Da saß er nun. Aber Entspannung wollte sich, wie so oft an anderen, auch an schwierigen Tagen, heute noch nicht einstellen. Die wohltuende Umgebung, das sanfte Licht des Abends über der Stadt, die ausreichende Zeit, die er sich für diesen Anlass genommen hatte, ließen es zu, alles noch einmal in Ruhe zu überdenken, die erfreulichen, weil seine Überlegungen bestätigenden Ergebnisse, und die unerfreulichen, seine schlimmsten Befürchtungen bekräftigenden Vorkommnisse aus den vergangenen drei Wochen. Eine so in die Zukunft wirkende Entscheidung musste wohl überlegt sein, zum wiederholten Male, ganz besonders noch einmal jetzt in allen Einzelheiten als Grundlage der Entscheidung, zu der er kommen sollte. Er rief noch einmal alle Einzelheiten in seiner Erinnerung auf, alle Argumente für und gegen den Vorschlag, alle Ereignisse, die sie begleitet hatten. Sie entstanden mühelos und vollständig in seinem Gedächtnis. Aber entspannend wie an anderen Tagen in der Stunde des verlöschenden Tageslichtes war es heute nicht.
Er wusste genau: Es war ein entscheidender Zeitpunkt! Es war alles erörtert, was zu erörtern war, auch wenn noch nicht alle Antworten endgültig vorlagen. Würde man jetzt die Arbeit fortsetzen, entstünde Aufwand, der bei einer Aufgabe des Planes zu Verlusten führen würde. Argumente für eine Entscheidung würden sich nicht mehr ergeben, bestenfalls Lösungen für Teilprobleme, die aber für die grundsätzliche Entscheidung nicht von Bedeutung waren. In diesem Punkt stimmte er Ma Rugu zu: Eine Fortsetzung der Untersuchungen erforderte eine vorherige positive Entscheidung. Er unterschied sich aber in den Konsequenzen: Während Ma Rugu die Überlegungen stoppen lassen wollte, um ihn, Chan, zu behindern, zumindest um Zeit zu gewinnen, wie er befürchtete sogar um das Projekt dadurch möglichst endgültig zum Stillstand zu bringen, forderte er eine schnellstmögliche Entscheidung, um die Vorbereitungen ohne Unterbrechung fortsetzen zu können.
Er musste sich entscheiden. Heute. Er wusste: Ein Aufschub, und sei es nur bis morgen, macht die Entscheidung nicht leichter.
Eine alte Volksweisheit sagt: Blicke nach Osten, die Sonne zeigt Dir den Weg!
Chan liebte jedoch die Stunde vor Sonnenuntergang. Tief im Westen, hinter dem Smog der Stadt und dem Dunst der See, stand sie, kaum noch über dem Horizont. Der Himmel färbte sich in leuchtendem Licht. Nur wenige Tage im Jahr, im Frühjahr und im Herbst, wenn die mildere Wärme des Tages den feuchten Atem der See über das Land schickte und kein Sturm für hektische Unruhe in den Wolken und zwischen den Häusern sorgte, ließen diese intensive Färbung zu.
Als Kind hatte er sich nach dem Sonnenaufgang zu richten. An der Ostküste sagte man morgens beim Aufstehen, mahnend oder auch erstaunt: Die Sonne arbeitet schon! An der Ostküste der Insel, zwischen Keelung und dem Meer, blickte man früh morgens der Sonne entgegen. War sie schon aufgegangen, so musste man sich mit seinem Tagewerk sputen. Ein Sonnenuntergang im Westen dagegen war etwas ganz Besonderes, für das man im Alltag keine Zeit hatte. Als 1975 Tschiang Kaischek, das Staatsoberhaupt, der Garant der staatlichen Unabhängigkeit, verstarb, ging Chans Familie wie fast alle anderen auch in tiefer Trauer und Bestürzung auf den Berg Jiran-Jianduan: “Seht Ihr noch die Hauptstadt? Wo ist die Zukunft?“ Der Abend endete mit einem prächtigen Sonnenuntergang, dem ersten, den Chan bewusst wahrnahm. Sie saßen auf der Kuppe des Berges, in einem Meer von leuchtendem buntem Licht, das an dem unter ihnen liegenden östlichen Horizont begann, zu verblassen, aus der Höhe ein strahlendes Leuchten ohne jeden Schattenwurf herabschickte und im Westen von einer glutroten Sonne genährt wurde, bis feine Wolkenstreifen und der Horizont sich dem Licht in den Weg stellten und das verblassende Leuchten die Nacht ankündigte. Es war ein unvergesslicher, Neues ankündigender Eindruck für den damals sechsjährigen Jungen. Am nächsten Morgen fuhr man zurück. Und die Zukunft wurde gut.
Wenige Jahre später zerstörte ein Erdbeben Haus und Betrieb der Familie. Seine Mutter hatte das Essen bereitet und brachte zunächst den Ahnen am kleinen Altar im Garten ihren Anteil. Das war das Zeichen für die Familienmitglieder, die Arbeit ruhen zu lassen, das Spiel zu beenden. Man wusch sich gemeinsam am Brunnen die Hände. Die Brüder lachten über ihr schwankendes Spiegelbild im Wasser. Und als sie merkten, warum das Bild plötzlich zitterte und dann verschwunden war, waren Haus und Werkstatt ein Trümmerfeld. Später kniete die Mutter wieder vor dem kleinen Altar und betete zur Göttin der Barmherzigkeit: Du hast der Familie allen Besitz genommen, uns aber alle Menschen gelassen. Wohin schickst Du uns? An das Meer, um für uns zu sorgen? In die Stadt, um anderen zu dienen? Nach Westen, in die Hauptstadt, weil dort Viele sind, die Hilfe brauchen? Im leuchtenden Licht des Abendhimmels bargen sie, was brauchbar geblieben war. Und am nächsten Morgen machte die Familie sich auf den Weg in die Hauptstadt, die verbliebene geringe Habe auf einem Handwagen verzurrt. Niemand fragte die Mutter nach dem Warum. Die Götter hatten es empfohlen, die älteste Frau in der Familie hatte es entschieden. Und die Zukunft wurde schwer, aber gut.
