Sie saß auf dem Boden und lehnte den Rücken an die Wand, den rauen, nur grob behauenen Fels. Die Kälte des Steines empfand sie nicht mehr als störend, nach all der langen Zeit, sie waren mit einander vertraut geworden.
Sie hatte ihr Essen in vier Rationen eingeteilt. Jetzt aß sie die zweite Portion. Das bedeutete, dass es nach ihrer Zeitrechnung Mittag war.
Sie hatte sich vor langer Zeit gezwungen, eine eigene Normalität zu schaffen. Nur so konnte sie überhaupt existieren. Grundlage wurde ein genau eingeteilter Tagesablauf.
Wurde ihr Essen gebracht, so begann für sie der Tag. Im trüben Schein der kleinen Lampe, die der Wächter eingeschaltet hatte, um sich zu orientieren und sie zu kontrollieren, teilte sie das Essen für diesen Tag ein, immer in vier gleiche Portionen. Dann schaltete sie das Licht selber aus.
Wenn sie den letzten Teil verzehrt hatte, legte sie sich zum Schlafen nieder, denn nach ihrer Zeitrechnung war damit der Tag zu Ende, ohne dass sie sich nach der korrekten Anzahl der Stunden hätte richten können.
Zwischen den Malzeiten hatte sie die sich selbst gegebenen Aufgaben zu erfüllen: den Geist zu schulen, den Körper zu stärken, zu lauschen oder zu schreien, den Fels zu glätten, ihre dürftige Ausstattung instand zu halten. Also: es gab viel zu tun!
Und sie wurde streng zu sich selbst! Der Plan war einzuhalten, es musste gründlich gearbeitet werden! Das Ziel, ihr einziges Ziel, durfte nicht durch eigene Nachlässigkeit gefährdet werden!
Sie hatte nur noch ein einziges Ziel. Es war mehr als nur ein Wunsch. Es war Überzeugung, Gewissheit! Sie würde eines Tages diese Gruft verlassen! Sie wusste nicht, wann und auf welche Weise, sie wusste noch nicht einmal, wo sie war, sie wusste nur eines: Sie würde diese Gruft verlassen. Und sie würde ihn töten. Sie. Mit ihren eigenen Händen.
Aber waren das nicht zwei Wünsche? Würde sie nicht auch schon glücklich sein, die Gruft zu verlassen, ohne ihm zu begegnen und ohne ihn zu töten? Und wenn er ohne ihr Zutun stürbe, durch eine fremde Hand, einen Unfall, eine Krankheit? Und ein anderer die Gruft für sie öffnen würde?
Nur ganz kurze Zeit hatte sie erwogen, auch schon dafür dankbar zu sein, schnell aber festgestellt, dass ihre Entschlossenheit, ihr Überlebenswille dadurch aufweichte: 'Dann kannst du den Kampf ja gleich aufgeben, irgendjemand wird es tun!'
Sie hatte geträumt, in einem unruhigen Schlaf, der noch nicht Gewicht durch einen gefüllten Tagesablauf erhalten hatte. Sie saß auf einer Bergweide und sah auf das Meer hinaus, wie damals, als sie die Insel verlassen wollte. Ihr Vater kam den schmalen steilen Pfad aus dem Tal herauf, einen großen Rucksack geschultert: 'Du musst es tun, Tochter!', hatte er zu ihr gesagt, war im Traum kurz unter ihr auf dem Pfad stehen geblieben, hatte sie mit seinen dunklen Augen streng angesehen: 'Glaube mir: Du musst es tun!'
Von diesem Traum an war sie überzeugt: Sie würde diese Gruft verlassen und ihn töten! Sie begann, ihrem Zeitablauf Strukturen zu geben und um ihr Weiterleben zu kämpfen.
Georg wusste nicht, was ihn geweckt hatte: unbewusste Erinnerung an die Pflichten des kommenden Tages? Die Unruhe eines tragischen Traumes? Er sah zur Uhr auf dem Sideboard: sechs Uhr fünfundvierzig signalisierte die grüne Digitalanzeige. Er war ohne erkennbaren Grund hell wach, trotz der für ihn ungewöhnlichen Uhrzeit, spürte, dass er nicht wieder einschlafen würde. Er stand auf.
Er öffnete das Fenster, reckte die von der Nacht noch steifen Glieder, sog die frische Luft des kühlen Morgens ein, neugierig auf die Gerüche des begonnenen Tages. Sein erster Blick ging, wie jeden Morgen, zum Himmel: Graue Wolken zogen von Nordwesten flach über die Bergkuppen, von einem munteren Wind getrieben, noch hielten sie ihre nasse Fracht. Die ersten Blätter hatte der Wind abgerissen, bunt trieben sie über den Hof, kleine Wirbel bildend, sich in Winkeln niederlassend, den nahenden Herbst ankündigend, als ob das Spiel des Windes mit den Wolken hierfür nicht bereits genügt hätte. Die Luft war kühl und feucht. Kein Sonnenstrahl ließ den Hügel in morgendlicher Frische erstrahlen. Ein Lastkraftwagen fuhr gemächlich die Straße entlang, die die flach zum Hügel im Norden ansteigende Flur zerteilte.
Wenig später sah er sie!
Georg war in das Badezimmer gegangen, von seinem Schlafzimmer aus durch eine Verbindungstür erreichbar, aber zur westlichen Seite des Hauses orientiert. Während er sich rasierte, trocken, und schnurlos, warf er einen flüchtigen Blick aus dem Fenster. Hier begrenzte nicht wie auf der Nordseite ein Hügel die Sicht. Die Landschaft senkte sich hinab zur Mosel, hatte einige kleinere Hügel und Felsgruppen über die Jahrhunderte stehen gelassen, trug ein paar Dörfer, Gehöfte, eine Burgruine, um dann in die steil zum Fluss abfallenden Hänge überzugehen. Dies war die Sonnenseite des Flusstales: Seit der Zeit der Römer wurde Wein angebaut, berühmte und begehrte Lagen!
Georg liebte besonders diesen Blick in die Weite, das Licht des frühen Morgens im Rücken, wenn auch nicht heute Morgen, abends mit dem Widerschein der Städte unten in den Tälern. Heute, jetzt, hatte er keine Zeit, blieben ihm nur Sekunden, um die Reize des morgendlichen Ausblickes zu erkunden.
