Koggi saß auf der kalten Treppe, um für den nächsten Anstieg Kraft zu sammeln. Die Treppe aus roh gebrochenem Naturstein führte von der Straße, von dem Gehweg hinab über die Ufermauer, über den Treidelpfad bis zum Wasser.
'Training muss die letzten Muskelfasern erreichen,' sagte er oft, 'sonst bringt es keinen Fortschritt!' Er nahm das ernst. Er hatte sich auch heute wieder rangehalten, keine Stunde bis hierher auf der flachen Strecke entlang des Flusses. Jetzt war er auf Betriebstemperatur! Der Rückweg würde durch das Seitental hinauf und über die Ausläufer des Taunus hinweg wieder zurück nach Wiesbaden führen, einige lange Steigungen, die Kraft und Ausdauer fordern würden! Das war seine zweite Trainingsfahrt in dieser Woche und er brauchte das! Er wollte und musste fit bleiben!
Koggi sah in seiner Sportkleidung wie ein Profisportler aus, auch wenn er das nicht war. Na und? Er würde mit denen mithalten können, davon war er überzeugt, er war gut in Form. Und außerdem hatte die Ausrüstung ja auch eine Menge Geld gekostet. Zum Glück konnte er sich das jetzt leisten, er lachte in sich hinein.
Er war 30 Jahre alt, sportlich schlank ohne übertriebene Muskelpakete, nein, er fand, das wäre unästhetisch, unansehnlich gewesen. Aber er pflegte seine Kraft, seine Ausdauer und sein Aussehen. 'Ein gesunder Geist erfordert einen gesunden Körper!' drehte er das Sprichwort für sich um. Dass sein Geist gesund war wusste er. Für seinen Körper konnte er sorgen, dessen Belastbarkeit steigern, sowohl seine sportlichen Leistungen als auch die Blicke der Frauen sagten ihm, dass er gut in Form war. Und Häs'chen, seine Freundin, wirkte auch nicht unzufrieden. Er ging wöchentlich einmal in die Sauna, das tat seiner Haut gut, und kleidete sich sportlich elegant. Er pflegte sein Haar, trug es kurz, wollte es ursprünglich schwarz färben, bis eine junge Frau, die er in der Mensa kennenlernte, an deren Namen er sich aber schon lange nicht mehr erinnerte, ihn anhimmelte: "Toll siehst Du aus! Wie Dolf Lundgreen in dem Film neulich, wie hieß der doch gleich noch?" Den Titel des Filmes hat er nie erfahren, aber er nannte seine Haarfarbe danach nicht mehr abwertend in Kritik an sich selbst 'ferkelblond', sondern 'lichtblond'. Und er wechselte sein Rasierwasser: ein frühlingshaft frischer Duft nach Maiglöckchen und jungen Bambus-Trieben begleitete ihn künftig.
Oft kamen ihm gute Ideen in den Sinn, Lösungen für Probleme, Antworten auf Fragen, wenn er den Körper arbeiten ließ und der Kopf durch die Konzentration auf die Bewegung und das Fahren frei wurde. Niemand glaubte ihm das: nicht immer, aber manchmal tat sich plötzlich ein Blick auf und er konnte mit den neuen Überlegungen wirklich etwas anfangen! Aber heute war nicht so ein Tag, er wartete noch vergebens auf den erhofften Geistesblitz.
Er hatte eine schnelle Fahrt hinter sich. Die Straßen, besonders in den kleinen Orten entlang des Flusses, waren eng und viele Autofahrer hupten unwillig, wenn sie wegen des Fahrradfahrers, "Dieser Spinner!", bremsen mussten, um sich mit dem Gegenverkehr zu arrangieren. Manchmal winkte Koggi dann übertrieben freundlich zurück, in der Überzeugung, dass der Autofahrer sich dann erst recht ärgern würde! Heute hatte er versucht, sich der Geschwindigkeit der Autos anzupassen. Ein LKW mit seinem Windschatten, ein Linienbus. Aber vor der Fahrt hinauf durch das Seitental legte er eine Pause ein: Mineralwasser, eine Banane, vorher die Hände im Rheinwasser kühlen.
Sein Fahrrad, eine Rennmaschine, auf die er stolz war, hatte er sorgfältig auf dem schmalen Gehweg abgestellt. Jetzt saß er auf der steinernen Treppe, sah den Schiffen auf dem Fluss zu und grübelte:
Jemand hatte sich am Telefon gemeldet: 'Ja!' Sonst nichts, nur dieses kurze 'Ja!'.
Eine andere fremde Stimme antwortete: 'Zezwo. Besuch kommt!'
'Wo?'
Die zweite Stimme wieder: 'Oma's Geburtstag!'
'Un wann?'
'Donnerstag!'
'Is gut.'
Knacken im Kopfhörer, damit war das Gespräch beendet.
Koggi konnte sich das abgehörte Gespräch nicht erklären. Und das ließ ihm keine Ruhe!
Sollte er mehr verlangen? Wäre das für ihn bequemer? Oder zumindest sicherer? Ein fester Job? Irgendwo? Aber Fritz, sein Kumpel seit Kindertagen und immer mit einem gut gemeinten Rat vornweg, Fritz war auch wieder arbeitslos.
Neulich hatte der noch zu ihm gesagt: „Du bist blöd!“ hatte der gesagt, „Warum gehst Du nich arbeiten? Ich meine so richtich, fest, jeden Tach! So wie ich!“
Und jetzt war er seinen Job los, gekündigt, ‚wegen Produktionsverlagerung’, wie sie ihm gesagt hatten. Und was hatte er jetzt von seinem festen Job? Nichts! Jetzt war plötzlich nichts mehr fest!
