sie habe doch wirklich genug getan. Er warf den Aschenbecher in die Mülltonne und ging, seine Freunde zu suchen. Er verstand seine Mutter ohnehin nicht, er hatte doch nur etwas gefragt. Was war das: undankbar!? Er kam sich immer so klein vor, wenn sie schimpfte, schrie. Sein Kopf dröhnte dann und das Herz schlug bis in den Hals hinauf und er bekam eine Angst, für die er keinen Namen hatte. Das Beste wäre wohl, in Zukunft gar nicht mehr zu fragen und der Mutter aus dem Wege zu gehen. Wenn er das nicht tat, dann konnte es passieren, dass er so unsinnige Dinge tun musste wie aufräumen. Man musste einfach, ob man wollte oder nicht, sie war die Stärkere.
So hatte er gelernt, bei seinen Freunden das durchzusetzen, was er wollte. Mit Kraft und Stärke. Ohne Diskussion. Das Problem war nur, dass man etwas wissen musste, das getan werden sollte. Aber ihm war noch immer etwas eingefallen. Ganz besonders stolz war er wegen der Sache mit den Mutproben. Wer sein Freund sein wollte, zur Gruppe, zu seiner Gang dazugehören wollte, musste zeigen, dass er ein richtiger Kerl und kein Weib war. Musste zeigen, dass er mutig und stark war. Und dass er ihm, dem Vormann, gehorchen würde. Sofort. Ohne Diskussion.
So war seine Ordnung. Er tat nur, was ihm in den Sinn kam. Naja, meistens. Es gab auch mal Kompromisse. Und in der Gruppe seiner Freunde, in seiner Bande, die er später ‚Gang' nannte, musste auch getan werden, was er verlangte. Gut, es gab auch mal eine Diskussion über seine Anweisungen, die er zuließ, weil sie von Anfang an lustig lief und er sie zu seinen Gunsten ausgehen lassen konnte. Aber meistens, wenn er keine Lust dazu hatte oder wenn er seine Autorität festigen musste, schlug er einfach zu. Das sorgte für Ruhe und Gefolgschaft. So etwas lernte man nicht in der Schule, aber man brauchte es für das Leben, viel nötiger als den schulischen Unsinn.
Und nun hatte der Jugendrichter von ihm verlangt, nachzudenken. Aber wie machte man das? Und worüber? Und wie lange? Und wozu sollte das Nachdenken führen? Das hatte ihm niemand gesagt. Nur so ein paar alte Sprüche. Einen hatte er sich gemerkt: “Was Du nicht willst, das man Dir tu‘, das füg' auch keinem anderen zu!” Und dann dachte er an seine Gang. Die könnten doch alle wegbleiben, wenn sie keine Lust mehr hätten. Aber sie kamen immer wieder zu ihm. Sie wollten, dass er ihnen sage, was zu tun sei. Einer musste das doch sagen. Wie in der Politik. Nur dass er der Vormann war. Der Vormann seiner Leute. Die anderen Leute interessierten ihn doch nicht. Er tat doch nur, was für seine Leute gut war und er war immer vorneweg! Sie mussten sich doch etwas vom Leben nehmen, für sich. Sie hatten so wenig und die anderen so viel. Und das sollte er denen nicht zufügen? Das machte ihn unsicher, unentschlossen, nahm ihm die ganze Kraft!
Am Samstag war die Pissnelke vom Jugendamt mit einem Bullen gekommen. Traute sich wohl nicht alleine zu ihm! Hatte ihm die Stimmung für das ganze Wochenende verdorben. Jetzt sei es wirklich genug, hatte sie gesagt, und er wusste noch nicht einmal, was sie meinte. Das müsse endlich aufhören, mit den Diebstählen und den Prügeleien. Und der Richter habe doch angeordnet, dass er wieder zur Schule gehen müsse. Ginge er aber bisher nicht. Was er sich dabei denke! Er dachte sich aber nichts dabei und sagte auch nichts. Darauf war sie ganz hektisch geworden. Sie gebe ihm noch eine Chance: ab Montag zur Schule und durchhalten, und keine Delikte mehr, sonst werde die Bewährung aufgehoben, dann gehe er in den Knast.
Er war ja nicht blöd! Das hatte er verstanden. In den Knast wollte er nicht. Sie hatten ihn erwischt. Mit Stoff in einem geklauten Wagen. Nach dem Unfall. Er sei ein Wiederholungstäter, hatte der Richter gesagt. War das etwas Besonderes? Er wollte nur seinen Spaß haben. Und seinen Anteil am Leben. Aber der Richter hatte ihn verurteilt. Mit Bewährung. Und die wollte die Ziege aufheben lassen. Damit er in den Knast müsste. Deshalb war er dann doch gegangen. In die Schule.