Vor dem Haus, in nicht allzu großer Entfernung, an der Einmündung seiner Auffahrt in die die Dörfer verbindende Straße, war eine Baustelle eingerichtet worden! Ein Bagger blockierte die Straße, Lastkraftfahrzeuge und anderes schweres Gerät warteten, ein großes Zelt stand neben der Einfahrt, auf der eine Fuhre Kies abgeladen worden war. Männer in schwerer, wetterfester, leuchtend roter Arbeitskleidung bewegten sich wie ziellos in der Szenerie.
Hatte er etwas vergessen? Oder waren die Arbeiten ihm nicht angekündigt worden? Hatte er die schriftliche Ankündigung mit den üblichen Werbeschriften in dem großen blauen Papier-Container entsorgt? Oder hatte seine Mutter die Ankündigung als nicht so wichtig angesehen und ihn nicht informiert? Nachdenklich beendete Georg seine morgendliche Toilette, verzichtete auf die ihm Anregung und Energie gebende kalte Dusche und zog sich eilig an.
„Ich weiß auch nicht, was die Leute da tun! Ich dachte, das sei mit dir abgesprochen!“
Seine Mutter versah den Haushalt. Die Aufgaben waren zwischen den Eltern aus traditioneller Gewohnheit aufgeteilt, ohne dass sie einer erinnernden Diskussion je bedurft hätten. Sein Vater saß gegen acht Uhr am großen Fenster und las die Tageszeitung, jeden Tag, außer sonntags, noch vor seinem Frühstück. Vater liebte es, bis sieben Uhr zu schlafen. Dann war er frisch für den ganzen Tag und die vielen Arbeiten, die getan werden mussten, um das große Haus mit seinen Nebengebäuden, die Gärten und die Fahrzeuge instand zu halten. Mutter dagegen war eine Frühaufsteherin. Sie versorgte den Haushalt. Sie klagte nie, dass Georg oft bereits in sehr früher Stunde das Haus verlassen und vorher versorgt werden musste. Sie hatte, wie alle Mütter, ein unbewusstes Gefühl dafür, wann sie gebraucht wurde. Wenn Georg morgens aus seinem Appartement herab in den großen Wohnraum, in die „Stube“, Wohnküche und Wohnzimmer für den Alltag, kam, war sein Frühstück gerichtet, oft „Standard“, wie sie es nannte: kantiges Bauernbrot, gesalzene Butter, Schinken, Sülze, Käse aus der Molkerei im Nachbardorf und Kaffee. Wenn ihr Pflichtgefühl sie erst spät aus dem Bett getrieben hatte, konnte es sein, dass sie noch nicht für den Tag hergerichtet war; dann trug sie ein Kopftuch, um die noch ungeordneten Haare zu verbergen, meist einen bunt geblümten Kittel und feste Hausschuhe. Heute war so ein Tag. Sie sah Georg fragend an.
Georg arbeitete für eine ‚Gesellschaft’. Seine Eltern wussten nicht, welche Aufgaben die ‚Gesellschaft’ und Georg in dieser hatte.
„Wir kaufen und verkaufen!“, hatte Georg auf entsprechende Fragen ausweichend geantwortet.
Seinem Vater genügte das als Erklärung nicht. „Was denn genau? Autos? Kinderschuhe? Bananen?“ Seine Ungeduld war unüberhörbar gewesen.
Georg hätte es sich jetzt einfach machen können. ‚Ja’, hätte er sagen können, ‚Bananen! Wir verkaufen Bananen! Ihr wisst doch: Die Europäische Union hat für den Handel die Länge und die Dicke der Früchte, den Grad ihrer Biegung und die Sättigung ihrer Farbe geregelt. Und sie hat Lizenzen für den Handel vergeben. Die ‚Gesellschaft’ hat eine Lizenz erhalten und handelt mit Bananen, von den Seehäfen in Rotterdam und Antwerpen bis zur schweizerischen Grenze.’ Damit hätte er auch seine Reisen erklärt und seine oft mehrere Tage dauernde Abwesenheit. Seiner Mutter hätte das auch als Erklärung ausgereicht. Sein Vater hätte zweifelnd den Kopf geschüttelt, aber nicht weiter nachgefragt.
„Das ist doch wichtig zu wissen! Ist das krisenfest? Verdienst du dabei auch genug?“, fragte sein Vater weiter, nachdem er eine ihm ausreichend lang erscheinende Zeit vergeblich auf eine überzeugende Antwort gewartet hatte.
„So einfach ist das nicht zu erklären!“, wehrte Georg ab. „Der Markt wandelt sich und der Kunde ist wählerisch. Wir verkaufen das, was der Kunde sich wünscht. Und wenn sich seine Wünsche ändern, verkaufen wir ihm eben das Andere. Und es ist meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass keine unvorhergesehenen Dinge unsere Geschäfte stören.“
Der Vater war klug genug, den angebotenen Abzweig von dem Weg der gestellten Fragen zu beschreiten: „Bist du für die Transporte verantwortlich?“
„Für alles, was eine Gefahr darstellen könnte.“
„Also bist du der Sicherheits-Chef! Warum sagst du das nicht gleich!“ Zufriedenheit über den Erfolg seiner Fragen vortäuschend, aber innerlich unzufrieden mit der nicht als ausreichend angesehenen Erklärung über den Gegenstand des Handels vergrub der Vater sich wieder, vernehmlich vor sich hin murmelnd, in die Tageszeitung.
Als Sicherheits-Chef des Unternehmens war Georg es gewohnt, alle Möglichkeiten zu durchdenken, auch die unwahrscheinlichsten, und es hatte sich auch herausgestellt, dass er mit Fragen der Sicherheit nicht leichtfertig umgehen durfte. Jetzt begannen drängende Fragen ihn zu beunruhigen. Die Hauszufahrt durch eine Baustelle unterbrochen, also auf dem eigenen Grundstück eingesperrt, ohne vorherige Information. Es gab keine zweite Ausfahrt; würde er über die Wiese den Hügel hinauf fahren und den Zaun öffnen, so würde er sich für jeden Beobachter verdächtig machen. Den Baustellenleiter aufsuchen und fragen? Vielleicht hatte alles eine ganz simple Erklärung, der Mann würde sich entschuldigen, auf seinen Chef im Büro verweisen, das sei ja noch nie vorgekommen! Und wenn nicht? Dann könnte es übel werden, wenn er nicht vorbereitet war!
Er griff zum Handy, wählte nach kurzem Zögern eine Nummer. Wenn das eine verdecke Aktion der Polizei war, dann würde man auch sein Telefon überwachen! Also war Vorsicht geboten. Er rief den Vertriebsleiter an, in dem großen Bürogebäude am Duisburger Rhein-Hafen, in dem auch die Geschäfte der ‚Gesellschaft’ verwaltet wurden.
