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Prolog

Seit meiner Geburt wusste ich, dass ich anders war. Doch erst jetzt wurde mir bewusst, wie sehr ich mich von meiner restlichen Familie unterschied. Allein schon die Tatsache, das ich weder Angst verspürte noch in Panik geriet, trotz seiner beeindruckenden Grösse, bewies das. Aber da war noch etwas. Ich konnte es nur nicht benennen. So stand ich da, mitten in der Nacht, vor mir ein riesiger, grauer Wolf. Wie war ich aber hierhergekommen? Ich werde es euch erzählen.

Nur wenige Stunden zuvor war ich mit meinen Geschwistern und meiner Mutter vom Feld zurückgekommen. Erschöpft, aber zufrieden mit uns und dem wundervollen Tag.

Wir wohnten ein Stück ausserhalb des Dorfes Medna auf einem kleinen Hof. Mit ein paar Ziegen und Hühner und unserem grossen Acker verdienten wir uns unseren Lebensunterhalt. Der Ertrag reichte gerade so für uns vier, aber wir waren zufrieden. Es war schon erstaunlich, dass wir überhaupt durchgekommen sind, so ohne einen erwachsenen Mann im Haus. Mein Vater war noch vor der Geburt seines erstgeborenen Sohnes gestorben und liess seine schwangere Witwe mit zwei Kindern zurück. Nur dank grosszügiger Hilfe der Familie des Schmids, die meinen Vater alle sehr geschätzt hatten, war die Schwangerschaft und die Geburt ohne grössere Katastrophen über die Bühne gegangen. Der Schmid schickte seine zwei Söhne zum Helfen auf dem Feld und die Mutter des Schmids kümmerte sich inzwischen um mich und meine Schwester. Sie war eine wunderbare, gütige, etwas rundliche Frau, mit einem umwerfenden Lächeln und einem festen Griff. Trotz ihres Alters hatte sie sich rührend um uns gekümmert. Auch nach der Geburt. Als ich vierzehn war, hat sie schliesslich diese Welt verlassen. Sie war einfach eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht. Für uns alle war das ein grosser Verlust.

Wir mussten noch ein paar beschädigte Werkzeuge zum Schmid bringen, damit er sie uns reparieren konnte. Also machten wir uns auf den Weg. Im Dorf plauderten wir hie und da mit ein paar Bewohnern. Als wir schliesslich die Strohdächer des Dorfes hinter uns liessen, dämmerte es bereits. Der Himmel hinter dem Wald, nahe bei unserem Haus, leuchtete in schillernden Rottönen. Es war ein wunderschöner Anblick.

Nach dem Essen half ich Mutter noch die Küche aufzuräumen und ging dann ins Bett. Ich war Hundemüde, konnte aber einfach nicht einschlafen, also stand ich auf und kletterte aus dem Fenster um einen kleinen Spaziergang zu machen. Das tat ich öfters. Ich liebte es Nachts herumzuwandern und dabei den Sternenhimmel zu betrachten. Ich steuerte den Salderwald an, mit meiner Lieblingslichtung als Ziel. Die Bäume hatten sich in der undurchdringlichen Dunkelheit in ein einziges schwarzes Meer verwandelt. Ich kannte den Teil des Waldes ganz genau, also machte ich mir keine Sorgen mich verlaufen zu können. Doch bevor ich auch nur in die Nähe des Waldes kam, sah ich wie sich nur unweit vor mir etwas bewegte. Ich blieb wie angewurzelt stehen. Mein Herz schlug wie verrückt. Ich hörte ein Hecheln und ein Rascheln im Gras, das immer näher kam. Und da stand er plötzlich vor mir. Womit wir wieder bei der Frage angelangt sind, warum ich nicht wegrannte oder mir zumindest vor Angst in die Hose machte.