Nee, da war er doch schlauer. Er fuhr Taxi. Ein paar Tage oder Nächte in der Woche. Als Aushilfsfahrer. Und wenn der Chef ihm nicht mehr passte, dann ging er zu einem anderen. Die suchten doch ständig ordentliche Fahrer, alle Taxiunternehmer, waren froh, wenn sie keine Ausländer einstellen mussten, die erschreckten doch nur die Fahrgäste und verdarben so das Geschäft: „Wo Du wollen hin, äiihh?“
Und nicht als fest eingestellter Fahrer, nee! Mal ein paar Tage ‚schwarz’ fahren, wenn man gerade Lust darauf hatte oder Geld brauchte, mal einen Euro abzweigen, und zu Hause bleiben, wenn der Tag anders gebraucht wurde. Und wenn er in seiner Freizeit einen der in letzter Zeit immer häufiger über das besondere Handy kommenden Sonderaufträge erhielt, mit denen er jedes Mal mehr verdiente als mit einer ganzen Woche Arbeit, dann ging er eben zur Firma, bot dem Chef an, eine Sonderschicht zu fahren, ein freier Wagen stand bisher immer auf dem Platz! So behielt er seine Unabhängigkeit und verdiente doch eine ganze Menge Geld.
Das war der reine Zufall gewesen, mit dem Fahrgast, der nach Duisburg wollte. Er hatte schon das Gefühl, unterwegs beobachtet zu werden! Dann kamen sie auf der langen Fahrt in’s Gespräch.
Er fahre so sicher, ob er Berufskraftfahrer sei?
Nein, das mache er nur, weil er gerne Auto fahre, aber nur ein paar Tage in der Woche.
Ob er denn davon leben könne?
Naja, ein eigenes Taxi könne er sich davon nicht kaufen, aber er könne sich hier und da noch etwas dazu verdienen, er brauche nicht so viel und bleibe lieber ein freier Mann.
Ob er denn noch Zeit für gelegentliche Aufträge übrig habe, so im Durchschnitt einmal die Woche, man suche einen sehr zuverlässigen Fahrer, das würde auch gut bezahlt?
Kommt drauf an, hatte er gesagt, kommt ganz drauf an, wasses is.
Naja, was so gerade komme: mal etwas abholen, mal etwas zustellen, nur absolute Zuverlässigkeit werde erwartet, absolute Zuverlässigkeit, und Diskretion!
„Ach“, hatte er gesagt, „wenn Sie wüssten, was ich manchmal in meinem Taxi zu hören oder zu sehen bekomme! Da is alles dabei. Aber von mir erfährt keiner was. Ich kann schweigen wie ein Grab!“
Sie schwiegen eine Zeit lang. Der Verkehr um Köln herum war dicht, Hannes musste sich auf das Fahren konzentrieren.
„Was verdient man dann bei Ihnen? Wenn ich fahren soll, muss das Taxi bezahlt werden. Und was springt für mich dabei raus?“
Der Fahrgast tat so, als lese er in seinen Akten.
„Geben Sie mir Ihre Telefonnummer, wir rufen Sie in den nächsten Tagen an.“
Hannes war enttäuscht, wurde einsilbig. ‚Wieder so ein Schwätzer, der wollte wohl nur nett sein.’ Dachte er, bis er am Ziel, vor einem Hotel in der Nähe des Rhein-Hafens, Fahrpreis und ein großzügiges Trinkgeld kassierte.
Der Anruf kam nach wenigen Tagen, dann immer häufiger: Am Frankfurt-Airport einen Koffer abholen und nach Trier fahren. Einen Blumenstrauß kaufen und bei einer bestimmten Adresse abliefern „… mit ergebenen Grüßen und den besten Wünschen für eine erfolgreiche Kooperation mit der ‚Gesellschaft’! Aber wortwörtlich, das ist wichtig, kein Wort vergessen, und das Wort ‚Gesellschaft’ sorgfältig betonen! Wiederholen Sie das ganze zur Sicherheit noch einmal.“
Die Aufträge waren schon manchmal etwas seltsam, aber er verdiente mit jeder Fahrt mehr als mit einer ganzen Woche Taxifahren, und das ohne zweite Lohnsteuerkarte, bar auf die Hand, schwarz!
Dann war der Fahrgast, der ihm den Job besorgt hatte, wieder aufgetaucht. Hannes hatte in der Schlossstraße in der Reihe mit anderen Taxen gewartet. Ohne Anmeldung über die Funkzentrale saß er plötzlich im Auto. „Hallo, wie geht es Ihnen?“
„Oh, hallo, danke, gut!“ brachte er überrascht heraus, um dann zu warnen: „Ich darf noch nicht fahren. Ich bin noch nicht an der Reihe!“
Der Fahrgast lehnte sich bequem in den Polstern zurück: „Dann plaudern wir, bis Sie an der Reihe sind. Ich fahre nur mit Ihnen.“
Und dann kam man sofort auf die Einsatzfahrten zu sprechen. Das laufe ja ganz gut, sage man in der Zentrale, ob er auch zufrieden sei.
„Ja“, sagte Hannes, „das passte jedes Mal, bisher konnte ich immer mit einem Taxi der Firma fahren. Ich habe ja kein eigenes Auto.“
Ob er denn auch mit der Bezahlung zufrieden sei.
„Das ist schon prima,“ Hannes wollte nicht zu begeistert klingen, sonst würden die ihm wohl noch den Lohn kürzen, „wenn das ein Jahr so weiter geht, kaufe ich mir selbst ein Auto!“
Das war einer seiner großen Wünsche, an den er manchmal gedacht hatte, ihn aber jedes Mal wieder sich selbst verweigerte, seine Unabhängigkeit war ihm bisher wichtiger. Er wohnte in einer Stadt. Er konnte mit dem Bus fahren, größere Strecken mit der Eisenbahn, mit dem Schiff auf dem Rhein. Ein Auto wäre schön, aber nicht so wichtig wie seine Freiheit. Die anderen kauften ihre Autos auf Kredit, und wenn sie sie zu Schrott fuhren, hatten sie die Schulden am Bein. Nein, er würde, wenn er sich einmal ein eigenes Auto kaufen sollte, das Auto bar bezahlen. Seine Freundin nörgelte zwar immer, wenn sie mit ihren Einkäufen in einen überfüllten Bus einsteigen musste. Komisch, dass die Frauen nur Männer mit Autos haben wollen. Aber für Biggi würde er das schon eher tun wollen, ja, für Biggi schon!
