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Prolog

Ich schob mein Fahrrad über den Pausenplatz meiner neuen Schule. Ab Morgen würde ich hier zur Schule gehen. Und das war nur eine der vielen Veränderungen, die ich in den letzten Monaten erlebt hatte. Es waren vorwiegend gute Veränderungen und mir mehr als willkommen, aber sie machten mich trotzdem nervös. Und wie immer, wenn ich nervös wurde, wollte ich mich bewegen.

Als ich meinen fast-offiziellen-Adoptivvater, Sam, sagte, ich wolle raus, hat er mich praktisch dazu genötigt, mein neues Fahrrad, dass ich zum Einzug geschenkt bekommen hatte, einzuweihen. "Mach dich ruhig mal etwas mit der Gegend vertraut, aber geh nicht zu weit weg und sei um acht wieder hier", meinte er. Doch da kannte er mich schlecht. Bin ich mal unter freiem Himmel und legte so richtig los, vergass ich alles um mich herum und powerte mich so lange aus, bis ich kaum noch gerade stehen konnte. So war es schon immer. Ich bin oft nach einer der vielen Auseinandersetzungen mit meinem Vater aus dem Haus geflüchtet und stundenlang herumgerannt, ein Fahrrad hatte ich damals noch nicht, bis sich meine Angst, Wut und Trauer in einfache Erschöpfung verwandelte. Auch an diesem Abend spürte ich diesen inneren Drang mich zu bewegen. Mit dem Fahrrad kam ich jetzt natürlich viel schneller voran und legte eine viel grössere Distanz zurück. So viel zu "bleib in der Nähe"...

Als ich mich genug erschöpft hatte und auf die Uhr sah, war es bereits neun. Ich legte mich keuchend in eine Wiese und blieb so bis meine Knie aufhörten zu zittern. Dann machte ich mich auf den Heimweg. Nach etwa zehn Minuten fuhr ich an der örtlichen High-School vorbei und beschloss sie mir mal anzusehen. Die Schule bestand aus einem Hauptgebäude und einer separaten Turnhalle, sowie einem grossen Sportplatz und einem begrünten Pausenplatz. Ganz hübsch. Kleinstadtmässig halt. Da es nicht mehr zu sehen gab, wollte ich weiterfahren, da hörte ich leises Gelächter und Geflüster hinter der Turnalle. Neugierig wie ich war musste ich natürlich nachsehen. Ich wollte gerade um die Ecke schielen, da veränderte sich plötzlich das Lachen und wurde zu einem Stöhnen und ich hörte eindeutige schmatzende Geräusche. Das waren zwei männliche Stimmen die ich da vernahm! Ich machte auf der Stelle kehrt und raste, wie von der Tarantel gestochen, nach Hause.

 

Inzwischen war es dunkel, die Uhr zeigte bereits elf Uhr. Ich stellte das Fahrrad in die Garage und öffnete die Haustür. Aufgeregte Stimmen verstummten. "Bin wieder da", stiess ich immer noch völlig ausser Atem hervor. Ich hörte einen Stuhl umkippen, da kam Sam aus der Küche gerannt und warf mich beinahe um, als er mich in seine Arme schloss und los heulte. Stocksteif und völlig perplex stand ich da. "Was ist denn los?", fragte ich besorgt Marc, meinen zweiten fast-offiziellen-Adoptivvater, der hinter Sam aus der Küche kam. Dessen Miene wechselte bei meiner Frage von erleichtert auf stinkwütend. "Was los ist?! Was los ist?! Hast du mal auf die Uhr gesehen?", fuhr er mich an. Immer noch vollkommen verwirrt, starrte ich ihn weiter stumm an. Sam unterdessen schluchzte immer noch und erdrückte mich fast dabei. Ich hatte noch nie einem Mann so heulen gesehen. "Du hättest verdammt nochmal vor drei Stunden zu Hause sein sollen!", schrie Marc mich jetzt an. "Hast du eine Ahnung was für Sorgen wir uns gemacht haben?!" Ich blinzelte. Bisher hatte sich nie irgendjemand um mich Sorgen gemacht. Meinem Vater war es egal gewesen wann und ob ich nach Hause komme. Und in der Schule, die ich nur unregelmässig besucht habe, hatten die Lehrer mich nach ein paar Ermahnungen gleich aufgegeben. An mir seien Hopfen und Malz verloren, meinte einmal mein Klassenlehrer. Das es hier anders sein könnte, war mir gar nicht in den Sinn gekommen.

"Ich... ich dachte schon... dir wär was passiert", schniefte Sam. "E-Entschuldige, ich dachte nicht... Ich meine...", ich war immer noch völlig perplex. "Tu mir das nie wieder an! Du bist jetzt unser Sohn! Ich könnte es nicht ertragen, wenn dir was passiert." Langsam beruhigte sich Sam, liess mich los und lächelte mich an. Ich wusste nicht was ich sagen sollte. Ein Klos bildete sich in meiner Kehle und ich schluckte leer. Auch Marc fand langsam wieder zu seiner sonst so stoischer Ruhe zurück. Er sah mich streng an: "Wenn du später kommst musst du uns das sagen! Wir wollen informiert werden wo du bist und wann du nach Hause kommst, verstanden? Wir werden dir ein Handy besorgen, also ruf uns an, wenn was los ist!" Ich nickte brav. "Gut, und jetzt lasst uns essen!", meinte er zufrieden. Sie hatten mit dem Essen auf mich gewartet? Wieso dass denn? "Ihr hättet ruhig schon essen können", murmelte ich. Sam schüttelte den Kopf: " Wir sind jetzt eine Familie, Seth. Wir essen gemeinsam!", meinte er bestimmt. Ich spürte einen kleinen Stich im Herzen. Das war so... süss von ihnen. Ein anderes Wort wollte mir gerade partout nicht einfallen. 

 

Es war bereits 8 Monate her, dass ich Marc und Sam kennengelernt hatte. Sam kam als Vertretung unseres  Klassenlehrers zu uns an die Schule und war der erste Mensch, mich eingeschlossen, der merkte, dass ich Hilfe brauchte. Er zitierte mich immer wieder zu sich, redete auf mich ein, dass ich doch sagen soll was los sei, nur dann könne er mir helfen. Doch ich wollte seine Hilfe und vor allem sein Mitleid nicht. Zuerst schwieg ich eisern, als er trotzdem nicht aufgab, begann ich ihn zu beleidigen und anzuschreien, doch der Kerl war verdammt hartnäckig. Eines Tages rastete ich dann vollends aus und verpasste ihm eine, so dass er gegen die Wand flog. Ich war so geschockt über meine eigene Tat, dass ich in einem Anflug von Panik einfach abhauen und ihn da liegen lassen wollte. Gerade noch so konnte ich mich zum Umkehren durchringen und rief einen Krankenwagen. Der Krankenwagen kam und die riefen die Polizei. Ich wurde verhaftet und über Nacht in eine Zelle gesteckt. Sie informierten auch meinen Vater, doch der meinte nur lallend: "Dann bin ich die schmarotzende Kröte also endlich los, ja? Super!" und legte wieder auf. Ich dachte schon, das wars jetzt, doch am Morgen tauchte ein aufgebrachter Sam mit einem fremden Mann auf dem Revier auf. Er wollte mit mir reden und während der fremde Mann, Marc, den er als seinen Ehemann vorstellte, meine Kaution bezahlte, setzte er sich vor die Gitterstäbe.

Ich konnte ihm kaum in die Augen sehen. Mein Blick auf den Boden gerichtet, stotterte ich eine Entschuldigung. Mir traten Tränen in die Augen, als mir wieder bewusst wurde, dass ich mich wie mein Vater verhalten hatte. Ich wollte nie so werden wie er, aber anscheinend war ich ihm ähnlicher als ich wahr haben wollte. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich diesen Gedanken laut geäußert hatte, aber Sam hatte sie gehört. "Wie ist denn dein Vater?" Bei dieser Frage brachen bei mir alle Dämme. Es sprudelte förmlich alles aus mir heraus. Was er mir alles angetan, wie oft er mich verprügelt, gedemütigt, missbraucht hatte, wie aggressiv er war, wenn er getrunken hatte und wie er mich einmal zwei Tage in meinem Zimmer eingesperrt hat, ohne etwas zu Essen oder zu Trinken. Ein Polizist kam und schloss die Zelle auf und Sam kam herein und schloss mich in seine Arme, fuhr mir tröstend über den Rücken, redete mir gut zu, bis ich mich ausgeweint hatte. Dann überredete er mich dazu eine Aussage gegen meinen Vater zu machen, worauf hin dieser verhaftet wurde und meinen Platz in der Zelle bekam. Davon bekam ich in dieser Nacht aber nichts mit, dafür sorgten Sam und Marc. Das Jugendamt wurde eingeschaltet und ich wurde vorläufig in einem Heim untergebracht. Sam wollte mich zwar mit zu sich nehmen, doch das sei gegen die Vorschriften, meinte die Frau vom Jugendamt. Marc schien auch nicht begeistert von der Idee, immerhin war ich die Ursache für die leichte Gehirnerschütterung, die sein Geliebter davongetragen hatte. Aber das war für mich so schon in Ordnung. Im Heim war es immer noch besser als zu Hause.

Am nächsten Morgen als ich ins Krankenhaus musste, zur Untersuchung, standen die Beiden schon wieder auf der Matte und begleiteten mich. Beim gründlichen Check im Krankenhaus, konnten genug alte Knochenbrüche und Narben am ganzen Körper festgestellt werden, um meine Aussage zu untermauern und in unserer Wohnung fand man den Baseballschläger, den er gerne benutzte um mich zu verprügeln, mit seinen Fingerabdrücken am Griff und meinem Blut. Sam und Marc begleiteten mich durch den ganzen, schwierigen Prozess von der Anklage bis zur Verurteilung meines Vaters.

Er wurde zu neun Jahren Haft verurteilt. Die Anklagepunkte unter anderem Körperverletzung, Vergewaltigung und Freiheitsberaubung, sowie Vernachlässigung der Fürsorgepflicht. Nachdem es endlich vorbei war, fragten mich meine beiden Retter ob ich damit einverstanden wäre, wenn sie mich adoptieren würden. Ich war sprachlos über dieses Angebot. Die erste Frage, die aus mir rausplatzte, war, ob sie das überhaupt durften, so als Homosexuelles Paar. Sie lächelten und erklärten mir, dass es hier in Colorado erlaubt war. Mir schwirrten noch so viele Fragen im Kopf herum. Wieso sie so viel für mich auf sich nahmen, obwohl sie mich kaum kannten. Wie Sam mir so schnell verzeihen konnte, dass ich ihn angegriffen habe. Ob Marc wirklich damit einverstanden war. Am Anfang war er schliesslich total wütend auf mich, weil ich seinen Ehemann verletzt hatte. Wo sie wohnten. Was dann mit der Schule wäre, ich hatte schliesslich viel zu viel Stoff verpasst. Und am allerwichtigsten: "Ist das euer Ernst?" Sie lachten und dann klärten sie mit mir alle Unklarheiten auf, eine nach der Anderen, bis all meine Bedenken zerstreut waren und ich mit einem kleinen Lächeln und einem mir unbekannten Gefühl zustimmte. Sie umarmten mich beide nacheinander herzlich und setzten sofort die Papiere auf. Nachts als ich im Bett lag, an die Decke starrte und die Ereignisse des Tages Revue passieren liess, überkam mich wieder dieses Gefühl. So fühlte es sich also an, glücklich zu sein.