Er meldete sich mit seinem Namen. „Kann ich den Junior sprechen?“
Dieser hatte den Betrieb schon vor ein paar Jahren von seinem Vater übernommen, war aber für die meisten Mitarbeiter, besonders für die älteren und die leitenden, immer noch der ‚Junior’. Eine kurze Pause, Rascheln von Blättern. Dann die für solche Anrufe vereinbarte Rückfrage: „Sagen Sie mir bitte noch einmal ihren Namen.“
„Georg Pützken! Es regnet heute Morgen! Bei euch auch schon?“ Regen, das Codewort für Besorgnis. „Kann ich den Chef sprechen?“
„Guten Morgen Herr Pützken! Nein, Sie können den Chef nicht sprechen. Auf Wiederhören! Eins sieben!“
Georg trank eilig seinen Kaffee aus.
Höchste Eile war geboten! ‚Eins sieben!‘ Hingesprochen nach der Verabschiedung wie nicht mehr zu dem Telefongespräch gehörig, wie eine Anweisung an einen Dritten im Büro. Aber es war der Kern der Information, und dazu mit einem Inhalt, der nichts Gutes verhieß! Zur Verschlüsselung hatten sie für die Tageszeiten Ziffern vereinbart. ‚Eins’ bedeutete ‚mitten in der Nacht, zwischen Mitternacht und Morgendämmerung’. Und ‚sieben’? Er hatte den Chef sprechen wollen. ‚Null’ hätte bedeutet: ‚Wie das immer so ist: Wenn ich ihn erreiche und er Zeit hat, dann verbinde ich Sie!’ ‚Sieben’ hieß: ‚Ich kann nicht sagen, wie lange es dauern wird, bis Sie ihn sprechen können, aber es wird sehr lange dauern!’ ‚Zehn’ hätte bedeutet, dass er tot wäre. ‚Neun’ stand für ‚rechtskräftig verurteilt’, ‚Acht’ für ‚eindeutig dauerhaft von der Polizei oder der Konkurrenz aus dem Verkehr gezogen.’ Da brauchte man keine weiteren Rückfragen: ‚Mitten in der Nacht’, ‚für lange Zeit nicht mehr zu sprechen’!
Damit bekam die Baustelle auf der Straße vor dem Haus, an der Einmündung der einzigen Ausfahrt, eine große Gefahr signalisierende Bedeutung! Georg begab sich, trotz der fragenden Blicke seiner Mutter wegen des fast unberührten Frühstückes, eilig in sein Büro im Erdgeschoss, direkt hinter der Einfahrt in den Hof gelegen. Umfangreiche Unterlagen und Speichermedien mussten vorsorglich in Sicherheit gebracht werden
Georg fuhr mit seinem Wagen bis unmittelbar vor den Haufen Kies auf der Auffahrt, so als wolle er versuchen, mit dem Allradantrieb über ihn hinweg zu fahren. Dann hielt er an.
Er hatte nicht lange gezögert. Er rechnete jetzt damit, dass es sich um eine Aktion der Polizei handelte, die ihm galt, da offensichtlich auch sein Chef verhaftet worden war. Sich im Haus zu verstecken oder zu Fuß oder mit dem Wagen zu flüchten kam nicht in Frage, er sah keine Chance, zu entkommen. Das Erlebnis seiner Verhaftung bei einer missglückten Flucht oder einem aufwändigen Polizeieinsatz wollte er seinen Eltern ersparen. Also blieb nur die Möglichkeit übrig, die Lage zu klären.
„Guten Morgen! Hier kommen Sie nicht weiter!“ Georg hatte kaum die Türe seines Wagens geöffnet, als von beiden Seiten Männer in grober Arbeitskleidung sich seinem Auto näherten.
„Guten Morgen! Das sehe ich. Aber ich muss zu meiner Arbeit. Was machen Sie denn hier? Wie lange dauert das?“
Georg sah sich die Männer genauer an. Sie sahen nicht wie Straßenarbeiter aus, trotz der einschlägigen Arbeitskleidung. Die Kleidung trug keine Spuren von Arbeit mit Erde und Lehm. Die Hände waren kräftig, aber gepflegt und nicht von schwerer Arbeit gekennzeichnet. Die Blicke waren aufmerksam und wachsam.
Der Wortführer der Männer, derjenige, der sich ihm bis auf wenige Meter genähert hatte, sprach ausgesprochen höflich und ohne den in der Gegend üblichen Dialekt. „Es tut mir Leid, dass ich Ihre Fragen nicht einfach beantworten kann. Würden Sie mir bitte in das Zelt folgen? Wir wollen doch die morgendliche Ruhe im Dorf nicht mit Aufsehen stören!“
Das war eine unmissverständliche Androhung. Die Männer hatten ihn und sein Auto inzwischen in geringer Entfernung umstellt. Ohne weitere Diskussion folgte Georg dem Wortführer zum Zelt.
Eine schwere Limousine mit abgedunkelten Fenstern nahm die eine Hälfte des Innenraumes ein. Daneben saßen um eine Art Schreibtisch, eine graue Kunststoffplatte mit Gitterbeinen, mehrere Männer in Zivil mit übergelegten Schutzwesten. Auf dem Tisch Geräte der Nachrichtentechnik, Tag- und Nachtsichtgeräte, eine große Waffenkiste mit der Aufschrift in schwarzem Lack „ARMS“. Georg wunderte sich, mit welchem Aufwand diese Stellung angelegt worden war, ohne dass es im Haus aufgefallen war. Aber man ließ ihm keine Zeit, anerkennenden Gedanken nachzuhängen.
Der Mann in der Mitte hinter dem Schreibtisch forderte ihn mit einer Handbewegung auf, Platz zu nehmen. Er sah ihn nachdenklich an, wortlos, so als sei er unsicher, auf die seinem Auftrag entsprechende Person zugegriffen zu haben.
Georg setzte sich, um nach wenigen Augenblicken als erster zu sprechen: „Die Höflichkeit gebietet es eigentlich, sich zur Begrüßung und Vorstellung zu erheben. Aber ich vermute, ich brauche mich nicht vorzustellen. Was also wollen Sie von mir?“
Das grelle Licht eines Scheinwerfers blendete ihn. Er rückte seinen Stuhl etwas zur Seite, um die Augen in den Schatten eines der Männer in den Arbeitsanzügen zu bekommen, die sich hinter dem Schreibtisch und an einer Seite aufgestellt hatten.