Viel behalten hatte er von dem Unterricht nicht. Er hatte immer an den Knast denken müssen. Hatte sich zusammengerissen. Hatte versucht, dem Lehrer zuzuhören. Sich sogar einmal gemeldet, als es um die Politik ging. Er solle versuchen, den Hauptschulabschluss zu machen, hatte der Richter in der Verhandlung gesagt. Er könne das schaffen, so groß und einsichtig wie er sei, und das sei für sein ganzes Leben gut.
Aber er hasste die Schule. Das lange Rumsitzen. Die Klugscheißer, die einem erzählten, was man alles wissen müsse. Er konnte sich den langweiligen Kram nun mal nicht merken, ihm gingen andere Dinge durch den Kopf. Aber davon wussten die Lehrer nichts. Sie hatten genug Geld und Autos und fuhren in den Ferien weg und erzählten das dann auch noch, hinterher. Da mussten sie alle zuhören, mit Hunger im Bauch und im Kopf, aber ihm hörten die Lehrer nicht zu, wollten nicht hören, was er für das Leben glaubte wissen zu müssen.
Und dann die Mitschüler! Die vielen Ausländer, der Zorn floss ihm in den Magen, wenn er sie kommen sah! Aber auch viele andere: einige Schüler hatten reiche Eltern, hatten alles, waren aber zu blöde für eine bessere Schule. Ließen einen seine Armut so richtig merken, mit Marken-Klamotten, Computern, Handys, Feten, diskutierten nach den Ferien mit den Lehrern über Reiseziele, verstanden aber nichts vom Leben, vom richtigen Leben, von seinem Leben.
Vor der letzten Stunde hatten sie versucht, ihn anzumachen: Er sei ja schon so lange im Unterricht. Er werde noch ein richtiger Musterschüler. Da war ihm rechtzeitig wieder ein Spruch des Richters eingefallen, ein anderer Spruch, und er tat etwas, was er noch nie getan hatte, aber er wollte nicht in den Knast: Er vergrub seine Hände in den Hosentaschen, sah die Kröten mit aller Verachtung im Blick, die ihm möglich war, schweigend an und ging hinaus! Aber was das für eine Kraft gekostet hatte, lieber hätte er kurz zugeschlagen und die Angelegenheit auf die übliche Art erledigt.
Er ging in die Küche. Machte sich eine Scheibe Brot mit Margarine und Käse, trank dazu einen Red Bull. Das war sein Mittagessen und er empfand daran keinen Mangel. Nachher würde er sich noch einen Hamburger am Imbiss kaufen. Das Essen beruhigte ihn. Er begann, über den Nachmittag nachzudenken.
Hacker griff zum Handy und legte sich auf das Sofa. Nachts schlief er hier, auf dem Sofa in der Küche, schon ein paar Jahre lang, seitdem seine Mutter ihn aus dem kleinen Schlafzimmer geworfen hatte, weil er zu groß geworden war und danach gefragt hatte, was die Männer in ihrem Bett nachts mit ihr machen würden. Er rief Bobo, einen seiner Leute, an: “Hier ist Vormann. Sage den Leuten Bescheid: um drei im Englischen Garten, Thiemestraße. Und pünktlich!”
Bobo war sein Nachrichten-Mann. Wollte mehr, wollte sein Stellvertreter werden, wollte auch bestimmen dürfen. Soll sich erst einmal bewähren. Braucht aber klare Anweisungen, klare Kante! Dann funktioniert er. Gab immer alle Meldungen mit SMS durch, an alle. Alle hatten Handys. Dafür hatte er gesorgt. Und alle würden kommen, pünktlich. Sie wollten ja alle in seiner Gang sein, mitmachen. Er würde mal wieder etwas unternehmen müssen, für die ganze Gruppe, zeigen, was er sich alles für seine Leute ausdenken konnte.
Die Langeweile hatte sie zusammengebracht. Sie hingen irgendwo in der Stadt herum, ‚abhängen lassen' nannten sie es: Nach ein paar Stunden war der Frust verschwunden, der Ärger über die Eltern, die Schule, den Fahrkartenkontrolleur, ihre Hoffnungslosigkeit, die sie fühlten, besonders wenn sie alleine waren, aber die bei ihnen keinen Namen hatte. In der Zeit pöbelten sie Leute an, verprügelten auch mal jemand, ließen das Eine oder Andere mitgehen aus den Kaufhäusern, schufen sich so ihre Erfolgserlebnisse, die sie zufrieden machten. Und sie redeten sich Mut und Überzeugung ein: so sei das richtig, sie nähmen sich, was sie brauchten, sie wären stark, nicht die Spießer, die schuften, die Streber, die lernen.