Auch heute, als ich mit meinen neuen Eltern am Tisch sass und die leckere Lasagne von Sam ass, spürte ich wieder dieses wohlig, warme Gefühl in meiner Brust...

Kapitel 1

Seine Hand krallte sich in meinen Haaren fest und riss sie unsanft nach hinten, sodass ich meinen Kopf in den Nacken legen musste. Ich schrie vor Schmerz auf. "Is' doch nur fair, wenn du mich Gegenzug dafür, dass ich dich die ganze Zeit mitdurchfüttere, ein bisserl unterhältst", lallte er und rieb sein ekliges Ding zwischen meinen Backen hin und her, bevor er mit einem einzigen Ruck in mich eindrang.

 

Schreiend erwachte ich, in Schweiss gebadet und um Luft ringend, den Schreck noch tief in den Gliedern. "Nur ein Traum, nur ein Traum, es ist vorbei, nie wieder..." Wie ein Mantra murmelte ich diese Worte immer und immer wieder vor mich hin, während ich mich meine Arme um meine Knie schlang und mich hin und herwiegte. Es klopfte an der Tür und Sam kam herein. Er nahm mich wortlos in die Arme und strich mir sanft über den Kopf. Marc kam auch zu uns und setzte sich hinter mich, sodass seine Schulter meine berührte und schenkte mir Trost, indem er einfach nur da war. Ich weinte nicht, denn wie immer nach einem Traum aus meiner Vergangenheit, hatte ich das Gefühl er beobachte mich und ich hab ihm auch damals nie gezeigt, wie sehr ich gelitten habe. Die beiden blieben bei mir sitzen, bis dieses Gefühl verschwand und ich mich wieder entspannte.

Dann lächelte Sam mich an und sagte: "Du musst keine Angst mehr haben. Er kann dir nichts mehr tun, das weisst du." Ich nickte. Marc klopfte mir väterlich auf den Rücken und erhob sich. "Schlaf noch ein bisschen, morgen musst du fit sein", brummte er. Ich zögerte, doch dann gab ich mir einen Ruck. Marc war schliesslich derjenige gewesen, der mir eindringlich versucht hat klar zu machen, dass ich sagen muss was ich will, da ich sonst mein Leben lang zu kurz kommen würde. "Eigentlich... Es ist doch schon fünf. Ich würd lieber aufstehen und eine Runde rennen gehen." Er hob die Augenbraue. Er schien nicht gerade begeistert. Doch gerade als ich anfing zu bereuen, überhaupt gefragt zu haben, antwortete er: "Wenn du meinst du bist trotzdem fit genug für die Schule... Ok. Aber diesmal musst du wirklich auf die Zeit achten, hast du verstanden? Du wirst an deinem ersten Tag ganz sicher nicht zu spät kommen!", meinte er streng. "Klar!", erwiderte ich erleichtert. Sam stand ebenfalls auf und klatschte in die Hände: "Dann mach ich, zur Feier deines ersten Schultages, ein leckeres Frühstück. Was meint ihr zu Pancakes?" "Du musst nicht extra meinetwegen...", doch weiter kam ich nicht. Er funkelte mich böse an und meinte stur: "Ich will aber! Also Pancakes." Damit verliess er fröhlich vor sich hinsummend das Zimmer. Sam war wirklich ein seltsam müttelicher Typ, ein bisschen erinnerte er mich an eine Bärenmutter, die ich mal in einer Doku gesehen hatte. Verwöhnt ihre Jungen bis zum geht nicht mehr und schlitzt jeder potenziellen Gefahr für die Kleinen mit ihren scharfen Klauen die Kehle auf, ohne auch nur zu zögern. Nur seine, für einen Mann, kleine (er war so um die ein Meter 70 gross), schmächtige Figur passte so gar nicht zu diesem Bild. Mit seinen rotbraunen Haaren, den grünen Augen und seinem strahlendem Lächeln erhellte er jeden Raum, den er betrat. Er war ein echter Sonnenschein mit einem unglaublich starkem Willen und Durchsetztungsvermögen. Ich wunderte mich immer wo er bloss seine ganze Kraft hernahm. Für mich war er ein echtes Mysterium.

Marc brummelte etwas von einer Dusche und schlurfte auch aus dem Zimmer. Mein zweiter Adoptivvater war für mich der Inbegriff eins Gryzzlis. Gute ein Meter 95 gross, mit breiten, muskulösen Schultern, dunkelbraunen Augen und Haare, sowie mit einer ungewöhnlich tiefen Bassstimme. Er war Manager der nächstgelegenen Filiale der Bank of Colorado und verdiente gut, was der Grund war wesshalb sie sich ein kleines Haus hatten kaufen können und die Mittel hatten um mich bei sich aufzunehmen. Sam, als Lehrer an einer Middleschool verdiente nicht viel, doch er liebte seine Arbeit und vor allem seine Schüler. Marc war richtig gut in seinem Job und hätte jede Chance auf eine Beförderung, aber er wollte nicht weg von hier und schon gar nicht ohne Sam. Wenn ihr mich fragt, war er auch einfach ein bisschen faul. Bei der Arbeit mochte er super sein, doch zuhause sah ich ihn nur gähnend durch die Gegend schlurfen. Wenn er etwas sagte brummte er meist, wie ein richtiger Bär, und döste andauernd auf dem Sofa ein. Ich muss an dieser Stelle jedoch bemerken, dass er trotzdem sich manchmal maulend erhob um Sam etwas im Haushalt zu helfen. Wir wollen ihm schliesslich nicht unrecht tun!

 Ich atmete noch einmal tief durch, dann zog ich mir eilig Trainerhosen und ein T-Shirt an und ging nach draussen. Vor der Haustür blieb ich nochmals stehen, streckte und dehnte mich ausgiebig, genoss dabei die ersten Sonnenstrahlen, die auf mein Gesicht fielen und joggte los. Ich schlug ein gemässigtes Tempo an, dass ich dann kontinuirlich erhöhte, bis ich so schnell rannte wie es ging. Ich lief richtung Kirche, damit ich immer eine Uhr im Blick hatte. Es half! Als ich zur Tür rein kam, meinte Sam es gäbe in zehn Minuten Frühstück. Gerade noch genug Zeit um schnell zu duschen. 

 Wir frühstückten gemeinsam, die Pancakes waren echt der Hammer. Danach wollte Marc mir den Weg zur Schule zeigen, doch den kannte ich ja schon. Als ich ihm das sagte, verzog er missmutig das Gesicht, blieb aber stumm. War er wütend auf mich? Sam lachte: "Nein er ist nicht wütend, er schmollt nur, weil er sich so darauf gefreut hat dich an deinem ersten Tag zur Schule zu fahren." Ich blinzelte erstaunt. Wieso sollte irgendjemand sich über so was freuen? "Das wär eben eine gute Gelegenheit, etwas Zeit mit dir zu verbringen und dich ein bisschen besser kennen zu lernen. So eine typische Vater-Sohn-Geschichte eben", meinte Sam schulterzuckend. Es leuchtete mir zwar immer noch nicht ganz ein, aber da ich nichts dagegen hatte, wenn er mich fuhr, beschloss ich mit ihm zu gehen. Marc schien erfreut, er grinste sogar ein bisschen. Also holte ich meinen Rucksack und wir fuhren los, nicht ohne dass Sam mir noch einen Kuss auf die Stirn drückte. Okay, dass war sogar mir peinlich, ich bin doch kein Kleinkind mehr. Trotzdem... musste ich zugeben, dass ich es genoss so bemuttert zu werden. Irgendwie... 

Die ersten Minuten der Fahrt schwiegen Marc und ich uns beide an. Dann brach Marc die Stille: "Bin nicht so gut darin ein Gespräch zu beginnen." Er räusperte sich. "Hast du alles was du brauchst für die Schule?", fragte er. "Ja, danke für die ganzen Sachen übrigens", murmelte ich verlegen. Die Adoptionsverfahren war noch nicht abgeschlossen, zuerst gab es eine Art Probezeit, in der das Jugendamt ein paar mal unangekündigt auftauchen würde, um zu überprüfen, dass es mir gut geht. Trotzdem hatten... meine Eltern, total seltsam sie so zu nennen, vor meinem Einzug mich mit zu sich genommen, mir mein zukünftiges, noch vollkommen leeres, Zimmer gezeigt und sind dann mit mir Einkaufen gefahren. Ich sollte mein Zimmer so einrichten wie es mir gefiel, meinten sie. Ich solle ihnen einfach sagen was ich möchte. Einfacher gesagt als getan! Ich hab noch nie eine freie Wahl gehabt und so dauerte es fast eine Stunde bis ich mich mal für ein Bett entschieden hatte. Doch die Beiden hatten eine Engelsgeduld. Am Ende des Tages hatten ich eine komplette Zimmereinrichtung für mich zusammengestellt und Marc sorgte dafür, dass sie zu ihnen nach Hause geliefert wurde. Anschliessend luden sie mich zum Essen ein. Bei Hamburgern und Pommes weihten sie mich dann in ihre pläne ein, morgen gleich nochmals zum einkaufen mitzunehmen. Diesmal für Schulsachen, Kleider und sie meinten, aus irgendeinem Grund, ich bräuchte auch einen Computer. Ich versuchte ihnen verzweifelt klar zu machen, dass das zu viel sei und ich doch gar nicht wüsste, ob ich auch bei ihnen bleiben könne. Sie sollten sich für mich nicht in solche Umkosten stürzen. Es half nichts. Hab ich schon erwähnt, dass Sam verdammt stur ist? Mich plagt auch jetzt noch das schlechte Gewissen. Sie waren einfach viel zu grosszügig! Sowohl mit Gütern als auch mit ihrer bedingungslosen Akzeptanz und Zuneigung. Das war doch einfach nicht normal! Natürlich war ich dankbar, sogar verdammt dankbar, für alles, aber trotzdem... 