Der Mann hinter dem Schreibtisch war etwa Mitte dreißig Jahre alt, untersetzt, was ihn klein erscheinen ließ, und nicht sehr gepflegt, jedenfalls war er noch unrasiert und die Haare waren ungeordnet. Er setzte sich aufrecht, stützte sich mit beiden Unterarmen auf die Tischplatte und sah auf ein Bündel Papiere:
„Sie sind Georg Pützken. Sie sind 37 Jahre alt und wohnen seit vier Jahren hier in Hochweiler. Sie waren als Fußballtrainer tätig, zuletzt bei dem wieder vom Erfolg verlassenen Verein FBC Köln.“
Der Mann sah ihn an, nicht fragend, nicht Lob erwartend wegen der Fülle der ihm bekannten Fakten, einfach nur abwartend.
„Das wusste ich bereits, bevor ich Ihr Zelt betreten habe“, antwortete Georg. „Bitte nennen Sie mir Ihren Namen, Ihren Dienstgrad und Ihre Behörde!“
Sein Gegenüber wies mit einer vagen Handbewegung in die Runde: „Nun, manchmal denke ich, wir sind eine Straßenbaufirma. Aber damit will ich Ihnen so früh am Morgen gar nicht erst kommen. Jetzt sitzen wir hier und unterhalten uns. Das ist das einzige, was zählt.“
„Ich möchte wissen, mit wem ich es zu tun habe! Oder darf ich meinen Anwalt damit beauftragen?“
Der Mann hinter der Tischplatte winkte ab: „Anwälte sind teuer, kosten eine Menge Geld und oft können sie nicht wirklich helfen. Ich würde an Ihrer Stelle jetzt keinen Anwalt anrufen.“
Er blätterte in seinen Unterlagen. „Ach ja, hier habe ich es: Sie haben vorhin in Duisburg angerufen, sieben Uhr fünfzehn, Firma Schiffsausrüstung und Maklerei Hoffmann und Sohn, war wohl vergebens. Ja, ich würde keinen Anwalt anrufen, wenn ich Sie wäre. Man erreicht nicht jeden Gesprächspartner und nicht jeder Gesprächspartner erreicht auch etwas.“
Er klappte seine nur lose gehefteten Blätter zusammen, legte sie auf den Tisch zurück und sah Georg aufmerksam an. Georg bemühte sich, keine Panik aufkommen zu lassen, Ruhe auszustrahlen. Sie hatten ihn tatsächlich bereits abgehört! Und sie wussten, dass der ‚Chef’, Hoffmann junior, nicht erreichbar war. Oder schlossen sie das nur aus dem abgehörten Gespräch? ‚Eins sieben!’, hatte der Vertriebsleiter am Telefon gesagt, ‚sieben!’. Also war er wahrscheinlich verhaftet worden und jetzt war Georg an der Reihe! Aber warum dieser Aufwand?
Der Mann in der Schutzweste begann zu lächeln: „So!“, sagte er, „Das reicht als Bedenkzeit. Sie sind Handelsvertreter. Kommen wir also jetzt zum geschäftlichen Teil. Oder möchten Sie noch über die hinter Ihnen liegende Zeit diskutieren?“
Also wussten sie noch mehr! Von den Kokaintransporten und dem durch ihn aufgebauten Netz? Von dem Erpressungsversuch, den er mit aller Konsequenz abgewehrt hatte?
„Welches Geschäft tragen Sie mir denn an?“
Der Mann, der weder seinen Namen noch seine Dienststelle genannt hatte, sah wie nachdenklich auf seine Fingerspitzen: „Nun, ich bin ein Makler. Und ich versuche, ein guter Makler zu sein, zu überzeugen. Es gibt Geschäfte, die für beide Seiten sehr schwierig sind. Da will man überzeugt werden, muss schließlich ehrlich überzeugt sein, um auf den Handel einsteigen zu können. Sie kennen doch auch solche schwierigen Geschäftsverhandlungen?“
Das war weniger eine Frage, mehr eine Feststellung, die auf keine Antwort wartete.
„Ich biete Ihnen ein Gespräch an.“
Georg war verblüfft, bemühte sich, sein Erstaunen zu verbergen. „Ein Gespräch?“, fragte er, „Unterhalten wir uns nicht bereits?“
„Wie ich schon sagte, ich bin nur ein Makler. Ich möchte das Gespräch vermitteln. Habe ich Sie schon überzeugt, dass Sie das Gespräch führen möchten?“
Georg wehrte ab: „Was ich möchte? Ich möchte meinen Geschäften nachgehen, Gewinn erzielen und Steuern zahlen.“
Sein Gegenüber wirkte plötzlich ungeduldig, hätte Georg das Wort abgeschnitten, wenn er hätte noch weiter sprechen wollen. „Es gibt Alternativen, Herr Pützken, über die wir hier nicht reden sollten. Auch ich habe Alternativen, die ich Ihnen nicht anbiete, damit wir unsere wertvolle Zeit nicht weiter verschwenden!“
„Gut. Sie möchten, dass ich mich an einem Gespräch beteilige. Wo und wann soll das stattfinden? Ich nehme an, nicht auf meiner Terrasse und nicht hier im Zelt.“
Der Mann zeigte auf das Auto: „Wenn Sie von der Notwendigkeit überzeugt sind und freiwillig bereit sind, das Gespräch zu führen, steigen wir in dieses Auto ein und fahren zu denjenigen, die mit Ihnen sprechen wollen.“
Georg sah von dem Mann zu der dunklen Limousine und wieder zurück zum Schreibtisch: „Ich hätte mir das Rätsel in der Tageszeitung vornehmen sollen!“
„Ich höre mit Vergnügen, dass Sie Ihren Humor behalten haben. Deshalb ersuche ich Sie, nach Ihrer freiwilligen Einwilligung Gewalt und Tricks zu unterlassen. Ich würde vorbehaltlos von meiner Schusswaffe Gebrauch machen! Meine Auftraggeber möchten keinerlei Aufsehen. Und Ihrer Familie möchte ich auch jedes Aufsehen ersparen. Wir werden die Zufahrt räumen und Ihr Auto zu Ihrem Haus zurück fahren. Als Gegenleistung erwarte ich von Ihnen, dass Sie eine unauffällige Begegnung zu dem Gespräch ermöglichen!“
Das war sehr ernst gesprochen, mit einer Hand auf der linken Brustseite, unter der Georg eine Waffe im Schulterhalfter vermutete. Er nickte wortlos. Sie erhoben sich und stiegen in das Auto.