Der Wolf hechelte und wedelte mit dem Schwanz. Ich verkniff mir ein Lächeln. So sah er wirklich nicht gefährlich aus. Er wirkte eher wie ein sehr grosser, verspielter Hund. Ein grosser verspielter Hund?! Hatte ich jetzt vollständig den Verstand verloren? Ich schwebte in Lebensgefahr! Haloohoo! Mein Verstand hatte ja so recht, doch mein Körper schien nicht mehr auf ihn hören zu wollen. Ich liess zu, dass der graue Wolf zu mir herüber kam  und rührte mich nicht einmal als er mich beschnüffelte. Er leckte mir kurz über meine Hand und trabte zurück in den Wald. Ich blieb in meiner erstarrten Haltung bis ich ihn nicht mehr sehen konnte. Und dann, einem inneren Zwang folgend, legte ich plötzlich meinen Kopf in den Nacken und heulte den Mond an. Mehrere Stimmen setzten ein und ich war so glücklich wie noch nie. Richtig euphorisch heulte ich weiter mit den Wölfen den fast vollen Mond an, bis ich kaum mehr Luft bekam und heiser war. Erst als der letzte Heuler verstummt war, wurde mir klar, was ich da tat. Jetzt bekam ich Panik. Ich wirbelte herum, stolperte, fing mich wieder und rannte zurück zum Haus. Ich kletterte durchs Fenster ins Zimmer von mir und Selin, meiner kleinen Schwester. Leise schlüpfte keuchend unter die Decke und zog sie mir bis über den Kopf. Den Rest der Nacht lag ich zusammengerollt und zitternd in meinem Bett und versuchte zu verstehen, was verdammt noch mal mit mir los war.

Kapitel 1

Am nächsten Morgen hatte ich mich soweit beruhigt, dass Selin meine Aufruhr nicht bemerkte. Doch Mutter konnte ich nicht täuschen. „Was hast du denn, Liebes?“ „Nichts… Alles in Ordnung.“ Ja, na klar! Ich konnte ihr kaum in die Augen sehen aus Angst sie würde den Wahnsinn, den ihre Tochter befallen hatte aus ihnen ablesen können. Meine Mutter war ein wundervoller Mensch. Voller Liebe und Herzensgüte. Ging es aber um das Wohl ihrer Kinder, konnte sie ungemütlicher werden als ein Bär, der aus seinem Winterschlaf geweckt wurde. Ich bewunderte sie dafür wie sie in diesen Zeiten ohne Mann mit drei Kindern überleben konnte.

An jedem anderen Tag hätte sie sich nicht mit meiner gemurmelten Antwort zufrieden gegeben. Doch heute schien irgendetwas anders zu sein. „Schätzchen, an deinem Geburtstag solltest du nicht so trübsinnig dreinschauen.“ Ihr leicht enttäuschter Unterton verwirrte mich. Dann endlich registrierte mein übermüdetes Hirn den Inhalt ihrer Worte. Das hatte ich total vergessen! Heute wurde ich sechzehn. Und jetzt verstand ich auch ihre Enttäuschung. Vor mir auf dem Tisch stand ein tolles Frühstück liebevoll angerichtet. Eier, Speck, Äpfel und Heidelbeeren und sogar das leckere Feiertagsgebäck von Mutter, dass sie jedem von uns jeweils zum Geburtstag backte. „Es tut mir Leid! Ich war noch nicht ganz da.“ Ich schloss sie in die Arme. „ Danke Mama!“ „Gern geschehen, Liebes.“ Sie küsste mich auf die Stirn. „Zur Feier des Tages werde ich heute Abend etwas Feines kochen.“ „Das wär schön!“ Mutters Kochkünste waren im ganzen Dorf berühmt. „Wenn es dir recht ist möchte ich dir bei der Gelegenheit jemanden vorstellen.“ „Du versuchst mich doch nicht zu verkuppeln, oder?“, scherzte ich. Sie lachte. „Nein, keine Sorge! Er ist bereits glücklich verheiratet.“ „Da bin ich nun ja gespannt. Wie heisst er denn?“ „Samuel. Er ist der Mann von Sybille.“ „Deine Schwester?“ Nun war ich wirklich neugierig. Mutter hatte nie viel über ihre Schwester gesprochen. Ich wusste nur, dass sie im Dorf für Furore gesorgt hatte, weil sie mit einem seltsamen Fremden durchgebrannt war. Niemand wusste wer er war. Manche behaupteten er war ein Zigeuner. Aber niemand wusste es sicher. Er wurde nur ein-, zweimal gesehen und das nur kurz. „Kommen sie denn nicht zusammen?“ „Nein, Sybille muss sich um… ihre Familie kümmern, wenn Samuel weg ist.“ „Schade, ich hätte sie gerne kennengelernt.“ „Das wirst du schon noch.“