Chan erhob sich, um sich zu erfrischen. Ein Glas Quellwasser für den Körper, ein Glas Reiswein für den Geist. Er reckte sich, vom gedankenverlorenen Sitzen steif in den Gelenken. Er war wie fast immer im Observatorium alleine, deshalb erlaubte er seinem Körper dehnende Bewegungen, ein paar Übungen Tai-Chi. “Ich brauche mehr Bewegung. Schwimmen! Nur Golf auf der Driving-Range ist zu wenig!“. Er trat an die Rundung der Glaskuppel.
Ein Observatorium war es nicht, aber alle Mitarbeiter nannten es so. Auf dem Dach des Penthouses, welches das Verwaltungsgebäude abschloss. In der achtundachtzigsten Etage, wenn man die beiden Luftgeschosse mit den vielen Antennenträgern mitzählte. Sein Gebäude sollte einen harmonischen Abschluss der Höhe haben, Harmonie mit dem Himmel, keine Spitze mit Antennen, Dornen gleich, keinen blinkenden Werbeträger: EBS! EBS! EBS! Ein Penthouse, auch wenn es in dieser Höhe bauphysikalisch schwer zu beherrschen war. Aber auch das Penthouse sollte einen harmonischen Abschluss finden: Stein, Stahl, Glas! Die runde Form ergab sich aus der frühkindlichen Erinnerung an den Neues verheißenden Aufenthalt im Jahre 1975 auf dem Berg Jiran-Jianduan: Wo ist die Zukunft? Das Penthouse diente wichtigen Konferenzen: mit Regierungsmitgliedern, mit den wichtigsten Geschäftspartnern, mit dem Direktorium. Das Observatorium aber, der Abschluss des Penthouses und damit eines der höchsten Gebäudeteile in der Stadt, war dem engsten Kreis für kreative Meetings vorbehalten, hier wurde die Zukunft von EBS gestaltet. Es gab nur Wenige, die aus eigenem Erleben beschreiben konnten, wie es im Observatorium war. Und diese Wenigen verschlossen sich in Ehrfurcht, fragte man sie danach.
Chan sah sein durch die Rundung des Glases verformtes Spiegelbild. Er legte Wert auf eine schlichte, aber gepflegte moderne Kleidung, die auf seine gesellschaftliche Stellung schließen ließ, gleichzeitig aber auch Bescheidenheit ausdrückte. Seine Augen unter den dunklen, kurz getragenen und in der Mitte gescheitelten Haaren waren gewohnt, das Wesentliche zu erkennen und in den Geist der Menschen einzudringen. Chan verstand es, das Gewicht seines Körpers so zu halten, dass man ihm Kraft und Wohlstand ansah, ohne an Übermaß und Vergeudung zu denken.
Von seinen Eltern hatte Chan gelernt, dass Schwierigkeiten, und seien sie noch so groß, mit Kraft und Ausdauer und mit der Gunst der Götter überwunden werden können. Daraus waren Ausdauer und Ernsthaftigkeit entstanden, Respekt vor der eigenen Aufgabe und ein starkes Gefühl großer Verantwortlichkeit. Sein Unternehmen war innerhalb weniger Jahre aus dem kleinen handwerklichen Betrieb des Vaters zu einem Geflecht von Firmen und Betrieben angewachsen. Er würde das Erbe des Vaters behüten, im Sinne des Vaters weiter entwickeln, seine wirtschaftliche Kraft stärken und alle Angriffe abwehren, auch wenn sie sich nur gegen seine Person und nicht gegen das Unternehmen selbst richten sollten!
Er hatte auch gelernt, dass die Familie der Ort ist, an dem aus der Ruhe, Harmonie und Gemeinsamkeit die Kraft für den folgenden Tag wächst. Hatte er die Gültigkeit dieser traditionellen Regel falsch eingeschätzt? Verlor sie etwa wie viele andere Regeln auch in der modernen Zeit an Bedeutung? Sogar in der eigenen Familie? Oder war es alleine der wirtschaftliche Erfolg des Unternehmens, der wachsende finanzielle Ertrag, der Begehrlichkeiten weckte? Irrte er sich einfach nur in seiner Einschätzung? Gerne wäre er zu dieser Überzeugung gelangt, aber in den vergangenen Wochen hatten Ereignisse keine andere Erklärung zugelassen.
Er sah in Ma Rugus Verhalten immer häufiger und deutlicher Angriffe auf sich, Chan, und auf seine Funktion im Unternehmen. Aber er konnte und wollte sich, seiner Familie und dem ehrenden Andenken an den Vater nicht nehmen lassen, was er in Jahren mühevoller Arbeit aus dem väterlichen Betrieb aufgebaut hatte!
Ma Rugu, ein Bruder seiner Frau, leitete ein zur Unternehmensgruppe gehörendes Tiefbauunternehmen. Es war ihnen gemeinsam, den Spezialisten in dem von Ma Rugu geleiteten Betrieb und in der von Chan geführten Zentralverwaltung,gelungen, ungewöhnlich große und einträgliche Staatsaufträge zu erhalten: der U-Bahn-Bau im Raum Taipeh und der Bau eines Verkehrstunnels zum chinesischen Festland, jedenfalls die taiwanesische Hälfte des Projektes. War das Grund genug für umstürzlerische Gedanken? Jedenfalls mehrten sich zumindest anfangs von Chan nur als leichtfertig angesehene Äußerungen Ma Rugus im Familienrat: Solle nicht derjenige die Unternehmensgruppe leiten, der die einträglichsten Aufträge erledige? Seien Chans Vorschläge auch wohl begründet? Könne man anstehende Entscheidungen noch zurückstellen? Chan musste immer größere Mühe aufbringen, um Ma Rugu von gegensätzlichen Meinungen abzubringen. Der Familienrat traf bisher nur einstimmige Entscheidungen, und die Auffassung eines Mitgliedes konnte andere Mitglieder des Rates verunsichern.