"Das ist doch selbstverständlich!", meinte Marc. Nein, war es nicht... "Ich wollte dich was fragen", setzte er an. "Okay." Er zögerte: "Macht es dir... nichts aus, dass du jetzt mit einem homosexuellen Paar zusammenleben musst?" Die Frage schien ihm echt am Herzen zu liegen. "Wieso sollte es?", fragte ich zurück. "Na, weil du... das was dein Vater dir angetan hat..." Er brachte den Satz nicht zu ende. So unsicher hab ich ihn noch nie gesehen, er schien mir eher der Typ zu sein, den nichts und niemand aus der Ruhe brachte. Doch wenn ich jetzt so darüber nachdachte, war das bereits das zweite mal innerhalb der letzten zwölf Stunden. "So hab ich das nie gesehen. Ich mein ich kann schlecht alle Schwulen der Welt für die Taten dieses Ekels mitverantwortlich machen." Ich sagte ihm das ganz ruhig und sachlich, doch die Wahrheit war, dass es mir sehr schwer fiel, überhaupt über etwas zu reden, was auch nur ansatzweise mit meinem Erzeuger zu tun hatte. Ich atmete tief durch und gab mir einen Ruck: "Ausserdem steh ich selber auf Jungs, nur desshalb hat der Mistkerl, als er es herausfand, überhaupt begonnen über mich herzufallen. Er meinte, wenn ich so pervers sei, könne ich es ja auch ihm besorgen." Marc bremste abrupt und fluchte laut: "Dieser Mistkerl, wär er nicht bereits im Knast, würd ich ihm den Hals umdrehen!" Er wetterte noch eine Weile weiter, während er wieder den Gang einlegte und wieder weiterfuhr. Hinter uns hupte bereits jemand. Wir schwiegen bis wir bei der Schule ankamen. Als ich gerade aussteigen wollte, hielt er mich am Arm fest und sah mir fest in die Augen: "Danke das du mir so offen geantwortet hast, ich weiss, das ist dir nicht leicht gefallen. Ich möchte, dass du weisst, dass Sam und ich immer für dich da sein werden und du mit uns über alles reden kannst, was dich bedrückt. Klar?" Ich nickte und musste schon wieder einen Klos runterschlucken, der sich in meinem Hals gebildet hatte. "Gut und jetzt vergiss alles andere und geniess deinen ersten Schultag! Na los, raus mit dir! Bis heute Abend" Er klopfte mir auf die Schulter und winkte mir, als ich ausgestiegen war, noch zu, ehe er davon fuhr. Ich sah ihm hinterher, dann holte ich tief Luft, schulterte meinen Rucksack und betrat meine neue Schule.

Kapitel 2

Zum Glück war die Schule recht klein, so war es kein Problem das Sekretariat zu finden. Dort händigte man mir meinen Stundenplan und andere Papiere und Broschüren aus, zum Beispiel eine mit dem Sport- und Freizeitangebot der Schule. Dann bat man mich kurz zu warten, bis mein neuer Klassenlehrer mich abholen kommen und mir den Weg zum Schulzimmer zeigen würde.

Es dauerte nicht lange bis ein schlacksiger Riese mit grossen Brillengläsern hereinrauschte und sich mir als Frank Tysen, mein neuer Klassen- und Vertrauenslehrer vorstellte. Er schien ein netter, quirrliger Typ zu sein. Auf dem Weg zum Klassenzimmer, redete er ununterbrochen auf mich ein. Ich erfuhr, dass er Sam von ein paar Lehrerseminaren, die sie gemeinsam besucht hatten, kannte und gut mit ihm befreundet war. Dass ich von Sam und Marc adoptiert worden sei, würde sicher für Furore sorgen, meinte er. Die beiden waren, da sie ihre Beziehung so offen auslebten, zu so einer Art lokalen Berühmtheit geworden. Ich solle mir aber keine Sorgen machen, inzwischen habe diese kleine, konservative Stadt sich an die beiden gewöhnt und schätzen sie sogar. So gesehen sei es gut, dass die beiden hergezogen seien, das habe die Offenheit und Akzeptanz gegenüber Homosexuellen hier sehr gefördert. Er selbst sei vor vier Jahren mit seiner Frau und seiner Tochter, die auch hier zur Schule gehe,  hergezogen. Mir werde es hier sicher auch gefallen, dieses Städtchen sei wirklich ein Fleckchen Himmel auf Erden. Falls ich trotzdem Probleme oder Fragen schulischer oder privater Art habe, solle ich ihn ruhig jederzeit kontaktieren. Oder einen meiner Klassenkameraden, die werden mir sicher auch gerne weiterhelfen. All das spulte er in einem Tempo herunter, dass ich mich wirklich fragte, wie er überhaupt noch Luft holen konnte. Wir blieben vor einer Tür stehen. Er drehte sich zu mir um, sah mir fest in die Augen und fragte mit einer geradezu lächerlichen Ernsthaftigkeit: "Bereit?" Ich atmete einmal Tief durch und nickte. 

 

Herr Tysen öffnete die Tür und rief: "Guten Morgen, Klasse!" Die aufgeregten Stimmen verstummten und Stühle wurden zurechtgerückt. Ich betrat hinter dem Lehrer das Zimmer. So um die Zwanzig Augenpaare richteten ihren Blick auf mich und starrten mich an. Ich hasste es im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen! "Alle hergehört! Das ist euer neuer Mitschüler Seth Winston. Er ist eben erst hergezogen und kennt hier noch nicht viel, also helft ihm etwas sich zurechtzufinden, ja?" Zustimmendes murmeln ging durch die Reihen. "Okay, also... Setz dich doch da hinten auf den freien Platz neben Kai, Seth!", meinte Herr Tysen. Ein Junge mit asiatischen Gesichtszügen und einer Brille lächelte mich freundlich an. Ich erwiederte sein Lächeln und ging zu dem mir zugewiesenen Platz neben dem Fenster. "Wie wär es mit einer kurzen Vorstellungsrunde? Jeder sagt kurz seinen Namen und etwas kurzes über sich. Fang doch du gleich an, Seth." Wieder waren alle Augen auf mich gerichtet. Mist, ich hatte gehofft das irgendwie umgehen zu können. Ich meine, was soll ich denn erzählen? Ich wollte nichts preisgeben, dass zu weiteren persönlicheren Fragen führen könnte, doch ich wollte auch nicht lügen oder alles verheimlichen. Das würde nur zu Problemen führen, wenn es rauskäme. Unter ihren neugierigen Blicken, begann unruhig auf meinem Stuhl herumzurutschen. Dann gab ich mir einen Ruck und begann: "Mein Name ist Seth Winston. Ich komme aus Colorado Springs und bin erst vor zwei Tagen hergezogen. Ich lese gerne und bin ein ganz guter Läufer." Das sollte hoffentlich reichen. Denkste... "Ich hab gar nicht mitbekommen, dass jemand Neues hergezogen ist", meinte ein blondes Mädchen mit viel zu viel Schminke im Gesicht. "Wo wohnst du denn?", fragte sie neugierig. Ich seufzte. "Bei Sam und Marc Miller. Sie haben mich adoptiert." Überraschtes Aufkeuchen und dann ging das Getuschel los. Das blonde Mädchen sperrte schon ihren Mund auf, um die nächste Frage zu stellen, da wurde sie von Kai, meinem neuen Tischnachbarn, unterbrochen. Gott sei Dank! "Jetzt bin ich dran!", meinte er laut und sofort wurde es wieder still. Ich hatte ihn für einen typisch, schüchternen Streber gehalten, doch da die Klasse so auf ihn hörte, muss er wohl ziemliches Ansehen geniessen. Ich fragte mich wirklich, wie er sich das verdient hat.

"Mein Name ist Kai Nagasaki und ich leb schon seit ich denken kann in dieser kleinen Stadt. Meine Hobbys sind Lesen, vor allem Fantasy , und Onlinerollenspiele. In der Schule hab ich am liebsten Chemie." Also doch der totale Nerd? Er grinste mich selbstsicher an. Seltsamer Typ...

Herr Tysen meldete sich wieder zu Wort: "Kai ist Klassenchef und Jahrgangsbester. Wenn du Probleme mit dem Lernstoff hast, hilft er dir sicher gerne weiter." Also Lehrerliebling und Streber? Wie konnte es sein, dass so einem von einer Horde Teenager derartigen Respekt entgegengebracht wurde? Sogar die Blondine war verstummt als er sprach und hörte ihm aufmerksam zu. Ich nahm mir vor ihn mal danach zu fragen. Anschliessend ging die Vorstellungsrunde ungestört weiter. Alles in allem, war es eine typische amerikanische Highschoolklasse, mit den Sportlern, den Cheerleadermädchen, zu denen offensichtlich auch die Blondine, sie hiess Lisa, gehörte, den Skatern und einem ungewöhnlich hohem Anteil an Intelligenzbestien. Sie schienen alle ganz nett, zumindest gab es keinen, der mir feindseelig oder gehässig vorkam. Das war mehr als ich von meiner alten Schule hätte behaupten können. 

 

Da ich die Schule nur sporadisch besucht hatte, konnte ich mich nie richtig in die Klasse integrieren und wurde schnell zu einem beliebten Pöbelobjekt meiner Klassenkameraden. Vorallem die bulligen Footballspieler hatten es auf mich abgesehen. Ich war schmächtig und nicht sehr gross, das einzige muskulöse am mir, waren meine Beine. Das machte es für sie noch einfacher mich zu hänseln. Doch das war vorbei, erinnerte ich mich selbst. Ich hoffte nur, dass es sich diesmal anders entwickeln würde.

 

Der Unterricht begann. Bei Herr Tysen hatten wir als erstes Geschichte. Er erzählte voller Begeisterung und seinem, anscheinend üblichen, schnellen, Tempo von der Grichischen Antike und der Demokratie der Athener. Er verlor sich so sehr in seiner Lobrede für die damals so fortschrittlichen Gesellschaft, dass er uns alle damit ansteckte. Obwohl er sehr wohl auch die schlechten Seiten hervorhob und kritisierte, zum Beispiel die Sklaverei. Die Zeit verging wie im Flug und als es klingelte, konnte ich kaum glauben, dass es schon so spät war.

Kai lehnte sich zu mir rüber: "Hey Seth, was hast du als nächstes?" Ich kramte meinen Stundenplan hervor und verzog das Gesicht. "Mathe", grummelte ich missmutig. Ich war noch nie gut im Umgang mit Zahlen. Für ihn hingegen, schien das eine gute Nachricht zu sein. "Klasse! Ich auch. Dann können wir zusammen gehen." Das war tatsächlich eine gute Neuigkeit. Ich mochte Kai und er als Intelligenzbestie konnte mir sicher helfen, wenn ich etwas nicht verstand. Ich lächelte ihn dankbar an: "Das wär klasse! Ich bin nicht gerade ein Mathegenie, da könnte ich gut deine Hilfe gebrauchen." "Jederzeit! Frag einfach, wenn du was brauchst." Wir verliessen gemeinsam das Zimmer.

 

"Danke für vorher. Du hast mich da wirklich gerettet", eröffnete ich das Gespräch. "Kein Problem. Du darfst Lisa das nicht übelnehmen. Sie ist neugieriger als ihr guttut und kann einfach nichts für sich behalten, aber sonst ist sie wirklich in Ordnung", antwortete er. Na, wenn er das sagt... 