„Da gibt es ein Problem, hat mir die Zentrale gesagt!“
Hannes erschrak, schreckte aus seinen Gedanken hoch: ‚Macht der jetzt meinen Traum kaputt?’ „Was für ein Problem?“
„Die Zentrale kann Sie nicht immer erreichen. Anscheinend fahren Sie mit Ihrem Handy oft in einem Funkloch, hier im engen Rhein-Tal. Wir brauchen Sie aber viel öfter! Deshalb habe ich Ihnen ein leistungsfähigeres Handy mitgebracht.“
Ach so, Hannes fiel ein Stein vom Herzen, er hatte schon an sonst was Schlimmes gedacht. Er bekam ein tolles Handy, neuestes Modell.
Aber, und das dämpfte seine Begeisterung etwas: „Immer am Mann und auf Empfang lassen. Nur benutzen, wenn Sie angerufen werden. Nicht selbst irgendwo anrufen, keine Privatgespräche. Keine Nummern und Adressen speichern. Keine Videos und SMS an die Freunde. Das ist sehr wichtig! Private Nutzung stört die geschäftliche Einbindung des Gerätes!“
Alles vernetzt, Fernabfragen und Statusberichte, automatische Verarbeitung aller Aufträge und Daten im zentralen Rechner, er konnte sich das alles gut vorstellen, so war das wahrscheinlich in einem modernen Unternehmen, musste ja wohl so sein. „Is gut!“ resignierte er. „Und wenn ich Sie mal erreichen will? Kriege ich Ihre Nummer? Wie heißen Sie eigentlich?“
Der Fahrgast lächelte: „Wenn ich Sie erreichen muss, sagt mir die Zentrale, wo ich Sie finde. Das genügt. Und jetzt fahren Sie mich zum Bahnhof!“
Hätte Hannes damals nachdenklicher werden sollen? Das waren schon eigenartige Regeln. ‚Und kein Wort zuviel reden! Kein Gequatsche!’ hatte der, dessen Namen er bisher noch nicht kannte, ihm eingeschärft. Aber was soll’s, hatte er sich damals gesagt, Hauptsache ist, dass es saftig Kohle gibt. Und Biggi, seine Freundin, war viel liebevoller geworden, weil er auch mal mit Blumen kam, auch mal ein Geschenk mitbrachte. Geld war wohl doch wichtiger, als er sich früher hatte eingestehen wollen. Naja, wenn man keines hat und zur Sparsamkeit gezwungen ist, dann muss man sich das ja auch selber schön reden. Aber jetzt, mit mehr Geld in der Tasche, das hatte schon so seine spürbaren Vorteile. Aber er wollte ja auf ein Auto sparen! Naja, wenn er weiter regelmäßig so gut dazu verdienen würde, könnte er das Auto auch früher kaufen und monatliche Raten bezahlen.
Hannes stand am ‚Deutschen Eck’, an der Einmündung der Mosel in den Rhein, hinter dem Kaiser-Denkmal auf der Mosel-Seite, und wartete auf eine Rückfahrt in die Stadt. Früher wäre er auf Risiko leer in die Stadt zurück gefahren, in der Hoffnung, dort oder auf der Fahrt dahin schneller einen zahlenden Fahrgast zu finden. Jetzt kam es ihm auf ein paar Euro mehr oder weniger nicht mehr an. Er war drittes Fahrzeug am Stand und genoss die Ruhepause. Die zusätzlichen Aufträge gingen ihm durch den Kopf. Sein Chef war mit ihm zufrieden, denn er brachte oft mehr Geld nach seiner Schicht mit als die anderen Fahrer. Und es gefiel ihm, dass sein Sparkonto sichtbar anwuchs. Vielleicht sollte er sich nicht einen PKW, sondern gleich ein eigenes Taxi kaufen!
Inzwischen war ihm natürlich immer mehr bewusst geworden, dass die Aufträge, die er über das besondere Handy bekam, nicht ganz in Ordnung sein konnten. Er solle immer vorsichtig und unauffällig sein, keine Polizeikontrolle, keine Registrierung in einer Radarfalle wegen überhöhter Geschwindigkeit. Die zu transportierenden Pakete, aber auch die Fahrgäste und die Ziele gaben ihm oft Rätsel auf. Er fragte nicht, aber er machte sich doch so seine Gedanken, die sich nur beruhigen ließen, wenn er an das verdiente Geld und an den Traum vom eigenen Auto, vielleicht sogar von einem eigenen Taxi dachte.
Er genoss die Ruhepause, die Wärme der Sonne bei offenem Fenster, die Musik, die durch das Quaken des Sprechfunks immer wieder unterbrochen wurde. Sein Handy, sein Spezial-Handy, meldete in seiner Hemd-Tasche den Eingang eines Anrufes, stumm geschaltet wegen der Vertraulichkeit, mit Vibrationsalarm. Er schloss die Fenster und meldete sich mit einem kurzen „Ja!“
„C 2. Besuch kommt!“ Die ihm schon vertraute Stimme.
„Wo?“ fragte er zurück.
„Am Ausblick!“
Aha, diesmal dort. Der ‚Ausblick’ war ein Autobahnparkplatz an der Nordseite der Moselbrücke mit dieser grandiosen Aussicht ins Tal, deshalb immer von vielen Ausflüglern besucht. „Un wann?“
„Ab jetzt in 45 Minuten!“
„Is gut.“
Er blickte auf die Uhr. Er würde sich beeilen müssen. Um diese Zeit gab es immer Staus im Bereich der Mosel-Bücken.