Zunächst hatte Chan aufkommendes Misstrauen zurückgedrängt: Ma Rugu denkt in einfacheren Abläufen. Nicht jedes Wort verbirgt auch eine Absicht. Der Name Ma bedeutet “Pferd“, man muss ihn geschickt am Zügel führen. Als er sich mit Mali Bo, seiner Frau, über das Verhalten Ma Rugus unterhielt, es war an einem warmen, sonnigen Nachmittag im Herbst des vergangenen Jahres im Garten seines Hauses, bekam er eine rätselhafte Antwort: “Jedes Pferd wehrt sich gegen seine Zügel! Und schließlich: Jugend ist ebenso wenig ein Nachteil wie Alter ein Vorteil ist!“
Chan liebte seine Frau aus vielen Gründen. Einer der Gründe war: Sie äußerte sich stets mit Bedacht und im Gegensatz zu ihrer traditionellen Erziehung mit oft erschreckender Deutlichkeit. Und nun diese rätselhafte Äußerung! Plante der zur Familie seiner Frau gehörende Teil des Familienrates etwa bereits seine Ablösung als Leitender Direktor der Unternehmensgruppe? Dem musste er im Interesse der Familie Chan vorbeugen! Er würde dem Unternehmen neue Ziele setzen, die den Familienrat veranlassen würden, Zweifel an der dauerhaften vollen Unterstützung Chans durch rückhaltlose Zustimmung zu zerstreuen.
Chan hatte zunächst das Gespräch mit Ma Rugu gesucht. Es sollte beiläufig erscheinen, bei passender und unauffälliger Gelegenheit, so wie zufällig, um den Anschein von Besorgnis zu vermeiden. Chan besuchte regelmäßig die großen Baustellen, um sich einen eigenen Eindruck vom Fortschritt der Arbeiten zu verschaffen, aber auch, um die Arbeiter mit dem Eindruck, die Firmenleitung interessiere sich tatsächlich auch für ihre Arbeit, zu noch mehr Aufmerksamkeit und Zuverlässigkeit anzuregen. So besuchte er zum Ende des vergangenen Jahres die Tunnelbaustelle an der Westküste. Es war schwierig, hierfür einen Termin zu finden. Als Ma Rugu berichtete, die Kommission des Verwaltungs-Yuan zur Qualitätsüberwachung habe sich zu einer Besichtigung angemeldet, nutzte Chan die Gelegenheit: “Ich werde an der Besichtigung teilnehmen!“
Ma Rugu blickte auf: “Hältst Du das für notwendig? Ich regele das schon. Alljährliche Routine.“
Chan blieb nachdrücklich bei seiner Absicht: “Mein Besuch war bereits angekündigt. Ich komme zu der Besichtigung mit der Kommission. Das erspart eine Behinderung der Arbeit durch einen gesonderten Besuchstermin.“
Ma Rugu schüttelte unwillig den Kopf, schwieg aber, da er wusste, dass er die Teilnahme Chans nicht verhindern konnte. Er hatte andere Möglichkeiten!
Die Besichtigung und die anschließenden Gespräche liefen ab, ohne dass jemand wahrnehmbar sein Gesicht verloren hätte. Aber Chan war empfindsam geworden und litt unter vielen nadelstichfeinen Angriffen. Er wollte sich in Anwesenheit der Besucher nicht wehren, Ma Rugu hätte bei den Mitgliedern der Kommission, die den Auftraggeber repräsentierte, an Ansehen verloren. Ma Rugu übernahm ohne vorherige Absprachen die Leitung der Gespräche und damit die führende Rolle. Er bezog Chan zwar mit Fragen in seinen Vortrag ein, mehrfach aber bei technischen Details, die Chan nicht geläufig waren und es war Chans Erfahrung und Gewandtheit zu verdanken, dass es nicht zu Peinlichkeiten kam.
“Wir müssen derartige Dinge künftig vorher absprechen!“, verlangte Chan, als die Besucher gegangen waren.
Ma Rugu lächelte, was er selten tat: “Ich bin mit dem Ablauf der Gespräche sehr zufrieden! Du wusstest vorher, dass es ein schwieriger Tag sein würde. Außerdem bin ich es, der die letzten Gespräche mit der Kommission geführt hat und wohl auch die nächsten Gespräche führen wird. Ich brauche Kontinuität, die Du heute nicht hättest herstellen können.“
“Darum geht es nicht, es geht um die Wirkung des Verhältnisses zwischen uns auf die Besucher!“
“Das verstehe ich nicht,“, fragte Ma Rugu mit weit geöffneten Augen zurück, “meinst Du die Fragen, die Du nicht beantworten konntest? Sorge Dich nicht, ich habe alle Fragen beantwortet!“ Damit wandte er sich dem Communikator für den Baustellenbereich zu und gab mehrere Anweisungen an die Vorarbeiter.
Auf dem Rückweg war Chan tief in Gedanken versunken. Er fühlte sich brüskiert und er spürte die Absicht und die geschickte Ausführung, die es den Besuchern überließ, die Vorkommnisse zu übersehen oder zu analysieren. Oder war er zu empfindlich und nahm etwas wahr, was nicht vorhanden war? Welche Form von Reaktion wäre den Vorkommnissen angemessen? Warum musste überhaupt Kraft und Zeit aufgebracht werden, um in einem erfolgreich arbeitenden Team derartige Spannungen abzubauen? Das Gespräch hatte neue Verstimmungen geschaffen, ohne dass die bereits vorhanden gewesenen Vorbehalte besprochen worden waren. Chan kam zu dem Schluss, dass ein weiteres Gespräch mit Ma Rugu nicht seine innere Ruhe wieder herstellen könnte. Er musste einen anderen Weg suchen, um seine Position wieder zu festigen.
Chan befasste sich seit längerer Zeit mit Überlegungen, auf welchem Gebiet seine Unternehmensgruppe ihrer Größe und Leistungsfähigkeit entsprechend in Zukunft erfolgreich arbeiten könne. Während eines Kurzurlaubes mit Mali Bo, seiner Frau, im vergangenen Jahr im Kenting-Nationalpark hatten sie sich über die große Anzahl der Besucher in der schützenswerten Natur unterhalten. “Die Zahl der Urlauber wird in den nächsten Jahren stark anwachsen, wie kann man dabei die Natur schützen und gleichzeitig genießen?“, sinnierte Mali Bo.