 

Der Tag schien heute einfach nicht enden zu wollen. Die warme Septembersonne brannte vom Himmel. Mir war furchtbar heiss und die Feldarbeit ging nur stockend voran. Meine Ungeduld und mein Erlebnis von letzter Nacht, an dem ich noch zu kauen hatte, liessen mich unruhig und gereizt werden. Irgendwann tauchte Selin mit unserem Mittagessen auf und Noah, mein kleiner Bruder, Selin und ich assen zusammen im Schatten der grossen Eiche, die am Feldrand stand.

Noah war mit seinen dreizehn Jahren ein aussergewöhnlich ruhiger, schweigsamer Junge. Mit seinen langen Haaren, die ihm meistens ins Gesicht hingen und seiner Wortkargen Art fand er kaum Freunde. Sein einziger Freund war Karl, der Sohn des Schmieds. Die beiden waren so verschieden wie Tag und Nacht. Aber seit Karl zugesehen hatte wie Noah einer fauchenden Wildkatze einen Dorn aus der Vorderpfote gezogen hatte, klebten die beiden regelrecht aneinander. Mutter sagte immer, er heisse nicht umsonst Noah. Schon kurz nach seiner Geburt fand sie Eichhörnchen, kleine Vögel und Eidechsen in seinem Bettchen, die sich an ihn kuschelten. Auch heute sassen auf seiner Schulter zwei Meisen, auf seinem Schoss ein Kaninchen und neben ihm hatte ein Reh es sich gemütlich gemacht.

Selin war das genaue Gegenteil. Sie redete wie ein Wasserfall und lachte viel. Jeder im Dorf liebte sie. Ging sie einkaufen bekam sie immer Geschenke und seit kurzem gab es regelmässig Prügeleien darum, wer ihr die Einkäufe nach Hause tragen durfte. Sie war vierzehn und für ihr Alter schon weit entwickelt. Mit ihren blonden Locken und ihren tiefblauen Augen sah sie wie ein Engel aus.

Die beiden waren eindeutig darauf aus mich aufzumuntern. Selin erzählte Witze und hatte aus dem Wald Brombeeren mitgebracht. Meine Lieblingsbeeren. Noah lächelte mich aufmunternd an und liess mich das Kaninchen streicheln. Dem Fellknäuel schien das gar nicht zu gefallen. Es zitterte und sprang aufgeschreckt davon. Beinahe wäre ich instinktiv ebenfalls aufgesprungen und ihm nachgejagt. Ich kratzte mich am Arm und unterdrückte ein Knurren. Was in Gottes Namen war bloss los mit mir? Ich hatte das Gefühl jeden Moment zu platzen und es juckte mich furchtbar am ganzen Körper. Meine Stimmung hob sich auch am Nachmittag nicht. Dieser verdammte Juckreiz brachte mich beinahe um den Verstand. Je länger er andauerte, desto schlimmer wurde er. Ausserdem schien ich plötzlich sensibler auf Geräusche und Gerüche zu reagieren. Obwohl… das bildete ich mir wahrscheinlich nur ein. Meine Laune besserte sich erst gegen Abend. Ich freute mich auf das besondere Abendessen und vor allem auf den Besuch von diesem Samuel. Mir war schleierhaft wieso, schliesslich kannte ich ihn gar nicht. Doch die Vorfreude wuchs trotzdem weiter, bis sie beinahe zu derselben Euphorie wurde, die ich beim Anheulen des Mondes verspürt habe. Das war beunruhigend.