Man hatte Hannes drei Plätze gezeigt, ganz unauffällig, und hatte sich über die Bezeichnungen für die Plätze geeinigt.
Bei der Erinnerung wurde Hannes fast zornig: ‚Man’ hatte er gedacht! Wer ist ‚Man’? Warum nannte der, der ihm den Job besorgt hatte, ihm nicht seinen Namen? Er konnte doch nicht immer in seinen Gedanken „der Mann“ denken, oder „Er“. Er konnte ihn auch nicht „der Große“ nennen, zwar war er groß, Hannes schätzte ihn auf eins achtzig, aber es gab viele Männer mit dieser Größe. Im übrigen war er unauffällig, einfach gekleidet, kein Goldkettchen, keine Nobel-Uhr, einfach nichts, was ausgereicht hätte, ihn mit einem Spitznamen zu beschreiben. Hannes brauchte aber einen Namen für den Mann, um seine Gedanken über ihn zu ordnen, ihn in seinen Gedanken benennen zu können. ‚Der wo mir den Job besorgt hat’, sinnierte er. ‚Derwo. Liebevoller: Derwie! Ja! Das isses! Ich nenne ihn Derwie!’ Hannes grinste zufrieden vor sich hin.
Derwie war kürzlich mit ihm hinaus gefahren. Wie zufällig hielten sie auf dem Parkplatz vor der Moselbrücke und Hannes glaubte, die wunderschöne Aussicht dem Fremden erklären zu müssen.
Derwie hörte lächelnd zu: „Manchmal“, sagte er freundlich, „manchmal müssen wir Ware von einem Kurier abholen. Wir nennen den Platz ganz rechts am Gitter ‚Ausblick’. Wenn die Zentrale Dich zum ‚Ausblick’ schickt, stellst Du Dich genau an diesen Platz, bis Du von jemand angesprochen wirst.“
Das klang rätselhaft, geheimnisvoll, war aber eindeutig und verständlich.
Sie fuhren weiter. Hannes erzählte von sich, von seiner Familie. Seinen Vater kannte er kaum. Seine Mutter musste arbeiten, um das nötige Geld für die Familie heranzuschaffen. Er war die meiste Zeit bei seiner Großmutter aufgewachsen. „Die wird 73, nächsten Monat, Mitte Mai!“ berichtete er. Derwie lächelte still vor sich hin. Er verließ die Autobahn und fuhr zum Rhein hinab.
‚Koggi’ war natürlich nicht sein richtiger Name. Er hatte sich fast maßlos geärgert, energisch geschimpft und sich gewehrt und lange gebraucht, um den Spitznamen schließlich doch zu akzeptieren, aber die Studienfreunde ließen ihm einfach keine Ruhe. Das blöde Volk hatte sich wohl darauf verabredet! Wenn er protestierte, wurde nur gelacht. Also entschloss er sich, den Namen als das kleinere Übel hinzunehmen.
Es war in seinem dritten Semester. Sie hatten Pause zwischen zwei Vorlesungen. Die anderen Studenten standen mit Pierre zusammen, einem Franzosen, der als Gast neu in das Semester eingestiegen war. Man erklärte sich gegenseitig die Welt: wie das Leben an der Uni läuft, wie es dagegen an der Sorbonne zugeht, wo man sich abends in Mainz meistens trifft, um die Erkenntnisse des Tages zu vertiefen.
Plötzlich drehte Pierre sich um, zu der weiten Rasenfläche, auf der einer der Studenten flanierte, in einer Hand einen ‚Hamburger’, in der anderen Hand ein aufgeschlagenes Buch, den Blick tief zwischen die Seiten versenkt, und fragte: „Qui est ce coq?“
Ce Coq? Alle Blicke folgten dem Hinweis und brüllendes Gelächter kam auf. Natürlich, ‚le Coq’, das konnte doch nur Einer sein. „Hey, Du Hahn, komm zu uns!“
Das brüllende Lachen wollte nicht enden, vereinzelt klang Gackern wie das eines Huhnes auf.
Er hieß Franz Hilger. Als er die Unterlagen für die Bewerbung um einen Studienplatz zusammenstellte, fand er in den Unterlagen seiner Mutter seinen Taufschein. Dort, aber nicht in seinem Personalausweis, waren für die Taufpaten als weitere Vornamen ‚Dieter’ und ‚Gustav’ eingetragen. Das war noch peinlicher, er mochte seinen vollen Namen gar nicht aussprechen: ‚Franz Dieter Gustav Hilger’! Aber als er seine ersten Visitenkarten in Auftrag gab, fand er daran doch noch Gefallen: er fügte die Namen als Abkürzung ein: Franz D. G. Hilger. Das zeigte doch etwas her!
Franz versuchte als Kind, seiner Mutter zu gefallen, zumal sein Vater wenig Zeit und wenig Verständnis für das heranwachsende Kind hatte. Sie konnte sich, sprach sie mit Freundinnen oder Nachbarinnen, nicht im geringsten erinnern, Franz jemals aufsässig erlebt zu haben. Hatte er doch bereits früh festgestellt, dass sie ihn zum Dank für wohlgefälliges Benehmen mit Liebe und Anerkennung überhäufte.
Dann kam das zweite Kind, ein Mädchen, und die Mutter wandte ihre Fürsorge, der Vater seine Gleichgültigkeit nun fast ausschließlich der Kleinen zu. "Das musst Du doch verstehen,“ sagte seine Mutter, „Du bist doch schon so groß und ein Junge und sie ist ein kleines Mädchen“
Als ob das Grund genug gewesen wäre, ihn kaum noch zu beachten! Er wurde noch bemühter und fing an, Anerkennung außerhalb der Familie zu suchen: in der Schule und bei den Lehrern, bei einer älteren Dame in der Nachbarschaft, für die er regelmäßig Botengänge erledigte. Und immer erwartete er auch eine Belohnung. Schließlich begann er, seinen Einsatz zu kalkulieren: wie nett oder fleißig muss ich sein, um dieses oder jenes zu bekommen? Er wurde berechnend, ja: sogar etwas arrogant. Er hatte kaum Freunde und besonders die Mädchen hatten es schwer, seine Anerkennung, seine Freundschaft, auch nur seine Duldung zu finden.