 "Allerdings wird sie kaum einfach so aufgeben, also würd ich mir überlegen, was du ihr erzählen willst und wie viel. Ansonsten lässt sie dich nie in Ruhe. Sie ist echt hartnäckig", warnte er mich.

"Oje..." Was sollte ich bloss sagen? Das Beste wäre es, bei der Wahrheit zu bleiben, doch im Moment brachte ich es noch nicht über mich, diese zu äussern. Nicht einmal mir selbst gegenüber. Wahrscheinlich würde ich das niemals können. Ausserdem wollte ich nicht bemittleidet werden oder, noch schlimmer, verachtet werden. Erst recht nicht für etwas das ich nicht beeinflussen konnte.

Kai schien zu merken, dass ich mir Sorgen machte. "Du brauchst ihr natürlich nichts zu erzählen, was du nicht preisgeben willst!", versuchte er mich zu beschwichtigen. "Wenn sie dich zu sehr löchert, sag ihr das möglichst deutlich und unhöflich. Sie ist ein totales Sensibelchen und wird sofort eingeschnappt sein. Dann hast du für eine Weile Ruhe." "Mach ich mich damit nicht bei allen unbeliebt?", fragte ich zögerlich. Er grinste. "Nein, kein bisschen. Jeder dieser Schule hat sie schon so zurechtgewiesen! Sogar Herr Tysen. Stell dir vor: Sie hatte wirklich die Nerven ihn über sein Sexleben mit seiner Frau zu löchern!" Jetzt musste ich auch lachen. Gott, das hab ich schon lange nicht mehr gemacht. "Hat ihr eine Woche Nachsitzten und eine halbstündige Standpauke eingebracht." Er kicherte. "Danach hat sie ihre Neugierde gegenüber den Lehrern etwas gezügelt."

"Sag mal, magst du Onlinegames?", wechselte er aprupt das Thema. Ich zuckte mit den Schultern. "Keine Ahnung, habs noch nie ausprobiert." Kai blieb urplötzlich stehen und als ich mich zu ihm umdrehte, starrte er mich mit offenem Mund und einem zutiefst schockierten Gesichtsausdruck an. Ich hatte plötzlich das Gefühl, mich erklären zu müssen. "Na ja, ich hatte nie einen eigenen Computer und bei den Geräten an unserer Schule waren solche Seiten gesperrt." Seine Augen weiteten sich noch mehr, soweit das überhaupt möglich war, und er sah mich an als käme ich von einem anderen Planeten. "Keinen Computer?", flüsterte er. "Äh... Nein..." War das wirklich so ungewöhnlich? "Marc hat mir jetzt einen Laptop gekauft. Er meinte ich würde ihn für die Schule brauchen. Aber ich weiss nicht so recht was ich mit dem Ding anfangen soll..." Kai erwachte endlich aus seiner Schockstarre und meinte dann entschlossen: "Du kommst heute nach der Schule mit zu mir. Mit deinem neuen Laptop." Das war eine Feststellung, die keinerlei Widerspruch duldete. "Weisst nicht was du damit anfangen sollst? Wär ja noch schöner... Weisst du eigentlich was dir da entgeht?", regte er sich weiter auf. Ich war etwas verwirrt. Ich hatte noch nie jemanden gesehen, der über so etwas prophanes so in Rage geraten konnte. Es war... amüsant. Ja, das schien mir das richtige Wort dafür zu sein.

 

Der restliche Schultag verlief gut. Im Unterricht kam ich bisher gut mit, ausser in Mathe. Die Lehrer waren alle mehr oder weniger in Ordnung und Lisa tauchte auch nicht mehr auf, obwohl ich in der Mittagspause schon fest damit gerechnet hatte.

 In den Pausen überhäufte Kai mich mit Computer- und vor allem Gameinfos, bis mir der Kopf schwirrte. Dabei verwendete er besonders viel Zeit darauf mir die Vorzüge seiner Lieblingsspiele vor Augen zu führen. Er nahm die Sache so ernst, dass es schon wieder komisch war und bestand auf ein Treffen nach der Schule. Ich wollte schon klein beigeben, da fiel mir ein, was für Sorgen Sam und Marc sich gestern Abend gemacht hatten. "Ich muss zuhause zuerst fragen, ob das klar geht und meinen Laptop hab ich auch nicht dabei. Wie wärs also, wenn du zu mir kommst?", fragte ich ihn etwas zaghaft.

Es mag seltsam klingen, aber es fiel mir richtig schwer diese Frage zu stellen. Einerseits, weil ich mich nicht daran erinnern kann, jemals jemanden zu mir nach Hause eingeladen zu haben, andererseits weil es mir etwas unheimlich war, wie schnell ich Vertrauen fasste zu Kai. Ich war ein unglaublich misstrauischer Mensch, liess kaum jemanden an mich heran. Sam war der erste Mensch in meinem Leben gewesen, dem ich mich geöffnet habe. Der zweite war Marc, was allerdings sehr zögerlich von statten ging, da er einiges grösser, muskulöser und dominanter war. Er erinnerte mich äusserlich zu sehr an meinen Vater. Es hatte eine Weile gedauert, bis ich begriff, dass unter seiner harten Schale ein plüschig weicher Kern steckte. Doch Kai kannte ich kaum einen Tag und ich hatte ihn bereits in mein Herz geschlossen.

Kai strahlte mich an, was seine niedlichen Grübchen betonte. "Cool! Ich hab gehofft, dass du das vorschlägst. Ich hab meinen Laptop dabei, also können wir, von mir aus, gleich nach der Schule los." Ich zögerte, doch dann gab ich mir einen Ruck. Hatte Sam nicht gesagt, dass er ruhig Freunde mit nach Hause bringen könne? Warum also nicht? Ich stimmte zu und Kai begann wieder von einem Game zu schwärmen, das "World of Warcraft" hiess.

Kapitel 3

Als ich mit Kai im Schlepptau nach Hause kam, war Sam noch nicht da. Ich holte für uns Cola und eine Tüte Chips aus der Küche, dann stiegen wir die Treppe hoch in mein Zimmer. Dabei fiel mir auf, wie vertraut mir hier bereits alles war und wie wohl ich mich hier fühlte. Dieses kleine Haus in dieser kleinen Stadt, war schon zu meinem Zuhause geworden. Der Gedanke brachte mich zum lächeln. 

Kai musterte mich von der Seite. "Na, das nenn ich mal ein zufriedenes Lächeln!" Er rieb sich die Hände. "Mal sehen, ob wir diese Zufriedenheit nicht in Begeisterung umwandeln können." Dann legte er los.

Als Sam nachhause kam und an meine Zimmertür klopfte, sassen wir nebeneinander auf dem Bett und gestalteten gerade gemeinsam meinen Gamecharakter für ein Spiel namens "Perfect World". Als er Kai sah, stahlte er mich überglücklich an und seine Augen wurden feucht. Gott, dieser Mann war wirklich eine Heulsuse. Er hatte sich anscheinend wirklich grosse Sorgen darüber gemacht, ob ich an der neuen Schule Freunde finden konnte. Jetzt als er mich mit Kai sah, fiel im ganz offensichtlich ein Stein vom Herzen. Er bestand darauf, dass Kai bei uns zu Abend essen soll und verliess dann glücklich lächelnd das Zimmer. 

"Kennst du Sam und Marc bereits?", fragte ich Kai, als mein Adoptivvater Nr. 1 gegangen war. "Klar, wer kennt ihn nicht? Die Hälfte unserer Klasse ging bei ihm in die Grundschule. Ausserdem sind er und Marc gewissermassen berühmt hier."Und es macht dir nichts aus, dass sie... schwul sind?", fragte ich vorsichtig weiter. Er sah mich erstaunt an. "Wieso sollte es? Sam ist war ein echt klasse Lehrer und ich kann ihn gut leiden, Marc kenn ich zwar nicht so gut, aber er scheint ein netter Kerl zu sein. Was soll ihre sexuelle orientierung daran ändern?" Das Kai das so locker sah überraschte und beruhigte mich gleichermassen. Kai sah mich etwas verunsichert an. "Macht es dir dann etwas aus?" Ich schreckte aus meinen Gedanken hoch. "Was?... Nein, nein!", wehrte ich schnell ab. Leise ergänzte ich: "Ich bin ja selbst auch schwul." Es fiel mir unglaublich schwer das zuzugeben, nach Erfahrung mit dem letzten Comingout. Doch ich wollte hier keine Freundschaft auf der Basis von Geheimnissen aufbauen. 

Er nickte nur, als ob das von Anfang an klar gewesen wäre. "Das hast du bereits gewusst?", fragte ich erstaunt. "Ich hab es vermutet, ja. Nicht das man dir das ansieht, aber ein Hete hätte wohl mehr Mühe damit gehabt, dass seine Adoptiveltern ein gleichgeschlechtliches Paar sind." "Ja, da hast du wohl recht..." Nach einem kurzen unangenehmen Schweigen ergänzte Kai: "Vielleicht... Kann sein, dass ich auch Schwul bin." Ich glotzte ihn mit grossen Augen an. "Kann sein?", fragte ich zurück. "Na ja... Ich war noch nie direkt auf nen Kerl scharf, oder so. Aber ich glaube ich hätte nichts dagegen, wenn ich mich in einen Mann vergucken würde. Obwohl ich schon auch auf Titten stehe..." Es klang als versuchte er selbst sich noch darüber klar zu werden.

Ich hatte keine Ahnung was ich darauf antworten sollte. Nach einem weiteren peinlichem Schweigen, klatschte Kai in die Hände, so dass ich zusammenfuhr, und forderte mich auf endlich mit dem Spiel weiter zu machen. Nach nur wenigen Minuten war die befangene Stimmung verschwunden und wir waren so in "Perfect world" vertieft, dass Marc, der inzwischen auch zu Hause war, eine halbe Stunde später nach oben kommen musste, um uns zum Essen zu holen. Sams dreimaliges Rufen hatten wir nicht gehört.

Es wurde ein tolles Abendessen mit viel Lachen und einer kleineren Sauerei als Kai bei einem Witz von Sam so lachen musste, dass ihm seine Coke aus der Hand fiel. 

Es war toll! Ich hab mich noch nie so geborgen und willkommen gefühlt. Für eine Weile konnte ich tatsächlich die Vergangenheit hinter mir lassen.

Doch eigentlich hätte mir klar sein müssen, dass es nicht so einfach sein konnte. 

Kapitel 4

Zitternd und schweissgebadet schlug ich die Augen auf. Schon wieder hatte mich meine Vergangenheit in meinen Träumen verfolgt. Doch diesmal war es schlimmer! Ich kann mir nicht erklären wieso...