 

Mutter hatte ihr Wort gehalten. Als ich mit meinen Geschwistern vom Feld zurückkam, briet über dem Feuer ein gutes Stück Wild vom Metzger aus dem Dorf. Dazu sollte es Pellkartoffeln und Gemüse geben. Mir lief das Wasser im Mund zusammen. Auch Mutter schien sich auf den Besuch zu freuen. „Hätten wir Schwänze würden wir damit wedeln“, schoss es mir durch den Kopf. Was sollte denn der Blödsinn? Wir waren doch keine Hunde!

Während wir zusammen den Tisch deckte, hatte ich plötzlich das Gefühl es nähere sich jemand dem Haus und just ein paar Sekunden später klopfte es.

 

„Samuel! Wie schön dich wieder zu sehen.“ Mutter und unser Gast umarmten sich herzlich. „Ich freu mich auch dich zu sehen, Tabea.“ Samuel war unglaublich gross, hatte breite Schultern und dunkle, fast schwarze, Augen. Er strahlte eine solche Autorität aus, dass es mir nur natürlich vorkam ihm meinen Respekt zu zollen. Als er sich mir zuwandte, folgte ich meinem Instinkt, schob meine Haare zur Seite, legte meinen Kopf schräg und bot ihm meinen Hals an. Und er… Anstatt mich anzustarren als sei ich verrückt, kam er zu mir herüber und schnupperte an meinem Hals. Er schnupperte! Wie der Wolf von letzter Nacht. Dann stupste er mich kurz mit der Nase an. Unwillkürlich entspannte ich mich. „Es freut mich dich kennen zu lernen, Tami“, er lächelte mich freundlich an. Und was tat ich? Anstatt ihn zu fragen was das sollte, starrte ich ihn nur ungläubig an. Bis das Schweigen peinlich wurde, da bot Mutter ihm etwas zu trinken an und ich schaffte es mich aus meiner Starre zu lösen. In meinem Kopf schwirrten tausend Fragen. Warum hatte Mutter ihn ausgerechnet heute eingeladen? Hatten er und ich beide einfach den Verstand verloren? Wohl eher nicht. Oder wusste er mehr über meinen Zustand als ich selbst? Ich wollte so viel von ihm wissen, doch ich brachte kein Wort heraus. In seiner Gegenwart fühlte ich mich seltsam geborgen und das machte mir Angst.