“Es wird zu wenig in den Tourismus investiert,“, antwortete Chan, “gerade wurde ein Projekt wegen des Widerstandes des Yuan zurückgezogen!“
“Aber die Menschen brauchen Entspannung und Erholung!“
“Ja,“, dachte Chan weiter, “und die Gelegenheit, ihr Geld auszugeben.“
Mali Bo sah Chan an: “Wäre das nichts für EBS?“
Chan blieb am Wegesrand stehen und betrachtete nachdenklich den Stamm eines Drachenbaumes. Dann sah er sich kurz um, andere Wanderer hatten gerade einen größeren Abstand zu ihnen, und er schilderte Mali Bo mit gedämpfter Stimme den Stand seiner Überlegungen: ein Ferienpark, unabhängig von touristischen Großunternehmen, von eigenen Gesellschaften betrieben. “Wir sollten im Familienrat über diese Möglichkeit sprechen.“, schloss Chan.
Mali Bo sah ihn fragend an: “Also hast Du Dich schon mit diesem Plan befasst! Haben wir Urlaub, damit Du mich für Deinen Plan gewinnen kannst?“
Chan blieb erschrocken stehen: “Nein, das hat nichts miteinander zu tun! Aber wenn wir schon in die Nähe dieses Themas kommen, macht es doch Sinn, auch über meine Überlegungen zu sprechen!“
“Du kennst die derzeitige Stimmung im Familienrat,“, warnte Mali Bo, “vielleicht kommt eine günstige Stunde. Jetzt habe auch ich Urlaub!“
In Gedanken versunken setzten sie ihren Weg fort.
Chan war mit dem Ausgang des Gespräches nicht zufrieden. Früher war Mali Bo interessierter auf seine Überlegungen eingegangen. Stand sie bereits zwischen Ma Rugu und ihm? Wie sollte er sich seinem Plan nähern?
In einer der nächsten Konferenzen mit dem Direktorium sprach Chan die Notwendigkeit an, neben den aktuellen Projekten neue Vorschläge für die Zukunft zu erarbeiten. Chan war froh, für die verschiedenartigen Aufgaben in der Unternehmensleitung so hervorragend geeignete Persönlichkeiten gefunden zu haben. Zwar gab es auch hier wellenartige Bewegungen in der Harmonie und Zusammenarbeit, aber die grundsätzlichen Werte wurden offensichtlich nicht infrage gestellt: die Ehrerbietung für den Vorgesetzten, der Vorrang des Unternehmens vor privaten Wünschen, der bedingungslose Einsatz für den Erfolg.
Jetzt schlugen die Wellen in der Harmonie wieder etwas höher. Hong Min Wen, zuständig für Finanzen und Besitz, warnte: “Wir brauchen Sicherheit! Es ist zu früh für neue Projekte. Die Erträge unserer Arbeit tragen noch keine zusätzlichen Lasten!“
Schan Dong Huu, einer der Ältesten und für die strategische Ausrichtung des Unternehmens zuständig, widersprach heftig: “Nur Zahlen und Erträge alleine sind keine Grundlage für die Zukunft. Wir brauchen Vorschläge, aber gut begründete.“
Es gab überwiegend zustimmendes Kopfnicken am großen Konferenztisch. Min Wen blieb uneinsichtig: “EBS sollte zunächst die Früchte seiner Arbeit ernten und genießen, bevor neue Lasten die Schultern beugen. Ich kann neuen Projekten noch nicht zustimmen, zumal wir die bereits geplanten Vorhaben verkraften müssen!” Er erinnerte damit an das der Industrie vorgeschlagene Verwaltungszentrum Süd, über das in Kürze entschieden werden sollte.
Dr. Rodriquez, der Leiter der Planungsabteilung, mit dem für Chinesen unaussprechlichen Vornamen Henri José und deshalb meist nur 'Dschos' genannt, sah in erster Linie den Reiz einer neuen Planung: “Wir sollten zumindest Vorschläge sammeln. Ob sie auch ausgeführt werden, verehrter Min Wen, ist später zu entscheiden, wenn sie auch finanziert werden können.“
Han Shigeru, früher in Kaohsiung Herausgeber der größten Tageszeitung, jetzt als Direktor für Marketing und Öffentlichkeitsarbeit zuständig für die Darstellung der Absichten des Konzerns in der Öffentlichkeit, verhielt sich unerwartet widersprüchlich: Natürlich müsse man sich Gedanken auch um die Zukunft machen, aber zunächst müsse man doch noch einmal die Auslastung der vielen unterschiedlichen Betriebe im Konzern überdenken und mit den Betriebsleitern sprechen.
Chan, befremdet über den heftigen Widerstand Shigerus und dessen Verweis auf die Stellungnahmen der Betriebsleiter, beendete die heftiger werdende Diskussion, ohne eine einheitliche Meinung feststellen zu können, mit dem ungewohnt strengen Hinweis: “Das ist heute und hier nicht zu entscheiden.“ Es machte ihn aber nachdenklich, dass die unterschiedlichen Meinungen so heftig ausgetragen wurden. Er würde etwas zur Pflege der Harmonie unternehmen müssen. Und er würde das Direktorium zwingen, sich mit der Anregung ernsthafter auseinanderzusetzen.
Jedenfalls war es Chan bewusst geworden, dass trotz aller wirtschaftlichen Kraft und Stärke der Unternehmensgruppe der Weg steiniger wurde. Zweifel im Familienrat, Angriffe auf seine Position als Leitender Direktor, Streit im Direktorium: Er brauchte einen begeisternden Vorschlag mit überzeugenden Argumenten, um die Zukunft des Unternehmens abzusichern und Harmonie ohne Gesichtsverluste wieder herzustellen.
Ein ganzes Wochenende lang hatte das Direktorium in anregender Umgebung nach neuen Wegen in die Zukunft gesucht. Nach außen hatte Chan keine Zweifel gezeigt. Er hatte das Direktorium für seinen kühnen Vorschlag und die gründliche Arbeit gelobt. Im Familienrat war es ihm in kurzer Zeit gelungen, die meisten Bedenken auszuräumen. Jedenfalls die meisten Bedenken. Nur Ma Rugu hatte sich unter Bedingungen bei der zweiten Abstimmung enthalten. Hatte er anderes erwartet? Erhofft ja, aber ernsthaft erwartet? Nein, um mit sich selbst ehrlich zu sein: Er hatte nicht damit gerechnet, dass Ma Rugu sachlich auf seinen Vorschlag eingehen würde. Aber es hing zu viel von dieser Entscheidung ab. Was blieb, wenn ehrliche Information und sachliche Diskussion nicht weiterführten? Wenn das Ziel aber so wichtig war, dass man es nicht aus den Augen verlieren durfte? Es gab Mittel und Wege, die in seltenen Ausnahmefällen genutzt werden mussten, nachdem das Risiko für alle Beteiligten sorgfältig abgewogen worden war. Und so hatte Chan erreicht, dass Ma Rugu dem Plan nicht widersprach, sich ihm nicht mehr in den Weg stellte, aber das Feld bereits für spätere Auseinandersetzungen bereitete. Deshalb war das Ergebnis der Beratungen nicht zufriedenstellend: Es war die erste Entscheidung, die nicht mit vorbehaltloser Zustimmung aller Mitglieder getroffen wurde! Ma Rugu hatte wenigstens den Vorschlag nicht abgelehnt. Würde das Projekt erfolgreich, hätte Ma Rugu mit seinen Vorbehalten für die notwendige Klarheit gesorgt. Scheiterte das Projekt dagegen, hätte Ma Rugu von Anfang an bereits gewarnt gehabt. Ein taktisch kluges Verhalten, musste Chan sich eingestehen.