Die Schule verließ er mit einer guten Abiturnote. Schließlich hatte er bereits früh gelernt, so viel Arbeit aufzuwenden, wie der erwartete Erfolg erforderte. Dass er studieren würde war seit Jahren in der Familie abgesprochen. Sein Vater drängte ihn zu Jura. Als Syndikus in einem großen Unternehmen könne er viel Geld verdienen, als Rechtsanwalt hätte man in der streitlustigen Gesellschaft einträgliche Arbeit und wenn er es sich noch bequemer mache und nur Richter werde, habe er keine auf ihm lastende Verantwortung, denn entweder werde ein Urteil akzeptiert oder eine Partei ginge in die Berufung und dann hätten eben andere Richter den Fall am Hals.
Der Vater war Kaufmann mit einem kleinen Laden in der Vorstadt, dort, wo die Ebene des Main-Tales begann, zu den sanften Hängen des Taunus anzusteigen. „Herrenausstatter“ umschrieb er sein Sortiment, von der Unterhose („Man sagt heute Pants! Men-Pants!“ „Aber es bleiben doch Unterhosen!") bis zum Wintermantel, dazu Accessoires, Manschettenknöpfe, keine billigen, Rasierwasser, Taschenuhren, aber „alles exklusiv“, also die Dinge, von denen man wohlhabende und gelangweilte Damen, und davon gab es in der Vorstadt viele, überzeugen konnte, sie ihren arbeitsamen oder aus anderen Gründen aushäusigen Männern zu schenken.
Das Geschäft ging nicht sehr gut. Wenn Franz sich später in Gedanken zurückversetzte, dann erinnerte er sich nur an einen nörgelnden und schimpfenden Vater: habe doch Frau A. den Laden verlassen, ohne etwas zu kaufen, nur weil er mit dem Wareneingang beschäftigt war und nicht für sie sofort gesprungen sei; Frau B. habe schon wieder auf Rechnung gekauft, dabei sei die letzte Rechnung noch nicht bezahlt, aber man müsse ja freundlich sein zu so einer Schnepfe, und das bei dem bisschen Umsatz; was er wohl von diesem dümmlichen Rechtsanwalt habe, den Prozess zwar gewonnen, aber trotzdem keine Zahlungen des Schuldners und obendrein eine dicke Rechnung des Anwaltes, dieses Faulpelzes, der es einfach nicht schaffe, das Geld reinzuholen!
Seine Mutter drängte ihn, auf den Vater zu hören, er habe doch meistens Recht behalten und meine es doch gut mit dem Sohn. Nein, dachte Franz, wenn etwas für ihn feststehe, dann dieses: auf den Rat des Vaters werde er nicht hören!
Während der Studienberatung wurde Franz auf einen Vortrag aufmerksam, unter dem sich niemand etwas vorstellen konnte. Das interessierte ihn. Ein Professor Henning sprach über „Informations-Management“, einen neu eingerichteten Studiengang. Boden, Kapital, Arbeit und Know how als Produktionsfaktoren träten zunehmend in den Hintergrund. Information sei der Faktor der Zukunft. Nur wenn man wisse, was man noch nicht weiß, könne man marktgerecht und kostengünstig produzieren und absetzen. Deshalb sei die Beschaffung und Strukturierung von Informationen, ihre Verwaltung und die gezielte Eingabe in den volkswirtschaftlichen Produktionsprozess die entscheidende Aufgabe in naher Zukunft.
Dieses Spiel ‚Ich weiß etwas was Du nicht weißt!’ machte Franz neugierig, es entsprach dem Bild, das er von sich hatte, wie er sich besonders in der Zukunft sehen wollte: etwas Besonderes, Ungewöhnliches machen, die Fäden in der Hand halten, wichtig sein, ohne dass ein Außenstehender den Wert oder die Wichtigkeit würde überprüfen können. In Gedanken gründete er einen Informations-Pool, der alle erreichbaren Daten sammeln und für viel Geld denjenigen verkaufen würde, die schlau genug waren, sich von deren Notwendigkeit überzeugen zu lassen.
Er bekam den beantragten Studienplatz und versuchte, seinen Vater von der Wichtigkeit unbekannter Informationen zu überzeugen, was ihm aber nicht gelang („Nach dreißig Jahren am Kunden fühle ich, was der Kunde braucht! Da brauche ich keine Informationen von Übergescheiten!“). Es regte ihn aber auch nicht sonderlich auf, er dachte lediglich: ‚Der Alte ist halt so, uneinsichtig, blind, eingebildet; seiner Meinung nach ist die Jugend ohnehin immer schlauer als die Alten; die Hauptsache wird sein, dass sein Scheck pünktlich kommt.’
Zwar begann das Studium zunächst sehr holprig, fast langweilig, sie waren ja das erste Semester, das den Vorlesungen Professor Henning’s zu diesem Thema folgte. Auch waren die Thesen am Anfang noch vage, weil die Notwendigkeit der Sammlung von Informationen stark betont wurde, die Art ihrer Beschaffung aber auf später zurückgestellt wurde und ihr Inhalt überhaupt nicht angesprochen wurde.