Wir setzten uns und Selin begann sofort Samuel mit Fragen zu löchern. Wo er herkomme und wohne, ob er Kinder habe, wie ihre Tante so sei, und, und, und... Er antwortete ihr bloss kurz und knapp, aber nicht unfreundlich. Nur von seiner Frau und seinen zwei Söhnen erzählte er uns sehr ausführlich. Das Essen zog sich etwas hin, denn Selin hatte nun begonnen ihm von uns zu erzählen. Es schien als könnte sie gar nicht mehr aufhören. Ich hatte gar nicht gewusst, dass wir so viel erlebt haben, was sich zu erzählen lohnt. Noah rutschte währenddessen unruhig auf seinem Stuhl herum. „Mach ich dich nervös?“, fragte Samuel ihn als Selin gerade Luft holen musste. „Nein, aber meine Freunde haben Angst vor dir. Und ich frag mich ob es dafür einen bestimmten Grund gibt.“ Mir fiel erst jetzt auf, dass heute gar keine Vögel oder andere Tiere uns beim Abendessen Gesellschaft leisteten. „Wer sind denn deine Freunde?“ Ich unterbrach Noah als er Samuel gerade antworten wollte. „Du solltest dir nicht solche Sorgen machen. Vor mir haben die Tiere schliesslich auch Angst, oder?“ Irgendwie hoffte ich, er würde verneinen, was er nicht tat. „Ja, aber bei dir sind sie einfach nur scheu und vor ihm laufen sie regelrecht davon.“ „Das Kaninchen heute ist auch vor mir weggelaufen!“, erinnerte ich ihn. Ich habe meinen kleinen Bruder immer um seine enge Beziehung zu den Tieren des Waldes beneidet. Als Kind und auch jetzt noch habe ich sehr viel Zeit im Wald verbracht. Ich liebte den Geruch von den Kiefern und die Musik des Waldes. Es war schon seit ich denken konnte mein Wunsch auch den scheuen Kreaturen, die in diesem Paradies lebten besser kennen zu lernen. Doch sobald ich ihnen zu nahe kam, flüchteten sie. Alle bis auf den Wolf von letzter Nacht. „Das war bestimmt nur, weil du so schlecht gelaunt warst.“ „Deine Freunde sind Tiere?“, fragte Samuel. „Ja, bis auf Karl. Er ist der Sohn des Schmids.“ „Es tut mir Leid, dass ich ihnen Angst mache. Das war nicht meine Absicht.“ „Schon in Ordnung“, murmelte Noah. Samuel musterte ihn nachdenklich. Und kaum waren mal kurz alle ruhig begann Selin wieder zu plappern.

 

Nach dem Essen schlug meine Mutter vor, dass ich Samuel unseren Mondschrein zeigen sollte. Mein Vater hatte ihn erbaut, als er mit meiner Mutter hierhergezogen war. Er war der Mondgöttin eines heidnischen Glaubens gewidmet, der mein Vater angehört hatte. Neben dem Wald war dies mein Lieblingsplatz. Es war ein kleiner aus Eichenholz gefertigter Altar mit einer Überdachung. Auf dem Altar stand eine kleine aus Mondstein gefertigte Statue eines heulenden Wolfes. Irgendwie war das ein seltsamer Zufall, wenn ich jetzt so darüber nachdenke. Eigentlich hätte mir das komisch vorkommen müssen. Das tat es aber nicht, vielleicht weil ich es einfach nicht sehen wollte?