Aber damit lag die gesamte Verantwortung bei Chan als dem Leitenden Direktor und dem für die letzte Entscheidung Zuständigen. Würde er das Projekt aufgeben, dann wäre er für den Familienrat nicht in der Lage, das Unternehmen in die Zukunft zu führen. Ließe er die Planung für das Projekt beginnen, hätte er eventuelle künftige Verluste zu vertreten und geriete völlig in die Kritik. Seine Stellung im Unternehmen, ja: Der Anteil der Familie Chan am gesamten Vermögen wäre abhängig von dem Erfolg dieses ungewöhnlich schwierigen und großen Projektes!
Chan war kein Spieler. Er war ein gründlicher Arbeiter und ein kühler Rechner. Hatte er sich entschieden, dann verlangte er von Allen auch uneingeschränkte Unterstützung und Arbeit unter Zurückstellung persönlicher Empfindsamkeiten und Umstände. Solide Arbeit für solide Erträge. Aber jetzt: Alles oder Nichts? Und wenn er sich für das Projekt entschied, zum ersten Mal ohne einmütige Zustimmung: Welche Art von Drachen würde er reiten? War es ein Glücksdrache, der ihn und sein Unternehmen in eine sichere Zukunft brachte? Oder war es der böse Drache aus den alten Überlieferungen, der alles verschlang, auch seinen Reiter? Nach außen hatte Chan bisher keine Zweifel zugelassen. Aber in seinem Inneren stritten Überzeugungen mit Zweifeln, Argumente mit Fragen, der Wille zur Verteidigung seiner Position im Unternehmen mit der Furcht vor der Erfolglosigkeit. Er konnte niemand mehr fragen. Es war einsam, wenn zu entscheiden war!
Chan sah hinaus in den verlöschenden Abend und in Gedanken ging er noch einmal den gesamten Weg, den das vorgeschlagene Projekt bisher genommen hatte, und wog alle Argumente noch einmal ab.
“WEEKLY” hatte sich schnell zu einem Signal mit einer festen Bedeutung entwickelt.
Ihr dritter Name 'Moot' bedeutet 'die Energische'. Lian-Moot konnte sehr nachdrücklich sein. Aber ohne Überzeugungskraft war Nachdruck nur halb so wirksam. Lian-Moot hatte die Mitglieder des Direktoriums schnell überzeugt: Willst du etwas Wichtiges mitteilen, wecke zunächst die Aufmerksamkeit! Und ihre Aufmerksamkeit war das wichtigste Transportmittel auf dem Weg von und zu Chan, dem Leitenden Direktor: Djin Lian-Moot war Direktorin der Abteilung Konzernleitung und damit Assistentin von Chan. Was zu Chan auf den Schreibtisch sollte, musste über ihren Schreibtisch. Was Chan den Direktoren mitteilte, ging über ihren Schreibtisch, wurde von ihr mitgehört und protokolliert. Lian-Moot war im positiven Sinne unentbehrlich, sie genoss aus diesem und ein paar anderen Gründen das volle Vertrauen Chans.
Wenn Chan regelmäßig Informationen benötigt oder Mitteilungen ausgibt, macht die Gewohnheit sie unauffällig. Da sie aber wichtig sind, müssen sie auffällig bleiben. Lian-Moot hatte zur Verdeutlichung der regelmäßigen Informationswege Kennwörter entwickelt und sie in einer Direktorenkonferenz vorgestellt. Eines davon war WEEKLY.
WEEKLY war seither die halboffizielle Bezeichnung für die wöchentliche Direktorenkonferenz. Diese fand an jedem Freitag statt, in der Regel um zwei Uhr nachmittags. Hierfür alleine hätte man kein Kennwort gebraucht. Da aber der Ort, auch gelegentlich die Zeit, immer die Themen wechselten, da ein zur Konferenz unvorbereitet erschienener Stellvertretender Direktor seine persönliche Katastrophe erlebte, als Chan ihn enttäuscht und entrüstet über die versäumte Vorbereitung für die Konferenz kurzerhand für immer nach Hause schickte, waren die Einladung, ihre Formulierung und ihr Inhalt eine der wichtigen Informationen. Das die Aufmerksamkeit weckende Signal eines einprägsamen Kennwortes wurde ohne jeden weiteren Einwand sofort übernommen.
Wenn das Programm für WEEKLY einging, elektronisch über den internen Communikator und mit höchster Vordringlichkeit gekennzeichnet, liefen bestimmte, nicht abgesprochene, aber bei allen Direktoren gleiche Prozeduren ab. Man bestätigte sofort die Kenntnis der Mitteilung, nicht nur den Empfang, sondern ausdrücklich, die Einladung bereits gelesen zu haben. Man nahm sofort einen ersten Eindruck auf, immer mit einer entschuldigenden Verneigung zu einem anwesenden Gesprächspartner: Gibt es etwas Besonderes? Man sammelte kurzfristig, was benötigt wurde: aktuelle Informationen, etwas Besonderes aus dem eigenen Gebiet, Mitarbeiter in Bereitschaft für die Zulieferung zusätzlicher Daten, Kontrolle des Termins.
Lian-Moot war zufrieden, aber nur kurze Zeit. Der Vorschlag war positiv aufgenommen worden, von erfahrenen Männern, der Vorschlag einer Frau. Aber Lian-Moot war auch ehrgeizig: Der Vorschlag musste in den täglichen Abläufen und im Bewusstsein der Direktoren unvergesslich verankert werden.