Ich setzte mich auf, zog meine Knie an und umarmte diese. So schaukelte ich immer noch zitternd hin und her. Murmelte dabei immer wieder mein Mantra: "Es ist vorbei, vorbei... Nie wieder... vorbei..." Ich wartete bis das zittern nachgelassen hatte, bevor ich den Kopf hob und auf die Uhr sah. Zwei Uhr Nachts... Ich war müde, aber ich wollte nicht mehr schlafen. Ich hatte einfach zu viel Angst! Angst von den Bildern, die in mir aufflammten sobald ich die Augen schloss und Angst vor meinen körperlichen Reaktionen auf eben diese Bilder. Sah ich in meinen Träumen wie er mich schlug und verprügelte, hatte ich an den betroffenen Stellen beim Aufwachen tatsächlich Schmerzen, die aber schnell wieder abklangen. 

Ich fürchtete mich viel mehr von jenen Träumen in denen er mich sexuell missbrauchte. Denn sah ich diese Bilder wieder, erwachte ich mit einer steinharten Erektion. Genauso wie es damals war. Ich hasste was er mit mir machte! Mir wurde Speiübel vor Ekel und Hass. Ich wollte immer nur, dass er aufhört, flehte ihn sogar an. Und trotzdem... Nach den ersten paar Malen, hat mein Körper mich bei allen folgenden schändlichst hintergangen. Er begann zu reagieren. Seine Berührungen, die bei mir Brechreiz auslösten, begannen mich gleichzeitig zu erregen. Und wenn er in mich eingedrungen ist... Es ist sogar vorgekommen, dass ich gekommen bin. Ich verstand einfach nicht wieso!

Wieso bloss? Was war ich für ein kranker Mensch, wenn mich solche Misshandlungen tatsächlich anturnten?! Ich hasste mich dafür, hasste meinen Körper und verabscheute ihn. Er sollte einfach verschwinden, zur Hölle gehen, verrecken. Mir egal, hauptsache weg.

"Er ist weg", erinnerte ich mich selbst. "Er ist im Gefängnis, er kann mir nichts mehr tun."

Inzwischen wusste ich auch, dass mich keine Schuld traf, dass es vollkommen natürlich ist, so zu reagieren. Mein Therapeut, zu dem mich Sam geschleppt hatte, erklärte mir, dass der Körper darauf ausgerichtet ist wiederholte, zu schmerzhafte Erfahrungen abzuschwächen, damit wir sie besser ertragen können. Er passt sich den Gegebenheiten an. Und um Schmerzen zu überdecken ist Erregung ein sehr gutes Mittel. Er betonte in unserer ersten Sitzung von ein paar Tagen immer wieder, dass ich mir klar machen müsse, dass ich mich nicht dafür zu schämen brauche. Jedem anderen in meiner Situation wäre es ähnlich ergangen, meinte er. Ich hoffte schwer, dass er Recht hatte.

 

Ich gab es auf nochmals etwas zu schlafen und zog mir leise meinen Trainerhose und ein T-Shirt an. Dann schlich ich leise die Treppe runter, nach draussen und rannte los. Ich lief und lief, bis ich etwa zehn Minuten später am Stadtrand ankam. Ich beschleunigte meine Schritte noch mehr und rannte direkt in den Wald. Die Gerüche von feuchtem Laub, Harz und Erde und die Geräusche, das rascheln von Blättern, der Ruf einer Eule und das knacken von Zweigen im Unterholz fluteten meine Sinne.

Nach einer Weile wurden meine Schritte langsamer und ich blieb keuchend stehen.

Als ich versuchte wieder zu Atem zu kommen, schossen plötzlich, ohne Vorwarnung wieder Bilder auf mich ein. Ich sackte auf dem Waldweg zusammen und hielt mir mit beiden Händen die Ohren zu. Es tat so weh!

 

 

Nein, hör auf! Bitte tu mir nicht weh! Was hab ich dir denn getan?!

 

Tränen rannen mir heiss übers Gesicht. Vor meinen Augen verschwamm der Wald zu einer dunklen, grünen Masse.

Wieso? Wieso nur musste ich es, auch jetzt noch, immer wieder durchleben? Ich hatte nun doch ein neues Leben! Und es war richtig schön. Ich könnte hier glücklich werden...

Warum sah ich diese ganzen Bilder immer wieder! Und wieder... und wieder...

 

"Seeeth!"Jemand rief nach mir. Hier, mitten im Wald? Ich drehte verwirrt meinen Kopf in die Richtung. Dort kamen, Marc und Sam angerannt. Die sollten doch tief und fest schlafen. Hatten sie etwa gehört wie ich mich rausgeschlichen hatte? Und sind mir dann die ganze Strecke bis hierher gefolgt?

Noch mehr Tränen schossen mir in die Augen und schluchzend rappelte ich mich auf. Gerade noch rechtzeitig, damit Marc mich in seine Arme schliessen konnte. Seine muskulösen Arme umfingen mich und er zog mich an sich. Wie eine warme, schützende Hülle, die alles Böse fernhalten sollte. Ich klammerte mich an seine breiten Schultern und heulte, schluchzte, schrie, weinte. Liess mich vollkommen fallen und entfesselte all den Schmerz, die Trauer, den Hass, auch jenen auf mich selbst, den ich solange verdrängt und verschwiegen hatte. Ich liess alles raus, solange bis ich keine Kraft mehr hatte.

Ich musste eingeschlafen sein, denn als ich aufwachte, waren wir bereits wieder fast beim Haus. Marc trug mich und ich schmiegte meine Wange an seine Schulter und schlief wieder ein.

Kapitel 5

Als ich erneut die Augen aufschlug lag ich in meinem Bett und neben mir auf dem Boden sass Sam, sein Kopf auf einem Kissen am Bett angelehnt, und schlief.

Er und Marc mussten total erschöpft sein. Seit ich hier war, hatten sie meinetwegen kaum eine Nacht mal durchschlafen können. Ich hatte deswegen ein richtig schlechtes Gewissen. „Hätten sie einen schreienden Säugling adoptiert könnten sie wahrscheinlich mehr schlafen“, ging es mir durch den Kopf.

Die Beiden nahmen viel zu viele Unannehmlichkeiten für mich auf sich. Wieso gaben sie sich so viel Mühe? Ich war es nicht wert, dass sie sich so verausgabten. Sie verdienten alles Glück dieser Welt für das was sie alles für mich getan hatten. Ich durfte Ihnen nicht noch mehr zur Last fallen.

 

Also zwang ich mich zu einem Lächeln und rüttelte ihn leicht an der Schulter. Er blinzelte und rieb sich die Augen. „Guten morgen“, sagte ich lächelnd und versuchte es möglichst unbeschwert klingen zu lassen. Er gähnte Herzhaft und streckte seine steifen Glieder. „n’Morgen“, nuschelte er verschlafen. „Wie spät ist es?“ Ich schaute auf den Wecker und mein Lächeln brach in sich zusammen. „Scheisse! Es ist schon zehn Uhr?!“ Die Schule hatte bereits angefangen. Ich rappelte mich auf und wollte gerade aufspringen und ins Bad huschen, da packte mich Sam an den Schultern und drückte mich unwirsch wieder aufs Bett zurück. „Nur keine Hektik! Ich hab Frank angerufen und gesagt, dass es dir nicht gut geht. Du bist für heute entschuldigt. Du kannst, wenn du willst trotzdem noch hingehen, aber du brauchst dich nicht so zu beeilen. Ausserdem würde ich gerne noch mit dir über heute Nacht reden, wenn das ok ist.“

Nervös rutschte ich auf dem Bett herum. Ich verzog mein Mund zu einem Lächeln und erwiderte etwas zu hastig: „Ich hatte bloss schlecht geträumt, du brauchst dir keine Sorgen zu machen. So was wie heute kommt nicht wieder vor, versprochen!“ Nachdenklich sah er mich an, setzte sich schliesslich neben mich und zog mich in eine feste Umarmung. „Ich möchte aber, dass es wieder vorkommt“, meinte er. Mein Lächeln entglitt mir wieder und ich sah ihn verwirrt an. „Ich meine das ernst!“, beteuerte er. „Ich möchte, dass du weinst, schreist, tobst, lachst und dich freust. Ich möchte, dass du alles rauslässt, uns alles zeigst, jede Emotion. Ich möchte wissen wie es dir geht und ich möchte wissen, was dich mitnimmt und beschäftigt, also bitte halte dich uns gegenüber nie zurück. Nie! Hast du verstanden?“

Das hatte ich, aber was er da von mir verlangte war unmöglich. Ich konnte ihnen nicht alles zeigen, denn dann würden sie erkennen, wie kaputt und befleckt ich wirklich bin. Sie würden sehen, was für ein ekelerregendes Geschöpf sie sich ins Haus geholt hatten. Und sie würden mich nicht mehr wollen. Ich würde es nicht ertragen meine einzig wahre Familie, die ich je hatte, wieder zu verlieren.

 

Stumm schüttelte ich den Kopf und versuchte krampfhaft die Tränen, die mir in die Augen stiegen, wegzublinzeln.

Sam strich mir sanft über die Haare und flüsterte mir zu: „Du bist noch nicht lange bei uns, doch glaub mir, ich kenn dich schon recht gut und ich möchte dich gerne noch besser kennenlernen. Du bist ein toller Junge, mit einem starken Charakter, der eine verdammt schwere Bürde tragen musste. Doch nun hast du mich und Mark. Wir werden dir helfen diese Bürde zu tragen, wenn du uns nur lässt.“

Schon fielen die Dämme und heisse Tränen rannen über mein Gesicht. „Aber... Ihr werdet mich irgendwann satt haben, mich nicht mehr ertragen können. Ich will nicht mehr von hier weg müssen!“, brach es verzweifelt aus mir heraus.

Energisch nahm er mein Gesicht in seine Hände und zwang mich ihn anzusehen. „Hältst du uns für so schwach? Wir lieben dich, Seth. Wir würden dich nie wieder hergeben. Und wenn du uns mal auf die Nerven gehst, was ich für sehr unwahrscheinlich halte, werden wir darüber reden und gemeinsam eine Lösung finden. Das hier ist jetzt dein Zuhause und das wird es immer bleiben, Seth. Ok?“

Erst als ich zögerlich nickte, liess er mein Gesicht los und zog mich wieder in seine Arme. Leise weinte ich an seiner Schulter und war einfach so unglaublich dankbar dafür, dass ich diesem tollen Menschen begegnen durfte. Er war wirklich ein Engel. Mein ganz persönlicher Schutzengel...

 

„Na, aufgewacht?“, kam es von der Tür. Ich hob meinen Kopf und erstarrte. Da stand Marc in der Tür, dieser breitschultrige, muskulöse, grosse Mann mit einer rosa Kochschürze auf der Stand „Cute Cook“ und einer Bratpfanne in der Hand, aus der verdächtig, schwarzer Rauch aufstieg. Ein seltsamer Laut drang aus meiner Kehle und meinen ganzen Körper erbebte, dann brach es aus mir heraus und ich lachte schallend. Sam drehte sich ebenfalls zur Tür und prustete auch gleich los. Marcs Gesichtsausdruck wechselte schnell von verwirrt zu pikiert, was uns noch mehr zum Lachen brachte. Wir konnten uns gar nicht mehr einkriegen und hielten uns die Bäuche.