Sie gewöhnten sich daran, zu tun, was Vormann sagte. Damals nannten sie ihn noch nicht Vormann. Er hieß Mario, Mario Hornballer. Aber Mario hatte die besten Ideen. Und sie warteten doch eigentlich alle darauf, dass ihnen einer sagen würde, was sie zu tun hätten. Mario tat das. Und sie folgten ihm, immer mehr. Auch weil er der Stärkere war. Und es lohnte sich. Sie nahmen sich, was sie brauchten. Sie hatten Spaß. Und sie ließen sich viel Zeit. Naja, es gab auch Ärger mit der Polizei, mal ein Strafverfahren, mal ein paar Stunden gemeinnütziger Arbeit in einem Kindergarten. Aber die Gruppe hielt zusammen, half, und ließ einen nicht fallen. Wenn er der Polizei nicht zu viel verraten hatte. Mario warnte immer denjenigen, der zur Polizei musste: “Und halte die Schnauze! Sie dürfen Dich nicht schlagen! Sage ihnen nichts, nicht von Dir, nicht von mir und nicht von den Anderen. Sonst hacke ich Dich!” Das war eine schlimme Drohung und keiner riskierte es, zu erleben, was Mario dann tun würde. Wenn er einen hacken würde. Aber sie nannten ihn schon bald nur noch Hacker.
Dann war Oche mit der Zeitung gekommen. Mit dem Bild darin. Männer in einem Boot auf einem Meer. Alle in gleicher Arbeitskleidung. Und ganz vorne im Boot, im Bug, wie es in der Zeitung stand, im Bug stand einer und hielt Ausschau: der Vormann. “Lass uns ein Boot besorgen. Dann fahren wir die Isar hinab, wie die Männer in der Zeitung!” schlug Oche vor. Sie hatten die Zeitung studiert. Schließlich hatte Hacker gesagt: “Ich bin Euer Vormann. Ich werde es mir überlegen.” Von dem Tag an hieß er ‚Vormann' und nur noch ganz wenige durften ihn mit seinem Namen Hacker ansprechen.
Kam ein Neuer, dann musste er der Gang zeigen, was er drauf hatte. Im letzten Winter hatte Vormann einen Jungen in die eisige Isar geschickt. “Bist Du krank? Bei der Kälte?” hatte der sich gewehrt. Aber Vormann ließ nicht mit sich handeln und seine Leute grinsten erwartungsvoll. “Wenn ich Dir sage, Du sollst springen, dann springst Du! Sofort und ohne Widerrede! So geht das bei mir! Und jetzt spring!” Sie hatten ihn gemeinsam aus dem kalten Wasser gefischt, ihm eine halbe Flasche Enzian zu trinken gegeben und eine warme Jacke für ihn geklaut. Jetzt kam er immer pünktlich. Ein anderer war beim Surfen in einer Kurve von der U-Bahn abgerissen und im Krankenhaus gelandet. “Ich will bei Euch mitmachen. Das passiert mir nicht mehr!” hatte er beteuert, mit schlechtem Gewissen wegen seines Versagens, als Vormann ihn nach einer Woche besuchen durfte.
Ja, Vormann war zufrieden mit seinen Leuten. Aber er musste sich auch immer wieder etwas einfallen lassen, um sie bei der Stange zu halten. Er stand auf. Er brauchte als Einziger nicht pünktlich zu sein, aber es war auch ein weiter Weg, er musste sich ranhalten. Er sah kurz zu seiner Mutter hinüber: sie lag auf der Couch im Schlafzimmer, hatte ein Bier vor sich auf dem Tisch stehen, rauchte und sah fern. Eine der sinnlosen Serien, blöde Gerichtsverhandlung, mit einem Jugendlichen, der Alkohol geklaut hatte. So ein sinnloser Quatsch!
Er nickte nur kurz mit dem Kopf, wusste nicht, ob seine Mutter
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Bildmaterialien: Cover: Paradise-Bay
Tag der Veröffentlichung: 01.02.2013
ISBN: 978-3-7309-0981-2
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Ähnlichkeiten mit lebenden Personen oder tatsächlichen Sachverhalten sind nicht beabsichtigt!