Auch aus diesem Grunde, nicht nur aus kollegialer Verbundenheit, nutzte sie die nächste sich ihr bietende Gelegenheit, um ihre Stärke zu erproben, aber auch, um das Direktorium für sich einzunehmen. Der junge Hiao Noo Sun, Direktor für Sicherheit, erschien zu WEEKLY ohne die notwendigen Unterlagen. Eine bewusst beiläufig gestellte Frage Lian-Moots, Hiao Noo Sun sollte vor ihr sein Gesicht nicht verlieren, wies ihn auf den Mangel hin. Entsetzt ging er in Gedanken noch einmal die letzten Minuten durch: Die Mappe lag nach einem Gespräch mit dem Techniker in der Schaltzentrale für die Aufzuganlage in der zweiundachtzigsten Etage. Entweder ginge er ohne Unterlagen in das Gespräch mit Chan oder er würde seine Unterlagen holen und für den Konferenzbeginn zu spät zurück sein, Chan warten lassen. So oder so würde er seine eigene Zuverlässigkeit infrage stellen, ein Unglück mit unabsehbaren Folgen! Es half nichts, er musste die Unterlagen holen, und zwar wegen der bestehenden Sicherheitsschranken persönlich.
Lian-Moot betrat pünktlich das Penthouse und stellte sich hinter den Stuhl von Noo Sun: Ich habe seine unwesentliche Verspätung zu vertreten! Chan blickte in die Runde, die rechte Augenbraue leicht angehoben, ein Zeichen starker Verwunderung. Er goss sich selbst Quellwasser ein: ein Glas Quellwasser für den Körper. Chan blickte auf die Uhr, ein Kunstwerk aus den Bergen im Süden: ein großer, kunstvoll geschliffener künstlicher Kristall, im Innern die Anzeige als Hologramm, angeregt durch Kraftfelder im Sockel. Noo Sun kam neunzig Sekunden zu spät. Während seiner tiefen Verbeugung schob Lian-Moot den Sessel in seine Kniekehlen: Setz Dich!
Die Konferenz verlief ungestört und konstruktiv. Aber die geheimen Nachrichtenwege im Haus begannen zu flüstern: 'Lian hat Noos Gesicht gewahrt! Lian besänftigt Tiger!' Am folgenden Tag stand eine Orchidee auf Lians Schreibtisch. Niemand wusste, wie sie dorthin gekommen war. Und Chan bat Lian zu einem Gespräch, nicht in sein Büro im Penthouse, beide gingen hinauf ins Observatorium, und die Mitarbeiter in der Direktionsetage wechselten fragende Blicke.
Eine ungewisse Spannung lag in der Luft, als Chan Lian-Moot aufforderte, mit ihm an dem Schreibtisch an der südlichen Seite des Observatoriums Platz zu nehmen. Diesen Platz bevorzugte Chan bei schwierigen Gesprächen am Vormittag: Der ihm gegenübersitzende Gesprächspartner saß im vollen Licht der ihrem Höchststand zustrebenden Sonne, während er selbst mit dem Licht im Rücken einen deutlichen Blick auf sein Gegenüber hatte, um in dessen Gesicht zu lesen. Lian-Moot kannte diese Vorliebe Chans und sie kannte seinen eindringlichen Blick, der auf ihr ruhte. Stets hatte sie das Gefühl, Chan blicke bis in ihre Seele! Das Gespräch würde schwieriger als erwartet werden! Und es fand im Observatorium stattfinden: War eine schicksalhafte Wendung zu erwarten? Hätte er eine Kündigung nicht auch an ihrem Schreibtisch aussprechen können? 'Sie achten mich nicht! Verlassen Sie das Büro!'? Sie ordnete neben der Arbeitsfläche ihre Arbeitsgeräte wie zu einem Routinegespräch: Communikator, Notizblock, Schreibstift.
“Meine Ohren hören: Das Haus ist voller Bewunderung!”, begann Chan.
Lian-Moot sah auf die Maserung in der Oberfläche des Tisches. Das Licht der Sonne ließ ihre schwarzen Haare leuchten. Mit einem leichten Erstaunen bemerkte Chan, dass die schmalen Augenbrauen in einer schwachen bläulichen Tönung schimmerten. Sie hoben als Kontrast die Farbe der Kirschblüte hervor, in der die Augenlider und die Hügel der Wangen dezent getönt waren. Ein hübsches Gesicht, eine schlanke Figur, in schlichter Eleganz gekleidet.
Chan ließ den Gedanken zu, ob es taktisch klüger gewesen wäre, Lian-Moot nicht in das ihr schmeichelnde Licht der vormittäglichen Sonne zu setzen. Er drängte sein erneut aufkeimendes Wohlwollen zurück, Mitarbeiter hatten angenehm zu sein, möglichst auch in ihrem Anblick, aber sie hatten in erster Linie ihre Aufgaben zu erfüllen und die Vorgesetzten zu respektieren. Attraktivität war besonders in seinem unmittelbaren Umfeld förderlich und erwünscht, aber nur bei Wahrung der gegebenen Ordnung. Bevor Lian-Moot über die Angemessenheit einer Antwort nachdenken konnte, fuhr Chan in strengem Ton fort: “Die Direktoren wissen, wie sie sich zu verhalten haben. Wissen Sie es nicht?”
“Ehrenwerter Herr Chan,”, Lian-Moot sah auf, blickte Chan in die Augen, ertrug seinen strengen Blick, “zu meinen Pflichten, die ich in großer Freude zu erfüllen mich bemühe, gehört es auch, die Zusammenarbeit zu fördern und Störungen zu vermeiden.”
“Und wer war gestern nach Ihrer Meinung der Störer?”, fragte Chan zurück.
War das schon die entscheidende Frage in dem Gespräch? Lian-Moot erlaubte sich ein schwaches Lächeln: “Leider lassen sich nicht alle Störungen vermeiden. Dann müssen die Folgen eingeschränkt werden, um weitere Störungen zu verhindern. Der unglückliche Hiao Noo Sun wird sich das Vorkommnis zu Herzen nehmen.”
“Soll auch ich mir etwas zu Herzen nehmen?”