Es war eines jener alten, inzwischen schäbig gewordenen Gebäude, die von den Amerikanern gebaut worden waren, als sie nach dem großen Krieg als Sieger Anfang der fünfziger Jahre den Flugplatz für ihre Zwecke herrichteten: graue Putz-Fassade, genormte Holz-Fenster, von denen der Lack sich abzulösen begann, inzwischen brüchig und holprig gewordenes Betonpflaster. An einem Morgen wie heute sah alles noch trostloser aus. Nässe bildete Spuren auf der Fassade, unter den Fensteröffnungen. Kränkelnde Sträucher einer dürftigen Bepflanzung hatten bereits ihr Laub verloren. Ein paar Behördenschilder markierten den Eingang.
Dort, wo auf dem inzwischen privatisierten Flugplatz Geld verdient werden musste, hatte man investiert. Die große Halle für Abflug und Ankunft mit Schaltern, Läden und Büros, entsprechend dem prognostizierten Verkehrsaufkommen geplant und mit Geld der Europäischen Union großzügig finanziert, schließlich wollte man der Region zu einem Wandel zum Besseren verhelfen, das Terminal, die Büros und Werkstätten waren in einem vorzeigbaren Zustand. Die wenigen Passagiere verloren sich in der Weite der modernen Halle zwischen Stahl und Glas. Viele Köpfe beschäftigten sich mit der Frage, wie man Verkehrsaufkommen, Passagiere und Fracht, für den Flugplatz interessieren könne, um den reichlich vorhandenen Raum auch zu nutzen.
Die Behörden hatte man dagegen in den übernommenen alten Gebäuden untergebracht, Zoll, Bundespolizei und einige mehr, für die es kein Hinweisschild neben dem Eingang gab. Im zweiten Bauabschnitt würde ein Behördencenter geschaffen, parallel zur Abfertigungshalle und aufgeständert über den Parkplätzen für Kurzzeitparker. Aber bis dahin müsse man sich mit räumlichen Provisorien begnügen. Die Gebäude wurden zentimetergenau aufgemessen, Bauakten gab es ja nicht bei den zuständigen Behörden. Und dann bezogen Beamte verschiedener Dienststellen die Räumlichkeiten, füllten sie so gut es ging mit den Dingen ihres speziellen Bedarfes und versahen ihren Dienst. Es würde noch viele Jahre dauern, so wuchs eine Überzeugung, bis man in helle, freundliche und vor allen Dingen zweckentsprechend gestaltet Räume umziehen könne.
Das Gebäude hatte wenigstens einen Vorteil: Es grenzte mit der Rückseite an die Einzäunung des Flugfeldes. Man hatte ein neues Tor errichtet, fernüberwacht und gegen Terrorismus geschützt, eine für Einsatzfahrzeuge ausreichende Verbindungsstraße geteert und Fahrräder zur schnellen Überbrückung der Entfernungen zur Verfügung gestellt.
Der Wagen hielt vor dem unansehnlichen Gebäude und ohne jede einladende Erklärung wurde Georg in das Haus geführt.
Georg hatte noch bei der Abfahrt sehen können, dass das Zelt in Windeseile abgebaut und sein Wagen zum Haus zurück gefahren wurde. Der Bagger hatte sofort damit begonnen, die Zufahrt wieder zu räumen. Georg hatte bedauert, dass er sich bei seinen Eltern nicht abmelden konnte. Es würde sie beunruhigen, wenn ein fremder Straßenbauarbeiter den Wagen auf dem Hof abstellen würde. Aber man hatte ihm kein Telefongespräch erlaubt und so vertraute er auf das Geschick derjenigen, die ihn so ungewöhnlich um ein Gespräch gebeten hatten.
Ein gewisses Maß an Anerkennung keimte in ihm auf: Die Aktion zu seiner Festnahme war sehr präzise und zügig erfolgt, die Leute verstanden offensichtlich ihr Geschäft.
Die Fahrt war schweigend verlaufen. Seine Fragen waren mit einer unwilligen Handbewegung unterdrückt worden. So blieb Georg nichts weiter übrig, als auf sich zukommen zu lassen, was für ihn offensichtlich so präzise geplant worden war. Jedenfalls fand er keine andere Möglichkeit, sich zu informieren, und an eine Flucht war nicht zu denken. Auch konnte er noch nicht einschätzen, wie weit die Kenntnisse der Leute über die ‚Gesellschaft’, für die er bisher gearbeitet hatte, gingen.
Der während der Fahrt schweigende Wortführer meldete die Gruppe in der Sicherheitsschleuse an: Ausweiskontrolle, Blick in die Gesichter, ein schriftlicher Passierschein, die kurze Anweisung „Zimmer U 13“. Sie fuhren mit dem Aufzug hinab. Sie wurden erwartet.
Konnte Georg auf dem Weg zum Aufzug noch erkennen, dass der Erdgeschossflur in dem üblichen Behördenluxus eingerichtet war, zwei Holzbänke zwischen Bürotüren, eine Geranie auf der Fensterbank am Ende des Flures, ein Feuerlöscher vor einer Zwischentür, so fand er den Flur im Untergeschoss kalt, schmucklos und unpersönlich. Ein helles, keine Schatten zulassendes Licht beleuchtete kahle Wände und einen mit genoppten Gummifliesen beklebten Fußboden. Sie gingen durch das Büro mit der Nummer 13, das sich als Vorraum fast völlig ohne Einrichtung zeigte und in dem zwei dunkel uniformierte Männer an einem einfachen Tisch saßen, in einen weiteren Raum, der wie ein Besprechungszimmer eingerichtet war: ein großer Tisch in der Mitte, aus mehreren Teilen zu einem Quadrat zusammen gestellt, hell von einer Deckenlampe beleuchtet, gepolsterte Holzstühle am Tisch und im Halbdunkeln in einer Reihe vor den Wänden, ein paar Stahlschränke. Und mehrere Männer, die den Ankömmlingen aufmerksam entgegen sahen.
„Guten Morgen, Herr Pützken! Mein Name ist Schneider! Bitte nehmen Sie doch Platz, hier, nehmen Sie diese Seite!“
Georg bekam einen Stuhl zugewiesen. Er war von der freundlich klingenden Anrede überrascht, kam kaum dazu, sich umzusehen: Seine bisherigen Begleiter hatten den Raum verlassen, die Anwesenden wandten ihre Aufmerksamkeit ihm zu.