Trotzdem wuchsen bei Franz schnell das Interesse und der Eifer, sich mit allem vertraut zu machen. Er studierte alle verfügbaren Fachbücher. In der Akademischen Buchhandlung in der Taunus-Allee gab es eine junge, freundliche Buchhändlerin, die sich unendlich viel Mühe gab, ihn bei der Suche nach Fachliteratur zu unterstützen, so dass er immer gut ausgerüstet war. Und wenn die anderen Studenten in den Vorlesungspausen in die Stadt fuhren („Komm, einen Espresso bei Dino!), sich ihre Abenteuer vom Vorabend erzählten oder für neue Abenteuer Verabredungen trafen, dann saß Franz irgendwo am Rande und las.
„Komm’!“, rief Heiner, der glaubte, Franz’ bester Freund zu sein, „Lesen beim Essen ist ungesund!“ Franz winkte wortlos ab.
Brüllendes Gelächter drang über den Rasen bis zu ihm, gackern, als sei jemand ein Huhn! Er sah unwillig hinüber: natürlich die Leute aus seinem Semester, oberflächliche Geister, und in der Vorlesung wissen sie wieder nicht, worum es geht.
„Hey, Du Hahn, komm zu uns!“ rief einer aus der Gruppe und alle lachten erneut.
Er ging die wenigen Schritte auf die Gruppe zu, unwillig über die Störung. „Meint Ihr mich?“
Heiner zeigte auf Pierre und versuchte, zu erklären: „Weißt Du, was der gefragt hat? ‚Qui est ce coq!’ Ce Coq! Und er meinte Dich, Du bist der Hahn!“
Hatten sich die Umstehenden mit aller Kraft zusammengenommen, um der Erklärung zuzuhören, so lachten sie jetzt wieder los, schlugen sich gegenseitig auf die Schultern vor Vergnügen, gackerten, bewegten die Arme wie Hähne ihre Flügel, und Pierre versuchte verlegen, etwas zu erklären.
Franz wurde blass vor Zorn, diese Frechheit, diese Rücksichtslosigkeit hätte er nie von den Mitstudierenden erwartet! „Und dann lacht Ihr mit dem Bananenfresser über mich, auf meine Kosten?“ schrie er.
Pierre war ein Farbiger, ziemlich dunkel, aber nicht negrid, wahrscheinlich aus der Karibik, aus einer der früheren französischen Kolonien. Das Lachen blieb den meisten im Halse stecken, mit einer derart zornigen Reaktion hatte keiner gerechnet, obwohl alle Franz’ Empfindlichkeit kannten. Und dann noch der üble Ausdruck vom ‚Bananenfresser’, Franz musste wohl tief getroffen sein, so kannte man ihn ja gar nicht! Alle bemühten sich plötzlich, zu beschwichtigen, redeten durcheinander, keiner lachte mehr.
Franz blieb aufgebracht und beschimpfte alle. Bis Heiner, vielleicht war er doch ein Freund und meinte es mit Franz gut, dem Streit ein Ende machte: „Du Franz heißt ab heute Koggi und Pierre heißt Banana und nun ist Schluss!“
„Ioni-Schatzi, geh‘ zu Bett, ich habe noch zu arbeiten“. Marion sah ungeduldig auf seinen Schreibtisch. Franz saß vor Computer, Handy und ein paar anderen technischen Geräten, die er ihr zwar erklärt hatte, deren Bedeutung und Funktionsweise sie aber nicht sonderlich interessierten und die ihr deshalb wieder entfallen waren. „Dauert das denn noch lange?“
Sie hatten sich an der Uni kennengelernt. Während Franz an der mathematischen Fakultät mit dem Schwerpunkt Informationswesen studierte, belegte Marion im medizinischen Zweig Psychologie und Sozialkunde. Sie waren sich, wie viele Paare, in der Mensa begegnet. Die Mensa ist ein beliebter „Heiratsmarkt“. Wo sonst kann man sich so regelmäßig und dabei so unverfänglich begegnen?
Marion hatte sich schnell in Franz verliebt: er war groß, hatte eine sportliche Figur und war oft von einer unnahbaren Verschlossenheit. Wenn man ihn aber kannte, konnte er aufmerksam, fürsorglich und sogar heiter sein. Aber nur bis zu einer gewissen Grenze, wie Marion mit der Zeit fand. Wenn Franz nett war, glaubte sie, er möge sie sehr. War er nicht nett, dann kam sie sich überflüssig und wie zufällig vor, Franz wäre wohl auch mit fast jeder Anderen ähnlich zufrieden gewesen, aber eben nur zufrieden. In den Zeiten zwischen diesen Stimmungen war ihr Verhältnis alltäglich. Man ging seinen Pflichten nach, traf sich, unternahm etwas gemeinsam, trennte sich wieder und jeder ging seines Weges. Dass er sie kaum mit ihrem Namen ansprach, nur mit Kosenamen, die ihm gefielen, mal war sie sein ‚Häs’chen‘, meistens nannte er sie ‚Ioni-Schatzi‘, selbst in Anwesenheit Anderer, gab ihr zu denken: in der Psychologie sprach man dann von Austauschbarkeit, fehlender Bereitschaft zur Bindung an eine Person. Wenn sie das Gelernte richtig verstanden hatte. Sie war sich da nicht ganz sicher, würde lieber das Gegenteil glauben.
Trotz Marion’s Unsicherheit über Franz‘ Gefühle waren sie vor kurzer Zeit zusammengezogen, hatten sich gemeinsam eine Wohnung gemietet. Sie lag am Rande von Wiesbaden, naja: eher in einem Vorort, das wuchs ja alles ineinander und man konnte, fuhr man die Straße entlang, gar nicht mehr unterscheiden, ob das noch Wiesbaden oder schon hinter der Stadtgrenze des Ortsteiles Biebrich ein selbständiger Ort war. Die Wohnung lag in einem älteren Gebäude, Sandstein mit Bruchstein und Putzflächen, einem großen Wohnhaus in der Nähe des Rhein-Ufers. Die Verkehrsanbindung war günstig.