Lian-Moot fasste Mut: “Ich erlaube mir, daran zu erinnern, dass die Konferenz trotz der Störung in hoher Aufmerksamkeit und voller Konzentration erfolgreich verlief.”
“Nehmen auch Sie sich etwas zu Herzen?”
“Es ist für mich eine große Freude, Ihren Interessen dienen zu dürfen, und ich werde mich mit allen meinen Kräften bemühen, die Harmonie zu fördern.”
Chan erhob sich, trank mit einem langen Blick in die über der Stadt von der Wärme flimmernde Luft einen Schluck klares Wasser, um sich dann, zum ersten Mal in dem Gespräch lächelnd, Lian-Moot zuzuwenden: “Nun, dann wollen wir uns wieder um die Interessen unseres Hauses kümmern!”
'Tigerin!', dachte Chan, als Lian-Moot den Raum verlassen hatte, 'Eine Tigerin!'
WEEKLY Freitag 16. April 2010.
Das war nicht ungewöhnlich, sondern erwartet. Es löste die bekannten drei Aktionen aus.
Die Kenntnis war sofort zu bestätigen. Persönlich mit ID-Code, nicht durch die Sekretärin. Kenntnis und nicht Empfang. Also: sofort lesen, Bestätigung abschicken.
Schan Dong Huu erhob sich von seinem Platz und verneigte sich vor seinem Gesprächspartner. “Mein guter Freund,”, sagte er zu seinem Besucher, “nicht alle Türen haben Riegel!”
“Ja, ein Segen und ein Übel zugleich, mein Lieber!”
“Erlaube mir einen Blick.”
“Die Tage werden von Jahr zu Jahr kürzer. Wir haben unsere Gedanken ausgesprochen. Erwägen wir, was wir erörtert haben.”
Dong brachte seinen Besucher zur Tür, die mit WEEKLY gekennzeichnete Mitteilung fest in der Hand.
Get together 10.00 Uhr Ebene 1 Foyer 3.
Das war ungewöhnlich! Zehn Uhr? Und nicht im Penthouse? Er war Leiter der Abteilung Strategie, konnte sich aber keinen Reim darauf machen. Unmut über die fehlende Information stieg in ihm auf. Hätte Chan seine Pläne nicht wenigstens vorher mit ihm erörtern können? Und außerdem: zehn Uhr! Er rief seine Assistentin: Alle Verpflichtungen ab zehn Uhr verlegen mit Priorität in der folgenden Woche.
Ausstattung: alle grundsätzlichen Informationen.
Dong las die Zeile ein zweites Mal. Unruhe nahm von ihm Besitz. Alle Grundinformationen? Das bedeutete: Etwas Großes kam auf sie zu, und er hatte keine Ahnung von dem Kommenden. Oder hatte er etwas übersehen oder überhört? Er rief schnell die letzten Gespräche mit Chan in der Erinnerung auf, ohne sich an Hinweise zu erinnern. Doch: Chan hatte vor einiger Zeit von der Zukunft gesprochen, von der Suche nach neuen Aufgaben! Aber das war so allgemein gehalten gewesen, dass er noch keine Strategie für die Gespräche entwickelt hatte. Und außerdem: Auch im Kreis der Direktoren hatte man sich noch nicht mit dem Thema befasst. Unwillig wandte er sich wieder der Anweisung in der Einladung zu. Sie bedeutete: Notebook ohnehin, alle Massenspeicher aktualisieren, Duplikate bereitstellen, sein Stellvertreter in Bereitschaft. Er rief erneut seine Assistentin zu sich.
Dauer: bis Sonntag 18. April 2010 18.00 Uhr.
Es machte keinen Sinn, nachzufragen: Ob die Dauer wohl richtig beschrieben sei oder ob sich eine verständliche, aber bedauerliche Verwechslung ergeben habe, ob man sich auf ein pünktliches Ende verlassen könne? Er kannte Lian-Moot genau, und einen Gesichtsverlust wollte er nicht riskieren. Also rief er seine Frau an, was in den letzten Jahren nicht oft der Fall gewesen war. Er sah den leichten Ausdruck der Verwunderung, als sich das Bild auf dem Schirm des Communikators aufbaute.
“Du bist die Freude meiner Seele: die Frage in Deinen Augen!”, begrüßte er sie.
“Alte Bäume knarren im Wind.”, antwortete sie.
Er kannte sie genau, seit über dreißig Jahren erforschte er dieses Gesicht. Das leichte Anheben der Augenbrauen über der Nasenwurzel verriet ihm, dass sie sich freute. “Ich bin traurig, Dir mitteilen zu müssen, dass ...”. Er informierte sie über die Dauer der zusätzlichen dienstlichen Abwesenheit. Viel Zeit hätten sie ohnehin an diesem Wochenende nicht füreinander gehabt. Aber er musste ihr auch für den geringen Verzicht auf seine Anwesenheit etwas zurückgeben: ein Abendessen, ein Besuch im Alten Tanztheater. Seine Assistentin würde das Notwendige veranlassen.
“Und Du hast keine Vorstellung von den Gründen für diese ungewöhnliche Veranstaltung?”
“Nun,”, antwortete Dong seiner Frau, “wir haben kürzlich über die Notwendigkeit neuer Projekte zur Gestaltung der Zukunft gesprochen, ohne uns auf Absichten zu verständigen. Ich denke, dass dieses Thema zu erörtern sein wird.”
“Nun, mein großer Stratege, dann lass Dir bis dahin etwas einfallen!”
Dong ärgerte sich über die Kritik seiner Frau, wollte aber nicht mit ihr streiten. Er sah sich erneut die Einladung an.
Empfehlung: leichte sportliche Kleidung
Zum Glück war keine sportliche Ausrüstung empfohlen worden. Kein Meeting mit Bogenschießen wie vor zwei Jahren oder noch anstrengenderen Aktivitäten.
Erklärung:
Die Zahl Vier, 'sì', ist eine Unglückszahl.
Sie klingt lautlich ähnlich wie das gleich geschriebene, aber anders betonte Wort 'sí', das so viel wie 'sterben' bedeutet.
Deshalb ist die Zahl Vier, 'sì', zwar vorhanden, aber nicht zu verwenden.
Die Vorbereitungen brachten Vermutungen und Gerüchte, auch wenn außer Chan nur zehn Personen unmittelbar betroffen waren.