„Wenn ihr fertig seid, kommt runter. Frühstück ist fertig“, grummelte er beleidigt, ehe er kehrt machte und zurück in die Küche ging. Wir kringelten uns noch eine ganze Weile vor Lachen, bevor wir uns beruhigten und es schafften aufzustehen.

 

Unten im Esszimmer bewahrheitete sich, was Sam mir auf dem Weg erzählt hatte: Marc konnte nicht kochen. Wirklich kein bisschen. Er schaffte es nicht einmal Spaghetti zu kochen. Es war mir schleierhaft, was man dabei falsch machen konnte, aber so war es.

Dementsprechend war auch das Frühstück, dass er liebevoll auf zwei Tellern angerichtet hatte. Es war eine einzige schwarze, krümelige Masse, die er als Omelett anpries. Infolge eines missglückten Rettungsversuchs hatte er Äpfel und Orangen klein geschnitten und darüber gestreut. Obwohl „geschnitten“ war das falsche Wort, eher bei dem Versuch gematscht.

Sam und ich versuchten krampfhaft nicht wieder los zu lachen. Aber das Lachen verging uns wieder, als wir den ersten Bissen probierten und er uns mit grossen, leuchtenden Bärenaugen anstarrte.

Keiner von uns brachte es fertig ihm zu sagen, dass es scheusslich schmeckte. Zu salzig, verbrannt und irgendwie mehr nach Mehl, als nach Milch und Eiern. Das bedeutete für uns, dass wir uns zusammenreissen und bis zum letzten Bissen alles runterwürgen mussten.

Als wir aufgegessen hatten, standen uns Tränen in den Augen und mir war übel. Marc nickte zufrieden, verzog dann das Gesicht zu einer hämischen Grimasse und sagte: „Geschieht euch recht!“

Sam schnappte entsetzt nach Luft. „Du hast gewusst wie grauenhaft es schmeckt?!“ Schadenfroh grinste er uns an: „Natürlich! Wieso meinst du hab ich nichts gegessen?“ Dann stolzierte er mit hocherhobenem Kopf, den Tellern in der Hand und immer noch mit der rosa Schürze in die Küche, um sie in die Spüle zu stellen.

Wir starrten ihm halb wütend, halb amüsiert hinterher. Sam wandte sich mir zu und wisperte: „Irgendwann zahlen wir ihm das heim!“ „Bin dabei!“, murmelte ich und fügte noch hinzu: „Aber jetzt brauch ich einen Saft. Wenn ich den ekligen Geschmack nicht gleich loswerde, muss ich mich noch übergeben.“ Damit erhob ich mich und folgte Marc in die Küche. „Wie Recht du hast! Bring mir auch einen mit!“, rief mir Sam hinterher.

 

Ich entschied mich trotzdem noch zur Schule zu gehen. Einerseits weil ich gerne Kai wiedersehen wollte, andererseits hatten wir an diesem Nachmittag Sport und da wollte ich gerne dabei sein. Also packte ich meine Tasche und mein Fahrrad und machte mich auf den Weg.

Dort angekommen klingelte es gerade und ich hetzte in Richtung Turnhalle. Ich wusste noch nicht genau, wo die Umkleide war und platzte deshalb fast in die Mädchenumkleide. Gerade noch rechtzeitig rief jemand hinter mir: "Stopp!"

Ich drehte mich erstaunt um und sah hinter mir im Gang einen grossen Typen in Trainerhosen und einem engen Sportshirt unter dem sich seine wohldefinierten Muskeln abzeichneten. Er war etwa in meinem Alter, aber gut einen Kopf grösser, hatte sonnengebräunte Haut, schwarze Locken und wunderschöne, dunkelbraune, fast Schwarze Augen. Ich unterdrückte ein sehnsüchtiges Wimmern. Der war so was von mein Typ!

Er starrte mich wütend an. "Was hattest du gerade vor, du Perverser?!" Er stampfte zornig auf mich zu und wollte mich am Kragen packen. Nackte Panik befiel mich und ich begann unkontrolliert zu zittern. Plötzlich sah ich nicht mehr den gutaussehenden Jungen vor mir, sondern einen alten, betrunkenen Schläger. Meine Knie gaben nach und ich kauerte mich auf dem Boden zusammen, die Hände schützend um meinen Kopf gelegt. Zitternd und verängstigt, wartete ich auf die üblichen Schläge, die folgen würden.

"Was soll'n das?", ertönte die Stimme über mir. Sie klang verwirrt und es kamen keine Schläge. Doch ich konnte mich noch immer nicht rühren.

Da ertönte die erschrockene Stimme von Kai hinter dem Großen Typen. "Timmy! Was machst du denn da mit Seth?"

Mein Schutzengel! Kai kam zu mir geeilt legte mir die Hand auf die Schulter und half mir auf. Mein Zittern liess etwas nach. Mit besorgtem Blick sah er mich an: "Alles in Ordnung Seth? Was ist denn passiert?" Als ich nicht antwortete, wandte er sich mit tödlichem, bösem Blick diesem Timmy zu: "Was hast du gemacht?!"

Timmy kratzte sich hilflos am Kopf. "Ich hab nichts gemacht! Ich schwörs! Ich hab den Typen gesehen, wie er gerade in die Mädelumkleide gehen wollte und habe ihn aufgehalten. Ich bin vielleicht etwas laut geworden, aber das ist auch schon alles!" Kai musterte ihn misstrauisch.

Mädchenumkleide?! Deswegen ist er so laut geworden? Und ich klappte hier als zitterndes Häufchen zu seinen Füssen zusammen. Mann, war mir das peinlich!

 Ich versuchte krampfhaft meine Stimme wieder zu finden. "T-Tut mir Leid ich dachte, das sei die Jungsumkleide", krächzte ich.

"Na klar, das kann jeder sagen", spottete Timmy. Kai starrte ihn wütend an. "Darf ich vorstellen Timmy? Seth. Er ist vor wenigen Tagen hergezogen. Heute ist erst sein zweiter Schultag!" Timmy blinzelte überrascht und sah reumütig zu mir. "Verstehst du jetzt? Er wusste wirklich nicht wo die Jungsumkleide ist!", zischte er den grösseren an.

Zerknirscht starrte Timmy auf seine Turnschuhe: "Tut mir Leid, ich hätte dich nicht so anfahren dürfen." Er sah zu mir auf mit einem kleinen Lächeln auf dem Gesicht. "Freut mich dich kennen zu lernen. Seth, richtig?" Er streckte mir die Hand entgegen.

Inzwischen hatten meine Knie aufgehört zu zittern und ich konnte wieder aufrecht stehen. Ich reichte ihm die Hand. "Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Ich hätte mich an deiner Stelle auch für einen Spanner gehalten und ähnlich reagiert", versuchte ich ihn zu beschwichtigen. Ich senkte meinen hochroten Kopf und fügte noch hinzu: "Mir... tut es Leid, dass ... ich so blöd reagiert hab." Mein Gesicht musste inzwischen etwa die Farbe einer reifen Tomate haben. Scheisse, war das peinlich!

Timmy grinste mich fröhlich an: "Kein Problem! Vergessen wir das ganze doch einfach und fangen nochmal neu an. Hi, ich bin Timothy Marks, aber nenn mich ruhig Timmy. Das tun hier alle." Er schüttelte nochmals meine Hand, die er immer noch festhielt.

Kai nickte zufrieden. "Timmy geht in unsere Parallelklasse. Kann sein, dass du ein paar Kurse mit ihm hast." Ich zwang mich zu einem Lächeln und stellte mich ebenfalls vor: "Mein Name ist Seth Winston. Freut mich auch." Meine Stimme zitterte ein wenig.

Endlich ließ er meine Hand los. Zum Glück, der feste Händedruck fühlte sich einfach zu gut an. Was gar nicht gut ist... Noch ein bisschen länger und ich hätte laut aufgestöhnt vor Wonne. Das ging gar nicht! Ich kannte diesen Typen doch überhaupt nicht. Was war bloss los mit mir?! Im einen Moment brach ich zusammen vor Angst und im nächsten war ich erregt von einem einfachen Händedruck? Jetzt gingen die Pferde eindeutig mit mir durch. Als ob ich in den letzten Tagen nicht genug Gefühlsschwankungen gehabt hätte.

Timmy klatschte in die Hände: "Wir müssen uns beeilen, wir sind sowieso schon spät dran." Also machten wir, dass wir zum Unterricht kamen.

Kapitel 6

Ich mochte Timmy. Er war augenscheinlich ein offener, fröhlicher Typ mit einem wunderschönen, herzlichem Lachen. Er strotzte vor Selbstbewusstsein, wirkte aber kein bisschen arrogant. 

Er schien sehr beliebt zu sein, kaum kamen wir nach Sport aus der Umkleide, war er schon von Mädchen umringt. Und er schien ihre Aufmerksamkeit zu geniessen, was mir wiederum einen Stich versetzte. Total lächerlich! Wie gesagt; ich kannte ihn ja gar nicht.

Er unterhielt sich mit den Mädels und lachte mit ihnen, über irgendetwas. Seine Augen schienen dabei geradezu funkeln und seine tollen Locken... Mir lief ein warmer Schauer den Rücken runter.

Hastig wandte ich den Blick ab und wurde schon wieder rot.

"Du findest ihn heiss!", tönte es neben mir. Ich zuckte erschrocken zusammen und starrte Kai entgeistert an. "Wie bitte?!" Sah man mir das so an? Himmel ich musste besser aufpassen.

Kai grinste mich frech an. "Du stehst auf ihn, das sieht sogar ein blinder." Gab es ein röteres Rot als Tomatenrot? Falls ja, hatte mein Gesicht jetzt genau diese Farbe! "So ein Quatsch..." Doch das klang nicht mal für meine Ohren überzeugend. Kai lachte: "Das braucht dir doch nicht peinlich zu sein. Er ist wirklich ein toller Typ. Und diese Muskeln... Ich kann dich gut verstehen.