Alles hätte jetzt so viel schöner werden können: die tägliche Gemeinsamkeit, die Vertrautheit, liebevolle Nächte. Und dann saß der Kerl stundenlang, die halbe Nacht, entweder über seinen Büchern oder vor seinen vielen Geräten. „Wie lange dauert das denn heute?“ fragte sie noch einmal nach.
„Ioni-Schatzi, das weiß ich vorher nicht, das habe ich Dir doch erklärt! Geh jetzt schlafen!“
Marion verließ schmollend das Büro, mehr sich selbst bedauernd als zornig über Gegenreaktionen nachdenkend.
Am Anfang des Semesters hatte er mit der Studienleitung diskutiert: wenn die Beschaffung aller erreichbaren Informationen so wichtig sei, müsse man wissen, wie man sie beschaffen könne. Man hatte sich über seinen Eifer gefreut, aber versucht, ihn zu zügeln: das sei ein entscheidend wichtiges, aber technisch schwieriges und rechtlich heikles Thema, weil es die Grenzen der Zulässigkeit berühre, deshalb müsse man sich dieser Frage eingehend widmen, allerdings erst in einem späteren Stadium. Franz hatte sich nicht von dem Thema abdrängen lassen und erreicht, dass ein Abteilungsleiter des MAD über die technischen Möglichkeiten der Informationsbeschaffung und ihre rechtlichen Grenzen referierte. Nun eröffnete sich für Franz eine neue Welt, die ihn faszinierte und er begann, diese „Welt der unbekannten Informationen“, wie er sie beschönigend umschrieb, zu erkunden.
Er liebte es schon bald, ‚auf die Jagd‘ zu gehen. Von Parkbänken aus suchte sein Scanner Frequenzen, auf denen gesprochen wurde, sein Laptop speicherte Rufnummern und verband sein Handy, die Möglichkeit von Konferenzschaltungen ausnutzend, unauffällig mit den Teilnehmern. Er hatte schon vor der Börse, vor dem Landtag und vor dem Polizeipräsidium auf der Lauer gelegen, aber außer Erfahrung und Routine dabei nichts Nennenswertes gewonnen.
Am unterhaltsamsten war es, vor dem Schlosshotel zu lauschen und zu versuchen, das Gehörte realen Personen zuzuordnen. Dabei war er kürzlich in ein Gespräch eingedrungen, das ihm keine Ruhe ließ. Es war schon erstaunlich und er hielt es zunächst für eine Fehlmeldung seiner Geräte, dass ein Handy und nicht das Auto-Telefon benutzt wurde, obwohl der Sprecher auf dem Fahrersitz Platz genommen hatte.
„Hallo Heinz, hier ist Jupp.“
Antwort: „Oh, hallo, alter Freund, ich dachte, Du bist schon weg!“
„Ja, ich sitze schon im Wagen. Mein Geschäftsführer rief an, deshalb der schnelle Aufbruch. Was ich noch sagen wollte: das mit Nanowell, das ist mehr als geheim! Das bleibt unter uns! Versprochen?“
Heinz: „Da würde ich aber gerne mitverdienen!“
„Das darf nicht zerschlagen werden! Wenn das so weit ist, gebe ich Dir einen Tipp. Bis dahin vergiss das!“
„Ok ok Jupp, aber vergiss Du mich in der Zwischenzeit nicht!“
„Ich verlass mich auf Dich, Heinz, verdienen kann man nur, wenn der Deal klappt. Bis dann!“
Dann endete die Verbindung mit einem Knacken. So oft Franz in den nächsten Tagen die Rufnummer des Handys auch abgehört hatte, der Anschluss blieb stumm. Bis an diesem Abend! Er hatte schon gezweifelt, ob derart rätselhafte Informationen überhaupt den Aufwand lohnten. Routinemäßig ließ er die Rufnummer anwählen, hörte eine Zeit lang nichts, plötzlich ein Knacken und Wählimpulse, die sein Computer sofort als Rufnummer anzeigte.
Eine unwillige Stimme: „Ja, was ist denn?“
Eine hörbar heitere und beschwingte Stimme: „Hier ist Jupp, hallo Heinz!“
„Mann, ich liege schon im Bett, das erste Mal in dieser Woche so früh, ich hatte einen schweren Tag. Weißt Du wie spät es ist?“
Franz sah automatisch zur Uhr: 0.30 Uhr.
Jupp antwortete scherzend: „Ich weiß, wie spät es ist. Für mich ist es fünf nach zwölf. Ich habe Nanowell gekauft! Morgen um zehn ist Pressekonferenz“.
Heinz holte tief Luft, man hörte ihn atmen, etwas raschelte, wahrscheinlich richtete er sich in seinem Bett auf. „Ehh, ich habe so dicht gehalten, ich wollte doch ein Stück vom Kuchen haben. Soll ich Dich beglückwünschen oder mich bedauern?“
„Hol Dir doch noch ein Stück.“
„Ist das bis zehn zu schaffen?“
„Geh über Tokio, Tokio hat noch ein Paket.“
Tokio? Ein Paket? Das konnte nur die Börse sein. Franz nahm über Internet Kontakt zur Börse in Tokio auf.
Heinz war noch unwillig: „Mitten in der Nacht! Was man alles tun muss für ein bisschen Geld. Du hättest mich auch heute Nachmittag vorwarnen können!“
Jupp kicherte immer noch: „Maul nicht rum, ran an die Arbeit, es lohnt sich, und Weidmannsheil! Wir hören voneinander.“
Die Verbindung wurde unterbrochen.
Auf dem Bildschirm erschienen Börsenkurse, in japanisch und in englisch. Nanowell, steigende Tendenz, derzeit bei 43 US-Dollar.
Ohne nachzudenken klickte Franz auf „Kaufen“.
Rückfrage aus Tokio: „Wieviel?“
Antwort, wie sollte er wissen, wie viele Aktien zum Verkauf standen? „Alles“.