„Lassen Sie sich nicht von der Anwesenheit der anderen Herren stören. Ich stelle sie Ihnen im Verlauf unseres Gespräches vor.“ Der Sprecher quoll förmlich über vor Freundlichkeit.
„Möchten Sie eine Tasse Kaffee? So früh am Morgen.“
„Danke, ich kam gerade von meinem Frühstück, als mich Ihre Einladung erreichte.“
Der Sprecher, der sich ‚Schneider’ genannt hatte, gab sich heiter: „Ja, meine Einladung! Wenn man viel Arbeit vor sich hat, soll man den Tag zeitig beginnen! Schön! Jetzt sind Sie hier!“ Er machte eine Pause, sah Georg aufmerksam an, als wolle er sich vergewissern, ob seine Informationen durch den Anblick bestätigt würden. „Ja, ich denke, wir haben viel Arbeit vor uns. Wie fange ich am besten an?“
„Indem Sie mir sagen, Herr Schneider, wer Sie sind, von welcher Dienststelle Sie kommen und was Sie von mir wollen. Ich war auf dem Weg zu meiner Arbeit. Und Ihre Leute haben mir bisher nicht viel verraten.“
„Richtig! Ihre bisherige Arbeit: Sie haben im Auftrag des Duisburger Kaufmannes Hoffmann einen Ring zum Handel mit Rauschgift aufgebaut und gegen Angriffe verteidigt. Da Herr Hoffmann festgenommen wurde, sind Sie jetzt arbeitslos. Wollen Sie noch mehr Details hören?“
Herr Schneider hatte leidenschaftslos wie über einen alltäglichen Vorfall gesprochen und lächelte Georg an. Georg versuchte, sein Erstaunen zu verbergen. „Sie erzählen mir Dinge, von denen ich möglicherweise nichts weiß!“
„Möglicherweise, Herr Pützken! Sie standen unter der Beobachtung durch die Sonderkommission in Mainz, die die Anweisung hatte, nur zu beobachten, nicht zuzugreifen. Wir haben eine fast lückenlose Darstellung Ihrer Aktivitäten in der letzten Zeit.“
Georg versuchte, gleichgültig zu klingen: „Darf ich die mal sehen? Es interessiert mich doch sehr, was ich getan haben soll!“
„Ich will Ihrer Erinnerung gerne behilflich sein, Herr Pützken!“ Herr Schneider blieb freundlich, klang fast hilfsbereit, griff nach einem Aktenordner unter der Tischplatte, den Georg bisher nicht gesehen hatte. „Ab Seite 34 wird beschrieben, wo Sie Ihre Arbeitsmittel einkaufen, und ab Seite 63 können Sie nachlesen, wie Sie Ihre Arbeitsmittel einsetzen. Armer Franz Hilger! Aber gute Arbeit, meine Anerkennung, gute Arbeit! Den Mann auf diese Art zu töten: Auf die Idee kommt nicht jeder! Wollen Sie selbst lesen?“ Er hielt Georg das Aktenbündel hin.
Das Verhältnis zwischen dem Ablauf der Zeit und der Tätigkeit des Gehirns ist ein sonderbares. Es gab Zeiten, Stunden der Muse, aber auch Sekunden der Panik, da blieb der Geist leer: er konnte leer, gedankenlos sein, um sich zu regenerieren; er konnte vergeblich nach Antworten auf drängende Fragen durchforscht werden und dabei seine zuverlässige Arbeit verweigern. Auf der anderen Seite gab es Sekunden, Bruchteile von Sekunden, in denen ganze Lebensläufe vor dem inneren Auge abgebildet wurden.
Georg sah plötzlich die letzten Monate vor sich. ‚Sie wissen alles!’, machte er sich bewusst, ‚die Erpressung der ‚Gesellschaft’ durch Hilger, seine zufällige Schatzsuche in dem alten Bergwerk und meine für genial gehaltene Idee, ihn bei einem Tauchgang im Bergwerk durch eine Sprengladung zu töten!’ Diese Erkenntnis löste die Frage aus, wie die Polizei ihn beobachten konnte, ohne dass er das bemerkt hatte! ‚Aber darauf kommt es jetzt nicht an! Was wollen sie jetzt von mir?’ Und dann verfestigte sich ein Gedanke zur Gewissheit: ‚Sie wollen mich nicht den Mühlen der Justiz übergeben! Sie wollen etwas von mir! Sie wollen mich zwingen, etwas für sie zu tun!’
Er riss sich aus seinen Gedanken, straffte seine Haltung, sah sein Gegenüber an: „Wenn ich es mir so recht überlege, würde ich doch gerne eine Tasse Kaffee trinken. Macht das Ihnen Mühe?“
Schneider gab nur ein Zeichen mit der Hand, woraus Georg schloss, dass ihr Gespräch von einem Nebenraum aus beobachtet und aufgezeichnet wurde, richtete dann den Zeigefinger mit wiegender Hand auf Georg und fing an zu lächeln: „Ich sage meinen Männern immer: Ein klares Wort schafft klare Verhältnisse! Ich glaube, dass Sie mich verstanden haben. Nur das ist wichtig: dass Sie mich verstanden haben! Sie brauchen nicht zu antworten, denn Sie brauchen nicht auszusagen, wenn Sie sich dadurch selbst belasten. Und Sie können einen Anwalt Ihres Vertrauens zu unserem Gespräch hinzuziehen, aber ich glaube, Sie wollen keinen Anwalt für unser Gespräch. Stimmen Sie mir zu?“
Georg nickte mit dem Kopf.
„Gut. Damit sind die notwendigen Formalitäten erledigt, das nehmen wir zu Protokoll.“
„Bevor Sie fortfahren“, ergriff Georg das Wort, „wiederhole ich meine Frage von vorhin: Von welcher Dienststelle sind Sie? Wenn Sie glauben, dass Ihre Informationen zutreffend sind, können Sie nicht von Polizei oder Staatsanwaltschaft sein!“
„Mit dem zuständigen Oberstaatsanwalt habe ich heute Morgen gesprochen, warten Sie, …“, er blätterte in seinem Aktenbündel, „ach ja, hier: zuletzt um fünf Uhr dreißig. Wir sind manchmal, na ja, sozusagen Konkurrenten. Er wollte Sie heute Morgen verhaften lassen! Aber das kann er immer noch, wenn wir uns nicht einig werden.“
Das war so wie nebenbei an seine Rede angehängt, als sei es äußerst unwahrscheinlich, dass es dazu kommen würde, nur eine der möglichen Alternativen. Aber es war für Georg ein weiterer Tiefschlag, er griff zu seiner Kaffeetasse. „Das erklärt mir noch nicht, welcher Dienststelle Sie angehören. Vielleicht sollte ich doch der Staatsanwaltschaft meine Zusammenarbeit anbieten. Dann weiß ich wenigstens, woran ich bin.“
Schneider drehte sich etwas nach rechts, wies auf einen der hinter ihm sitzenden Männer: „Soll Herr Müller von der Staatsanwaltschaft Koblenz Ihnen die Lage erklären?“ Ein aufmunterndes Handzeichen von Schneider.