Ich kenne ihn seit dem Kindergarten. Da hat er bei meinem Vater im Dojo angefangen." Ich muss verwirrt ausgesehen haben, denn er klärte mich gleich auf. "Mein Vater betreibt eine Karateschule. Ich hab dort seit meiner frühsten Kindheit trainiert, genau wie Timmy. Er ist ein echt guter Freund und in diesem Kaff mein einziger echter Konkurrent." Ich starrte ihn ungläubig an. Kai war nicht sehr gross, vielleicht knapp ein Meter 70 und besonders muskulös sah er auch nicht aus. Gut trainiert schon, aber nicht halb so muskulös wie Timmy. Obwohl... Im Karate geht es nicht nur um Muskeln, oder? Das würde auch erklären, wieso Kai so viel Respekt in der Schule genoss. Es wollte sich einfach keiner mit ihm anlegen! Ich war schwer beeindruckt und sagte ihm das auch, doch er wiegelte ab: "So gut bin ich auch nicht. Timmy wird mich bald überholen, vor allem weil er, im Gegensatz zu mir, mit ganzem Herzen dabei ist. Ich hab nur bisher Karate gemacht, weil mein Vater es von mir verlangt hat." "Macht es dir denn gar keinen Spass?", fragte ich nach. "Doch schon, aber ich möchte das nur hobbymässig machen, verstehst du? Und mein Vater möchte gern, dass ich mal den Dojo übernehme, woran ich überhaupt kein Interesse habe. Ich möchte lieber Schriftsteller werden." Ich grinste. Kai wurde mir immer sympathischer. "Ich krieg bestimmt ein handsigniertes Exemplar deines ersten Buches, oder?" "Natürlich! Was denkst du denn von mir?", entrüstete sich dieser. Sein gespielter Ernst brachte mich zum Lachen.

Er fragte mich nicht mehr nach meinem Zusammenbruch vorhin, wofür ich ihm ausgesprochen dankbar war.

 

Es klingelte in die nächste Stunde. Vor mir lag noch eine Doppelstunde Englisch. Und das nach einer Doppelstunde Sport! Grauenhaft! Kai hatte jetzt Physik, aber wie sich herausstellte war dafür Timmy auch in meinem Englischkurs. Mein Herz setzte einen Schlag aus, als er zur Tür reinkam und plötzlich freute ich mich auf die folgenden zwei Stunden. Erst recht als er mich bemerkte, und sich lächelnd neben mich in die hinterste Reihe setzte. "Hey, ist es ok, wenn ich hier sitzet?", fragte er. Ich musste mich räuspern um den Klos im Hals loszuwerden. "K-Klar", brachte ich gerade noch so heraus.

Sein Gesicht wurde plötzlich ernst und er meinte nachdrücklich: "Ich wollte mich nochmal entschuldigen. Ich wollte dich nicht so erschrecken. Sorry." Ich schluckte, zuckte mit den Schultern und presste ein gezwungenes Lachen hervor. "Du kannst doch überhaupt nichts dafür! Kannst ja nicht wissen, dass ich so ein Angsthase bin."

Er musterte mich nachdenklich. "Ich glaub nicht, dass du ein Angsthase bist. Da steckt doch noch etwas anderes dahinter, oder?", platzte es aus ihm heraus. Er schien aufrichtig besorgt. Ich schluckte wieder leer und wandte mein Gesicht ab. "Du brauchst natürlich nicht darüber zu reden, wenn du nicht willst", beeilte er sich zu sagen. "Aber falls... du mal jemanden zum reden brauchst..." Er raufte sich die Haare; "Sorry, das geht mich natürlich nichts an und wir kennen uns ja auch kaum. Das war blöd von mir." 

Ich war gerührt. Das war total... lieb von ihm. 

Ich zögerte, dann lächelte ich ihn an; "In diesem Fall... Wie wärs, wenn wir uns mal kennen lernen?" Er strahlte mich an. Und bis die Lehrerin kam und auch in der Pause, quatschten wir miteinander über alles mögliche, als wären wir schon ewig gute Freunde. Wobei er eindeutig mehr redete als ich.

 

Nach der Schule wartete Kai auf dem Pausenhof auf uns. "Was habt ihr nachher noch vor?", fragte er. Timmy zuckte mit den Schultern. "Noch gar nichts. Da im Moment keine Klausuren anstehen, hab ich zur Abwechslung mal etwas Freizeit." "Und du, Seth?" Ich seufzte. "Ich muss Mathe nachholen. Ich hab kaum die Hälfte des Stoffs kapiert, den ich beherrschen müsste." Ich verzog das Gesicht und konnte nicht verhindern, dass meine Stimme flehend klang; "Ich will dich nicht um deine Freizeit bringen, aber könntest du mir bitte helfen, Kai?"

 Er grinste vom einen Ohr zum andern. "Klar, kein Problem! Ich hab doch gesagt, dass du bloss fragen musst. Gehen wir wieder zu dir?" "Wenn das in Ordnung für dich ist..." "Abgemacht!"

Timmy murrte: "Mathe ist auch nicht gerade meine Stärke. Diese Gleichungen mit mehreren Unbekannten, die wir gerade durchnehmen, sind mein ganz persönlicher Alptraum." Er stöhnte frustriert auf. "Habt ihr was dagegen, wenn ich mich anschliessen?" Mein Herz setzte schon wieder ein paar Schläge aus. Ein freudiges Kribbeln machte sich in meinem Bauch breit. Hitze steigt in mein Gesicht. "Überhaupt nicht. Komm ruhig mit", antwortet Kai an meiner Stelle. Zum Glück, denn ich hätte wahrscheinlich kein Wort herausgebracht.

Wir machten uns also alle zusammen auf den Weg zu mir. Zweiter Schultag und bereits zwei Freunde gefunden! Auf dem ganzen Nachhauseweg konnte ich einfach nicht mehr aufhören zu grinsen.

 

Kapitel 7

Kai war echt gut als "Nachhilfelehrer" und so streng, dass es schon an Grausamkeit grenzte. Fast drei Stunden lang liess er uns Aufgaben lösen, wobei wir ihm immer Schritt für Schritt erklären mussten warum wir gerade da dieses oder jenes Verfahren einsetzten. Er nahm alles akribisch genau und liess keine unvollständige Antwort gelten.

Als Sam zum Abendessen rief, Timmy war auch eingeladen, waren wir fix und fertig, hatten aber tatsächlich gute Vortschritte gemacht.

Wie sich herausstellte war auch Timmy ein leidenschaftlicher Gamer, sein Lieblingsspiel: "Perfect world". Folglich trafen wir uns nachdem sie gegangen waren, online wieder und gründeten zusammen eine Gilde. Das war echt ein riesen Spass! Ihre Freude an diesem Spiel färbte auf mich ab und so kam es, dass Marc mir spätabends wortwörtlich den Computer wegreissen musste, damit ich mich doch noch schlafen legte. 

 

Die nächsten Wochen vergingen wie im Flug. Ich lebte mich bei Sam und Marc ein, gewöhnte mich an ihre liebevolle Fürsorge und begann die gemeinsame Zeit wirklich zu geniessen. In der Schule hatte ich mich auch schnell eingewöhnt und den fehlenden Lernstoff aufgearbeitet. Meine Noten schwankten so zwischen genügend (Mathe) und gut (Geschichte und Englisch). Ich verstand mich ganz gut mit meinen Klassenkameraden, sogar mit Lisa. Sie war tatsächlich ganz nett, obwohl sie mich immer noch dauernd mit Fragen löcherte und versuchte hinter meine "geheimnisvolle Vergangenheit" zu kommen. Ich schaffte es meistens, ihren Fragen auszuweichen und das Thema zu wechseln und wenn nicht, waren da Kai und Timmy die mir zu Hilfe kamen. Wir drei waren inzwischen richtig dicke Freunde und ich freute mich darüber. Es hatte mal eine Zeit gegeben, in der ich der Überzeugung war, mich niemals wieder mit jemandem anfreunden zu können.

Ich ging regelmässig zur Therapie und redete auch oft mit Sam und Marc über mein Trauma. Das half, aber vorbei war es desshalb noch lange nicht. Ich träumte nach wie vor fast jede Nacht von meinem Vater und hatte auch den einen oder anderen Panikanfall, in dem ich anfing zu zitten, zu hyperventilieren oder einfach plötzlich los rannte.

Einen hatte ich in der Schule im Sport, als sich unser Lehrer, ein recht muskulöser Mann, etwa im Alter meines Vaters, sein Shirt beim Unterricht auszog, weil es so heiss war. Sein Anblick beschwörte Bilder hervor, an die ich mich einfach nicht erinnern wollte. Kai bemerkte, dass ich zitterte. "Alles in Ordnung Seth?", fragte er besorgt. Ich zuckte erschrocken zusammen und rannte wie der Blitz und ohne Erklärung davon. Ich hörte noch Timmys und Kais Stimmen die mir hinterher riefen, doch ich hielt nicht an. Eine halbe Stunde später fand mich Timmy zusammengekauert und vor Angst zitternd hinter dem Gebüsch neben der Turnhalle. Kai hatte sich irgendeine fadenscheinige Ausrede für die Lehrer ausgedacht um mein plötzlicher Abgang zu erklären. Irgendwas von Übelkeit und dass sie mich schnell nach Hause bringen wollten. Als Timmy mir aufhelfen wollte und die Hand nach mir ausstreckte, wich ich erschrocken zurück und stiess einen spitzten Schrei aus. Er ging sofort etwas mehr auf Abstand, blieb trotzdem in meiner Nähe und wechselte einen besorgten Blick mit Kai. Die beiden wussten nicht was mit mir los war und da ich mich einfach nicht beruhigen liess, riefen sie schliesslich Marc an, der sich sofort auf den Weg machte um mich abzuholen. Meine Freunde setzten sich derweilen in gebührendem Abstand neben mich und versuchten weiter mich zu besänftigen. Als Marc auftauchte war ich bereits etwas ruhiger und liess mich von ihm ins Auto bugsieren. Er sprach noch kurz mit Kai und Timmy. Da die Autotür zu war, bekam ich nur Bruckstücke des Gesagten mit. "... gut, dass ihr angerufen habt... macht euch nicht zu viele Sorgen... das wird er euch selbst erzählen, wenn er dazu bereit ist... Unterricht ... Tschüss..."

Dann brachte Marc mich nach Hause, brachte mir einen Kamillentee und setzte sich neben mich aufs Sofa, den Arm um meine bebenden Schultern gelegt. Als Sam zwei Stunden später nach Hause kam, hatte ich mich wieder eingekriegt.

Als ich wieder klar denken konnte, schämte ich mich in Grund und Boden. Was mochten Kai und vor allem Timmy jetzt von mir denken? Na was wohl. Natürlich dass ich volkommen plem-plem sei und total verkorkst. Die wollten nach der Aktion bestimmt nichts mehr mit mir zu tun haben! 

Doch Marc widerlegte das. Er meinte, sie würden sich bloss Sorgen um mich machen und wollten mir helfen. Doch da sie nicht wussten, was los war, konnten sie das nicht. "Wenn du dich dazu bereit fühlst, wär es ganz gut, wenn du sie einweihen würdest", meinte Sam. "Sie sind deine besten Freunde, sie werden es verstehen, glaub mir!"

Ich lacht humorlos auf: "Na klar, ich geh einfach zu ihnen hin und erzähl ihnen brühwarm, dass ich von meinem eigenen Vater missbraucht wurde. Im besten Fall würden sie mich bemittleiden und wüssten nicht mehr wie sie mit mir umgehen sollen. Im Schlimmsten ekeln sie sich so vor mir, dass sie nichts mehr mit mir zu tun haben wollen. Ich will meine neu gefundenen Freunde nicht gleich wieder verlieren!"