Warten auf Antwort. Der Kurs stieg auf 43,50 US-Dollar. Antwort: „Kauforder Depot Nanowell, Preis 1.250.000 US-Dollar, bitte bestätigen, Frist in Sekunden 10 – 9 – 8 – 7 – 6 – 5 – 4 – 3 - …“
Bei „2“ klickte Franz auf „Bitte bestätigen“ und bekam den ersten Schweißausbruch.
„Order bestätigt. Bitte zahlen Sie ..“
Der Kurs kletterte inzwischen auf 45 Dollar.
Hinter ihm ging die Tür auf, eine verschlafene Stimme: „Franzilein, wann kommst Du? Es ist schon so spät!“
„Gleich, gleich, geh‘!“
Es war noch nicht viel später, keine 10 Minuten später war es geworden, seine teuersten 10 Minuten! Er solle zahlen, sagte der Bildschirm.
„Zahlung erfolgt in 9 Stunden“ schrieb er zurück. Prompt kam die Antwort: „Bitte wählen Sie: a) Kauf stornieren, b) Kreditkonto einrichten, Zinsen 9 %.“ Er wählte b).
Was war jetzt zu tun? Großaktionär wollte und konnte er nicht bleiben. Er ging in’s Bad, hielt den Kopf unter die Dusche, er brauchte einen klaren Verstand.
Marion stand in der Tür: „Kommst Du jetzt?“
Er schob sie wortlos auf den Flur und machte die Tür hinter ihr zu. ‚Sieht sie denn nicht, dass ich jetzt Stress habe?‘ fragte er zornig in sich hinein.
Nicht weiter darüber nachdenken. Was jetzt? Der Kurs lag inzwischen bei 47 Dollar. ‚Komm, noch ein bisschen!,‘ murmelte er vor sich hin, ‚dann sind wenigstens die Zinsen gedeckt. Verkaufen kann ich jederzeit!‘
Er starrte die Kursangaben an. Gegen 3 Uhr sprang der Kurs mit einem großen Schritt plötzlich über die 60-Dollar-Marke.
Franz spürte die erste Unsicherheit, er griff zu der Kaufbestätigung, die er sich ausgedruckt hatte, und zum Rechner. Wenn er jetzt die Hälfte zum Kauf anbieten würde …? Er ging in die Küche und kochte sich eine Tasse Kaffee, schwarz und stark, er musste jetzt einen klaren Kopf bewahren. Zurück am Bildschirm: der Kurs verharrte bei 63 Dollar.
Wie kann der Kurs überhaupt steigen, wenn keine Aktien mehr zu verkaufen sind? Er schickte eine Kaufanfrage ab. Antwort nach Sekunden: „Nanowell nicht verfügbar, Kaufauftrag erteilen, mindestens 67 Dollar.“
„Nein.“ Antwortete er. Die Börse hat also keine Aktien mehr, sucht und findet aber keine, bietet deshalb immer mehr, um Verkäufe anzuregen! Also abwarten, ich lasse sie suchen.
Marion sah zur Tür herein: „Aber Du sitzt ja immer noch hier. Wann kommst Du endlich?“
Franz starrte auf den Bildschirm und bemühte sich, seine Anspannung nicht gerade jetzt explodieren zu lassen. Sie ging ohne Antwort wieder zurück in’s Bett.
Gegen fünf Uhr fasste Franz einen Entschluss, der ihm eine seltsame Ruhe und Gelassenheit schenkte. Der Kurs lag inzwischen bei 80 Dollar. Also musste es große Kaufaufträge geben. Er bot die Hälfte seines Einkaufes für den doppelten Einkaufspreis an, also für 87 Dollar. Würde der Verkauf gelingen, hätte er die zweite Hälfte zur Deckung von Zinsen und Kosten und für einen ordentlichen Gewinn. Eigentlich rechnete er nicht mit einem Verkauf, nicht zu diesem Kurs. Auch überlegte er, ob er über eine andere Börse anbieten solle, Moskau war inzwischen geöffnet. Aber über Tokio könnte er sein Kreditkonto unmittelbar entlasten lassen.
Er hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, als die Verkaufsbestätigung kam. Er sprang auf, rannte in die Küche, riss eine Flasche Sekt aus dem Kühlschrank und weckte Marion, sein Ioni-Schatzi, die seine Begeisterung nicht teilen mochte, die ihren Groll und die Enttäuschung über diese ärgerliche Nacht noch weiter pflegen wollte, denn Franz hatte vergessen, ihr den Grund für seine gute Laune zu erklären. Nein, nicht vergessen, das brauchte sie nicht so genau zu wissen, den Kauf für diese unsinnige Summe, das Risiko und die Höhe des Gewinns, wenn er den Rest auch noch verkaufen würde. Nein, das waren Informationen, die für ihn alleine bestimmt waren, wertvolle Informationen, freuen kann sie sich doch auch so mit ihm. Tat sie aber nicht und so begann der neue Tag mit angespannter Stimmung. Franz hatte auch andere Sorgen.
Wann wäre der richtige Zeitpunkt für den Verkauf der restlichen Aktien? Vor der Pressekonferenz, die um 10 Uhr stattfinden sollte, der Kurs war inzwischen wieder leicht gefallen, oder würde der Kurs nach der Pressekonferenz noch einmal steigen? Er entschloss sich, kurz vor Börsenschluss in Tokio anzubieten, die Abwicklung wäre einfacher. Er erreichte den nächtlichen Höchststand nicht mehr, aber ihm blieb ein so erheblicher Gewinn, dass er für die nächsten zwei Jahre sorgenfrei wäre.
Jetzt brauchte er Ruhe und frische Luft! Franz saß auf einer Bank am Rhein-Ufer, ohne seine Gerätschaften, nur mit seinen Gedanken und mit seinem Stolz: so geht man also mit Informationen um,
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Alle Rechte bleiben bei dem Autor
Tag der Veröffentlichung: 04.12.2010
ISBN: 978-3-86479-260-1
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