Müller erhob sich: „Das ist schnell gesagt und ich fasse deshalb zusammen: Wir werden dem Gericht nachweisen, dass Sie der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung in Tateinheit mit Drogenhandel sowie zweier Morde schuldig sind!“
Georg spürte, dass die Lage für ihn zunehmend schwieriger wurde, immer aussichtsloser. Er suchte einen ruhigen Punkt für seine Augen, um seine Gedanken zu ordnen, fand aber in dem hellen Licht immer wieder nur zu Schneider zurück, dem etwas rundlichen, blassen, weichlichen, fast gütig wirkenden Gesicht, glatt rasiert trotz der frühen Morgenstunde, sorgfältig rechts gescheitelte dunkle Haare. Er trug eine sportliche Windjacke, bis zur halben Höhe geschlossen, über einem offenen bunten Hemd und wirkte beherrscht, saß ruhig auf seinem Stuhl, aber an den Bewegungen seiner Hände konnte man seine innere Spannung erkennen.
Schneider lehnte sich in seinem Stuhl gerade zurück, wie zufrieden mit der Wirkung, die er in dem unruhigen Blick Georgs glaubte erkennen zu können. Er griff zu einer Flasche Mineralwasser und einem Trinkglas.
„So!“, sagte Schneider, als er das Glas absetzte, als ob eine Etappe in einem Wettrennen erfolgreich abgeschlossen worden wäre, und machte eine kurze Pause, „Noch Fragen, Herr Pützken? Dann hören Sie mir jetzt zu!
Im Groben geht es um folgendes: Die Bundesanwaltschaft arbeitet unter anderem mit den Kollegen in Italien eng zusammen, gemeinsame Bekämpfung international agierender Banden. Nennen wir es mal zum besseren Verständnis ‚Mafia’. Die Italiener brauchen einen neuen Mann, der in einem als dringend geschilderten Fall verdeckt ermittelt, nachdem einer der bisherigen Ermittler enttarnt worden ist. Zur besseren Tarnung suchen sie einen Ausländer, einen Deutschen. Sie haben so viel Geschick bewiesen, dass wir Sie seit einiger Zeit als den geeigneten Mann ansehen.“
Schneider lächelte plötzlich, ganz unerwartet und wie entspannt und von der Last, das ungewöhnliche Angebot in überzeugender Weise vortragen zu müssen, befreit: „Sie brauchen nur noch zuzustimmen und Sie haben den Job!“
Wenn Schneider geglaubt hatte, jetzt ein leichtes Spiel zu haben, so sah er sich getäuscht.
„Das ist ein Himmelfahrtskommando!“, entfuhr es Georg. „Das können Sie von mir nicht erwarten. Was habe ich mit den Problemen in Italien zu tun?“
„Nichts! Nichts haben Sie mit denen zu tun. Aber wir halten Sie für befähigt, unseren Freunden in Italien zu helfen. Und die brauchen nun mal einen guten Mann.“
„Was ist denn mit dem enttarnen Ermittler geschehen, kann er nicht intern ausgetauscht werden?“
Schneider wandte sich nach links, wies auf einen zivil gekleideten Mann, Mitte fünfzig, pomadierte schwarze Haare, gestutzter schwarzer Schnurrbart, Anzug und Krawatte. Der Mann erhob sich: „Turgisi, Zentralkommissariat Rom. Leider übernimmt der Mann keine Arbeiten mehr für uns. Familienvater, eine schöne junge Frau, una bellezza, drei bambini, piccolo bambini, es ist eine Schande! (Es folgte ein kurzer Fluch auf Italienisch, von dem Georg nur am Anfang das Wort ‚maledetto’ und am Ende das Wort ‚inferno’ verstand; ‚Inferno’? ‚Hölle’?) Wir haben seine rechte Hand im Bunker einer Müllverbrennungsanlage gefunden, nach einem anonymen Hinweis, mehr nicht!“ Er schüttelte wie vor einer entsetzlichen Erinnerung die Schultern und setzte sich.
Schneider sprach, als müsse er sich entschuldigen: „Sie sehen ja, Herr Pützken: Die brauchen einen neuen Mann!“
„Aber wieso ich? Wieso ein Deutscher? Ich habe doch gar keine Chance, dort zu arbeiten! Ich spreche nicht die Sprache, kenne nicht die Mentalität und nicht die Örtlichkeit. Es muss doch möglich sein, in der italienischen Polizei, meinetwegen auch in ganz Italien einen Mann zu finden, der das machen kann!“
Schneider bat Turgisi, zu antworten: „signore Pützken! Wir haben vorzügliche Erfahrungen mit deutschen Ermittlern. Sie wären nicht der Erste. Niemand nimmt einen Deutschen ernst.“ Er merkte, dass das eine unglückliche Formulierung war, man nahm ‚die Deutschen’ sehr wohl ernst. „Verstehen Sie doch: Man sieht in Ihnen einen Touristen. Einen vagabondo, einen Aussteiger. Man misstraut nicht Ihren seltsamen Gewohnheiten: Sie wandern, Sie interessieren sich für alte Gebäude. Niemand achtet auf Sie, während Sie Informationen für uns sammeln.“
„Wie soll ich dort leben? Zahlen Sie ein Gehalt? Wissen die Gegner dann nicht sehr schnell von meiner Arbeit? Sie können doch keine Kontakte zwischen mir und Ihrer Behörde vor der Mafia geheim halten!“
Turgisi schüttelte bedenklich den Kopf, glättete mit einer unbewussten Bewegung der rechten Hand seinen Bart, als wären die kurzen Haare in Unordnung geraten: „Das ist keine Gefahr. Dafür gibt es bewährte Abläufe. Dabei helfen uns unsere internationalen Freunde.“ Aber wie die Freunde helfen würden blieb ungesagt, was nicht zur Beruhigung Georgs beitrug!