Sam nahm meine Hand in seine. "Glaub mir das wirst du nicht. Ich kenn die beiden seit der Grundschule und du solltest die beiden inzwischen auch gut genug kennen um zu wissen, dass sie nicht zu dem Typ Mensch gehören, die sich einfach so abschrecken lassen. Hab etwas mehr Vertrauen! Natürlich ist das deine Entscheidung, wann, wo, wie viel und ob überhaupt du es ihnen erzählen willst, aber bitte denk darüber nach! Freunde sind genau dafür da. Um zuzuhören und um dir zu helfen deine Ängste und Probleme zu bewältigen. Ausserdem tut es einer Freundschaft auch nicht gut, wenn man zu viele Geheimnisse voreinander hat."

Ich presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen und schwieg.

"Ein Vorschlag!", meldete sich Marc zu Wort. "Sag Ihnen doch die Wahrheit. Du brauchst ja nicht ins Detail zu gehen. Sag einfach, dass dich jemand sehr verletzt hat, du davon ein Trauma hast und es noch nicht schaffst darüber zu reden. Ich bin sicher, das werden die Jungs verstehen." Ja, das würde ich vielleicht fertig bringen. Vielleicht...

 

Tatsächlich bewahrheitete sich ihre Annahme. Ich hatte Marcs Vorschlag befolgt und ihnen am nächsten morgen genau das erklärt. Sie haben genickt, etwas in dieser Richtung hatten sie schon vermutet, und mich eindringlich darauf hingewiesen, dass ich jederzeit mit ihnen darüber reden könne, wenn ich dazu bereit sei. Mir stiegen vor Dankbarkeit Tränen in die Augen.

Danach war das Thema für sie gegessen. Der Alltag ging weiter. Schule, Sport, Hausaufgaben, essen, schlafen, schlecht träumen, Therapie, gemütliche Stunden mit Sam und Marc verbringen, "Perfect world" spielen, zwischendurch mal mit Kai und Timmy ins Kino oder in die Mall, miteinander abhängen und Spass haben, weinen, zittern, schreien, mich wieder beruhigen, von Sam und Marc getröstet werden. Mein neues Leben gefiel mir, doch die Vergangenheit liess mich einfach nicht los.

 

Seit vier Monaten wohnte ich bereits bei Sam und Marc, als ich zum ersten Mal nicht von meinem Vater träumte, sondern von jemandem anderen. Nicht von groben Händen, die mir Gewalt antaten, sondern von starken, sanften, die liebevoll und zärtlich meinen Körper erkundeten. Ich konnte ihn nicht sehen, aber ich wusste einfach, es war Timmy. Ich erwachte in Schweiss gebadet und mit einem deutlichen Zelt in der Hose.

Das durfte doch nicht wahr sein! Panik erfasste mich. Nicht nur weil er mein Freund war und ich ihn als solchen nicht verlieren wollte, denn das würde passieren. Er war schliesslich Hetero. Vor allem schockierte mich die Tatsache, dass ich überhaupt jemanden begehrte. Das sollte nicht so sein! Jemand wie ich hat nicht das Recht dazu... 

Für diesen Gedanken würde mich Sam und mein Therapeut lünchen, aber es stimmte doch. Ich war beschmutzt, kaputt, verkorkst. Ich würde einen Partner nur mit mir in den Abgrund zerren. Das durfte ich nicht zulassen! Das hatte keiner verdient, erst recht nicht Timmy.

 

 

Kapitel 8

 Die nächsten Tage konnte ich Timmy kaum in die Augen sehen, aus Angst er könnte daraus meine Gefühle ablesen. Ich versuchte krampfhaft mir nichts anmerken zu lassen, doch mein Verhalten fiel Kai und Timmy trotzdem auf. In einer Pause fragten sie mich, was denn los sei. Ich stotterte irgendetwas von schlechten Träumen, lief hochrot an und machte mich schnellst möglich aus dem Staub. Ich war wirklich ein hundsmiserabler Lügner! Die beiden glaubten mir natürlich kein Wort, bohrten aber auch nicht weiter nach. 

 

Auch Sam und Marc bemerkten, dass ich mich verändert hatte. Ich schlief öfters durch, klagte nicht mehr so oft über Alpträume und hatte bereits zwei Wochen lang keine Panikattake mehr. Sie hielten das für ein gutes Zeichen und freuten sich über meine Vortschritte.

Ich hätte mich wohl auch darüber freuen sollen, doch das wollte mir einfach nicht gelingen.  Dafür waren meine Schuld- und Schamgefühle einfach zu dominant. Ich tat mein Bestes, meine Gefühle für Timmy zu unterdrücken, zu ignorieren. Doch es halt nichts. Immer öfters ertappte ich mich dabei, dass ich ihn verträumt anstarrte. Ich konnte kaum den Blick von ihm abwenden!

Als er sich nach dem Sport in der Garderobe das T-Shirt auszog, bekam ich doch tatsächlich einen Steifen. Mit hochrotem Kopf flüchtete ich mich in die Dusche und drehte das kalte Wasser voll auf. Das Bild seines verführerischen Sixpacks, über das ein paar einzelne Tropfen Schweiss hinabronnen und erst vom Bund seiner Sporthose gestoppt wurden, hatte sich in meinem Kopf festgesetzt. Genauso wie die unwiderstehliche Rückenansicht, insbesondere sein knackiger Hintern. 

Es dauerte ewig bis das kalte Wasser mich genug abgekühlt hatte, dass ich mich traute aus der Dusche zu treten. Meine Lippen waren bereits blau und ich zitterte vor Kälte. Ich rubbelte mich schnell trocken und zog mich hastig an. Die Garderobe war bereits menschenleer und ich hastete hinüber zur nächsten Stunde. Zehn Minuten zu spät betrat ich, ganz ausser Atem, das Chemielabor und setzte mich in die hinterste Reihe zu Kai.

"Schön, dass du dich auch noch zu uns bequemst, Seth", motzte die Chemielehrerin. Vereinzeltes Kichern ertönte. Ich murmelte eine Entschuldigung und holte mein Buch hervor. 

 

Kai lehnte sich zu mir rüber und flüsterte mir amüsiert ins Ohr: "Dir hat wohl gefallen, was du gesehen hast." Ich fuhr ertappt zusammen und starrte ihn schockiert an. Er kicherte nur.

Damit war es mit meiner Konzentration für den Unterricht vorbei. Die restliche Stunde wippte ich nervös mit meinem Fuss, kaute auf meinen Lippen herum und warf immer wieder unsichere Blicke zu Kai. Er hat es herausgefunden! Scheisse, scheisse, scheisse! Was sollte ich jetzt tun? Was wird er jetzt bloss von mir denken? Und noch viel wichtiger: Hat Timmy es auch bemerkt? 

In dem Moment als es klingelte, packte ich den verdutzt guckenden Kai am Arm und zerrte ihn nach drausse hinter die Turnhalle. Erst da liess ich ihn los. Ich drehte mich zu ihm um, öffnete den Mund, um etwas zu sagen, und schloss ihn wieder. Ich wusste einfach nicht was ich sagen sollte. Ich atmete schwer und spürte wieder das altbekannte Gefühl der Panik in  mir aufssteigen. 

Kai merkte was los war und begann mir beruhigend über den Rücken zu streichen . "Hey, es ist alles gut. Seth, beruhige dich! Atme Seth! Tief ein... und aus." Ich versuchte es, konzentrierte mich auf meine Atmung und beruhigte mich tatsächlich langsam wieder. 

"Na siehst du! Ist doch alles in Ordnung. Glaub mir, ich bin ganz sicher der Einzige, der etwas bemerkt hat. Und das auch nur weil ich weiss, dass du schwul bist." 

Ich atmete erleichtert auf. Kai betrachtete mich nachdenklich. "Kannst du mir sagen, warum es so schlimm wäre, wenn Timmy es bemerkt hätte?" Ich starrte ihn ungläubig an. "Ist das dein Ernst?" Er nickte: "Ja, ganz im Ernst. Timmy würde dich sicher nicht verurteilen, weil du schwul bist. Tatsächlich glaube ich, dass er dich auch ganz gerne mag. Ich habe schon länger den Verdacht, dass er auch am anderen Ufer fischt."

Ich war ganz perplex. "Wie kommst du darauf?" "Ich hab ihn mal von weitem beim Betreten eines Szenenclubs gesehen. So unsicher und verwirrt, wie er gewirkt hat, glaube ich, dass er dort war um herauszufinden, ob er auch auf Männer steht. Damals habe ich auch zum ersten Mal über meine Sexualität nachgedacht."

Ich brauchte eine Weile um diese neuen Informationen zu verarbeiten, dann schüttelte ich mich wie ein nasser Hund und zwang mich zurück auf den Boden der Realität. "Das spielt keine Rolle, Kai. Selbst wenn er mich auf diese Weise mögen würde, darfst du ihm niemals sagen, dass ich ihn lieb..." Entsetzt schlug ich mir die Hand vor den Mund. Zu spät. Kai grinste mich frech an. "So, so. Du liebst ihn also." Er lachte, als er meine saure Miene sah und umarmte mich kurz. "Kein Grund stinkig zu werden. Ich freu mich für dich. Ihr würdet ein hübsches Paar abgeben." Wütend sities ich ihn von mir. "Nein, Kai. Soweit darf es nicht kommen! Versprichs mir! Versprich mir, dass du es ihm niemals, und ich meine NIEMALS, erzählst. Das ist kein Scherz! Er darf auf keinen Fall etwas von meinen Gefühlen erfahren!" Ich schrie beinahe und er sah mich verschreckt an.

 

Meine Arme sackten, all ihrer Kraft beraubt nach unten. Mein Blick flehend, bat ich ihn erneut: "Bitte, Kai! Versprich es mir!"

Immer noch verwirrt, und mit ungutem Gefühl im Bauch, versprach er es mir. Leise, die Stimme voller Mitgefühl, fragte er sanft: "Erzählst du mir wenigstens, warum es nicht sein darf?" 

 

Verzweifelt schüttelte ich den Kopf, presste meine Lippen zusammen. "Glaub mir einfach, ich wäre nicht gut für ihn. Er hat so jemanden wie mich nicht verdient." Tränen sammelten sich in meinen Augen.

"So jemanden wie dich? Was meinst du damit, Seth?" Kai legte seine Hand an meine Wange und hob mein Gesicht an, damit er mir in die Augen sehen konnte. Eine Träne löste sich, Kai wischte sie sanft weg. "Was ist bloss mit dir passiert?", flüsterte er, mehr zu sich selbst. Ich schluchzte auf und er zog mich in seine Arme. Ich weinte an seiner Schulter, bis es klingelte. 

Impressum

Texte: Zaharu Liep
Tag der Veröffentlichung: 11.04.2014

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