Betroffen waren auch zehn Stellvertreter. Jeder der Direktoren stellte sich darauf ein, nicht alle zweckdienlichen Informationen mitnehmen zu können und deshalb Nachlieferung organisieren zu müssen. Die stellvertretenden Direktoren hatten während der gesamten Dauer des Workshops jederzeit erreichbar zu sein. Alle Datenbanken würden zugänglich, aber geschützt bleiben. Kommunikationswege waren vorzubereiten, Sicherheitsschranken anzupassen.
Die Abteilung Konzernleitung hatte das Meeting zu organisieren. Da Chan angeordnet hatte, dass Einzelheiten nicht vorzeitig bekannt werden dürfen, kümmerte Lian-Moot sich, zum großen Unwillen ihrer sonst freundlichen Assistentin, um die entscheidenden Dinge selbst, und das nicht erst in der letzten Woche nach der Bekanntgabe der Einladung. Transportfragen waren zu klären, der gewünschte Veranstaltungsort und terminliche Zwänge mussten abgewogen werden, über die Bedingungen der Unterbringung und das Rahmenprogramm waren nach vielen Gesprächen Vereinbarungen zu treffen.
Lian-Moot liebte solche Aufgaben. Hier konnte sie sich beweisen: Umsicht, Zuverlässigkeit, Liebe zum Detail, eine besondere Aufmerksamkeit für den Leitenden Direktor oder das Direktorium. In ihrer Konzentration auf die zu regelnden vielfältigen Fragen achtete sie nicht auf die Verstimmung ihrer Assistentin. Warum auch? Mae war stets freundlich, sehr aufmerksam und eifrig. Erst wesentlich später wurde Lian-Moot bewusst, dass in diesen Tagen zum ersten Mal erkennbar wurde, dass Mae nicht mit der notwendigen Zuverlässigkeit ihre Aufgaben wahrnahm. Aber Mae verbarg bald wieder geschickt ihren Widerspruch hinter der gewohnten Freundlichkeit, sodass Lian-Moot sich weiter unbeeindruckt um das Meeting kümmerte.
Meetings dieser Art waren nicht nur Arbeit. Wenn Chan diesen Aufwand betrieb, steckte mehr dahinter: Es ging um die Zukunft. Wenn ein großzügiger Rahmen zur Verfügung stand, konnte man auch mehr einplanen: den Teamgeist pflegen, Blessuren ausheilen, Massagen für Körper und Seele. Alle konnten voneinander lernen, es gab immer Neues.
Alle Informationen mussten präsent sein: Eine leistungsfähige Standleitung über Satelliten zur Hauptverwaltung wurde gemietet und geschaltet. Wie war die Netzkonstruktion am Konferenzort? Konnte man Einzelzimmer, Konferenzräume und Freizeiträume zusammenschalten? Welches Zubehör war am Konferenzort vorhanden, was war zu speziell und musste mitgebracht werden? Tee-Zeremonie, Dampfbad und Massagen, waren Geishas erreichbar, welcher Sport wo wie lange mit welchem Gerät? “Verehrte Dame! Wenn einer der Herren einen Herzschrittmacher benötigt, übersteigt das die Möglichkeiten meines Hauses. Alles andere werden wir in längstens 15 Minuten organisieren. Sie haben den Prospekt unserer Möglichkeiten. Geben Sie mir die Wünsche Ihres Hauses, um alles andere kümmern wir uns.” Lian-Moot sah in die Augen des Hotelbesitzers und sie war sicher: Er würde sein Gesicht nicht verlieren.
Also entwarf sie den erforderlichen Ablaufplan, mit Fahrt- und Ankunftszeiten, mit Zeiten für Essen, Freizeit und Erholung, mit Zeiten für Sauna und Massagen am Freitag, für gemeinsamen Sport am Samstag und für kreativen Wettbewerb am Sonntag. Chan hörte aufmerksam zu, verlängerte die Arbeitsphasen, veränderte die Anfahrt und plante mehr Zeit für die Rückfahrt ein. Dann lehnte er sich zurück, sah Lian-Moot nachdenklich an und sagte: “Auch kleine Wolken am Horizont wollen bemerkt werden. Sie versprechen nicht, dass auch noch morgen die Sonne scheint!”
Sie kannte Chan schon so lange! Damit hatte er ihr mehr gesagt als allen anderen! Chan sorgte sich um die Zukunft! Sie verneigte sich, etwas tiefer als sonst und verließ den Raum.
Als man sich dann zur Abreise traf, Ebene 1 Foyer 3, hatten die meisten bereits mehrere Stunden an ihrem Schreibtisch verbracht: Reise- und Informationsbedarf zusammenstellen; die aktuelle Entwicklung im verantworteten Aufgabenbereich analysieren, Anordnungen treffen; den nächsten Wochenbeginn vorbereiten; mit dem Stellvertreter die Zwischenzeit und den Informationsfluss absprechen.
Noo hatte eine schlaflose Nacht: Für die Erhaltung der Sicherheit der Daten waren seine Mitarbeiter zuständig, aber was wurde von ihm erwartet auf der bevorstehenden Veranstaltung, die offensichtlich außerhalb des Hauses, für dessen Schutz er sich verbürgte, stattfand? War das eine Prüfung, nachdem er Chan vor längerer Zeit verärgert hatte: uninformiert und trotzdem für alle denkbaren Vorkommnisse gerüstet zu sein?
Seit der Sitzung des Direktoriums, zu der er verspätet erschienen war, war ihm bewusst, dass er nicht wie geboten mit aller Aufmerksamkeit seine Pflichten erfüllte. Seine Begeisterung, bei der Arbeit am Sicherheitskonzept für den Tower 105 gewachsen, erlahmte ohne für ihn erkennbaren Grund. Er fühlte sich verunsichert, nicht mehr von seiner Arbeit gefesselt, oft den Fragen seines privaten Lebens zugewandt.
War es sein geringes Alter, in dem der noch jugendlich ungestüme Drang in die Weite und Freiheit, in Abenteuer und Erleben seine Konzentration auf die
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Alle Rechte bleiben bei dem Autor
Tag der Veröffentlichung: 17.12.2011
ISBN: 978-3-7368-0130-1
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Als Ermutigung denen gewidmet, die es noch nicht wagen, zu beginnen!