„Ich verstehe den Zusammenhang noch nicht.“ Georg schüttelte ungläubig den Kopf, „Herr Müller droht mir eine Anklage wegen Mord an, gleichzeitig wollen Sie mich zu einem solchen Himmelfahrtskommando nach Italien abschieben. Und wenn ich mich auf die Erpressung einlasse und das auch tatsächlich mache und überlebe, danach einmal wieder nach Deutschland zurückkehre, dann greift die Staatsanwaltschaft zu?“
Schneider wurde eifrig: „Nein, keine Sorge. Ich denke, Sie stellen sich vorher hier dem Strafverfahren, sagen als Kronzeuge gegen Hoffmann aus, bekommen dadurch Straffreiheit, vielleicht auch nur Strafmilderung, und können dann an die italienischen Behörden überstellt werden!“
Bevor der Vorschlag bei Georg Wirkung erzeugen konnte, welche wohl auch immer, intervenierte Turgisi: „signore kommissario, mit Verlaub! Die deutschen Behörden müssen auf das Verfahren verzichten! Wir können uns keine Verzögerung leisten!“
Daraus entstand ein Disput: Schneider wendete ein, die deutsche Justiz müsse auf ihrem Recht zur Bestrafung bestehen; er könne sich auch vorstellen, dass Pützken bei Bedarf aus Italien eingeflogen werde. Turgisi beharrte auf einem baldigen, endgültigen Abschluss, um die künftige Identität des gewünschten verdeckten Ermittlers während seines Einsatzes nicht zu gefährden.
„Aber gerade das wäre doch hilfreich, ihn in seinem künftigen Umfeld als einen vor seiner Vergangenheit Flüchtenden erscheinen zu lassen!“
Turgisi widersprach: „So unauffällig wie möglich. Er muss von den anderen Bürgern sofort wieder vergessen werden. Er muss unsichtbar werden. Man darf ihn nicht beachten, un niente!“
Georg hatte während der Auseinandersetzung der beiden genug Zeit gehabt, sich eine Meinung zu bilden. Belustigt trotz der ausweglosen Situation folgte er dem Disput, den Turgisi temperamentvoll mit den Händen und mit italienischen Ausdrücken untermalte. Schließlich unterbrach Georg den Redefluss: „Geht es immer noch um mich? Ja? Gut! Ich habe verstanden, was von mir erwartet wird und wie die Alternativen einzuschätzen sind. Wenn Sie meine Zusammenarbeit wollen, dann nur unter zwei Bedingungen.
Die erste richtet sich, ohne dass das ein Eingeständnis ist, an die deutsche Justiz: Ich werde nicht vor Gericht gestellt, nicht jetzt und nicht später, auch nicht als Zeuge gegen Hoffmann.
Zweitens: Wenn die Bedingungen, unter denen ich in Italien arbeiten muss, mir als ungeeignet erscheinen und nicht meinen Forderungen entsprechen, muss ich aussteigen können, jederzeit und ohne Gefährdung meiner Person.“
Es entspann sich ein weiterer längerer Disput, in dessen Verlauf mehrere Telefongespräche geführt wurden, in das Justizministerium in Berlin, aber auch bis nach Rom.
Schließlich sahen Schneider und Turgisi sich an: „Ich übergebe Ihnen den Festgenommenen Pützken mit allen Vollmachten und der Zustimmung meiner Regierung, insbesondere des Außenministers.“
Dann wandte er sich an Georg: „Herr Pützken! Heute ist Ihr Glückstag, sozusagen! Sie entgehen der deutschen Justiz, was ich persönlich auf das tiefste bedauere. Aber es wurde eine Vereinbarung mit Ihnen getroffen und Sie haben ab sofort im Rahmen der Vereinbarung den Anweisungen von Signore Turgisi zu folgen. Ich wünsche Ihnen viel Glück.“
Man gab sich sogar zum Schluss die Hand!
„Und wie geht es jetzt weiter?“, fragte Georg.
Turgisi, jetzt verantwortlich für ihn und deshalb stets an seiner Seite, wies zur Tür: „Kommen Sie, signore Pützken! Ich zeige Ihnen etwas.“
Sie fuhren mit dem Fahrstuhl hinauf, in das erste Obergeschoss, und gingen zu einem Fenster an der Rückseite des Gebäudes. Vor ihnen lag das Flugfeld. Graue Wolken zogen eilig in geringer Höhe über die Landebahn, der Wind ließ das spärliche Gras sich in Wellen wiegen, es war kein Flugverkehr zu sehen.
Turgisi lächelte, wies nach unten: „Dort wartet unser Taxi!“
Ein Lear-Jet, zweistrahlig, ohne Angabe einer Fluglinie, nur mit den Kennzeichen für die nationale Registrierung, parkte neben der Asphaltstraße.
Den Rest des Tages erlebte Georg wie in einem Traum, nicht unangenehm, erregend, von einer seltsamen Leichtigkeit. Er hatte nichts zu bedenken, zu entscheiden, sondern lediglich geschehen zu lassen. Er hatte Schneider noch die Zusage abgerungen, dass seine Familie informiert werde, nicht in Einzelheiten, aber in beruhigender Weise. Er selbst durfte nicht mehr nach Hause, nicht telefonieren, er reiste ohne Gepäck, in dem geschäftsmäßig wirkenden Anzug, den er bereits am frühen Morgen angezogen hatte.
Gegen vierzehn Uhr landete die Maschine in Como. Eine halbe Stunde später, nach einer temperamentvollen Fahrt in einem grauen Fiat 1100 mit einem gewöhnlichen Kennzeichen, bezog Georg sein Zimmer, seine Bleibe für die nächste Zeit, in einem ehemals herrschaftlichen Haus auf einem Hügel über dem See im Nordosten außerhalb der Stadt. Ein scharfer Wind von Norden von den hohen Bergen herab ließ die Wellen auf dem See aufschäumen, zerrte an der Kleidung der Menschen, dunkle Wolken zwischen den Bergen spiegelten sich in den Pfützen, es musste kräftig geregnet haben an diesem Vormittag. Aber die Luft war milder als zu Hause, Georg dachte tatsächlich noch ‚zu Hause’, bis ihm schmerzlich bewusst wurde, dass es dieses Zuhause für ihn für lange Zeit nicht mehr geben durfte!
Er versuchte, sich auf die neue Umgebung zu konzentrieren. Ließ das Gebäude nach außen noch den Charme seiner Gründerzeit Ende des 18. Jahrhunderts erkennen, mit den einem Fachmann
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 04.12.2010
ISBN: 978-3-7368-9421-1
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