Wir liefen schweigend nebeneinander her. Ich war etwas nervös, so als ob ich geahnt hätte, dass sich mein Leben in den nächsten Minuten für immer verändern würde. Selin und Noah sollten beim Aufräumen helfen und waren im Haus geblieben. Es sah so aus, als wolle meine Mutter unbedingt, dass Samuel und ich allein waren. Was hatten die beiden wohl geplant? Ich platzte schier vor Neugier, doch er schwieg. Bis ich es kaum mehr ertrug. Gerade als ich die Geduld zu verlieren glaubte, machte er endlich seinen Mund auf. „Du möchtest sicher wissen, warum ich heute gekommen bin, nicht?“ Ich nickte. „Heute ist dein sechzehnter Geburtstag und dies ist ein besonderer Tag für eine Heranwachsende von deiner Abstammung. Da wo dein Vater und ich herkommen nennt man diese Nacht Selfur. Eigentlich führt einem der eigene Vater durch dieses Ritual, doch da dies dein Vater nicht mehr für dich tun kann, bin ich hier, um dich in unser Rudel einzuführen.“ Ich starrte ihn nur verwirrt an. Rudel? Hatte er tatsächlich Rudel gesagt? Meint er damit die Glaubensgemeinschaft, der Vater angehört hatte? Nun ja, wenn ein Wolf das Symbol für seinen Glauben war, wäre das noch nachvollziehbar. Aber wieso sollte ich ihnen beitreten? Ich habe mich nie wirklich für Religion interessiert und es hatte mich schliesslich auch niemand gefragt, ob ich beitreten will. „Das brauchst du nicht. Ich möchte eurem „Rudel“ nicht beitreten.“ Ich versuchte möglichst freundlich zu klingen und mir nicht anmerken zu lassen, dass ich etwas wütend war. „Ich glaube du verstehst nicht. Du hast gar keine Wahl, so Leid es mir tut. Die Wandlung hat bereits begonnen.“ Drohte er mir etwa? Nun hatte ich Angst. „Ich lass mich nicht erpressen!“ „Nein, so meinte ich das nicht. Tut mir Leid ich möchte dich hier zu gar nichts zwingen. Aber du musst doch bemerkt haben, dass mit deinem Körper heute etwas nicht zu stimmen scheint.“ Der Juckreiz, meine gereizte Stimmung, meine geschärften Sinne und mein seltsames, instinktives Verhalten kamen mir in den Sinn. Woher wusste er das? „Siehst du? Das sind die ersten Anzeichen für die Wandlung. Diese Gabe hast du von deinem Vater geerbt, sowie ich sie von meinen Eltern geerbt habe. Sie gehört zu dir, genauso wie die rotbraunen Haare, die du von deiner Mutter geerbt hast, zu dir gehören.“ In meinem Kopf drehte sich alles. Meinte er das ernst? Ich konnte das nicht glauben. Nein, ich wollte es nicht glauben. Und doch wusste ich, dass er die Wahrheit sagte. Ich wusste es einfach.

Wie als Bestätigung, wurde mein Juckreiz wieder schlimmer. Diesmal war es noch unangenehmer, so als ob sich unter meiner Haut etwas bewegen würde.

„Glaub mir, Tami. Ich bin hier, um dir zu helfen und dir die Fragen zu beantworten, die du hast. Ich möchte dich zu nichts zwingen, aber die Wandlung kann nicht aufgehalten werden und für unsereins ist es gefährlich ohne Rudel.“ „Rudel?“, krächzte ich. Ich brachte kaum ein Wort heraus. Mein Hals fühlte sich seltsam an. „Wir sind Wölfe, Tami. Gestaltwandler. Halb Tier, halb Mensch. Mit der Gabe gesegnet unsere Gestalt zu wechseln. Wir existieren seit Jahrhunderten neben der menschlichen Gattung im Verborgenen. So wie es uns die Mondgöttin gelehrt hat. Zeigt sie uns ihr volles Gesicht, werden wir geboren und sechzehn Winter später, wenn sie uns ihr Antlitz erneut zuwendet, erwacht erstmals unsere zweite Hälfte. Erst mit ihr sind wir vollständig.“

Ich hörte ihm zu und wollte nichts von dem was er sagte glauben, tat es aber trotzdem. Mein ganzer Körper gab ihm Recht. Das Jucken trieb mich in den Wahnsinn. Es tat regelrecht weh und gerade als ich dachte es könnte nicht noch schlimmer kommen, bewegte sich etwas unter meiner Haut. Ich stiess einen erstickten Schrei aus, der eher wie ein Jaulen klang. „Beruhige dich Tami. Du brauchst dich nicht dagegen zu wehren. Die Wandlung ist etwas Wunderbares. Heiss sie willkommen, dann wird es leichter. Verdammt, ich wollte dir noch vorher so vieles erklären. Aber anscheinend habe ich dafür keine Zeit mehr. Tami hör mir zu!“ Er drehte mein Gesicht zu ihm hin, sodass ich mein Blick von meiner sich von allein bewegenden Haut, abwenden musste. „Bei der ersten Verwandlung fällt es uns oft sehr schwer unseren Jagdtrieb zu beherrschen. Deshalb möchte ich, dass du mit mir in den Wald kommst. Da kann ich besser auf dich aufpassen und ich kann dir das Rudel vorstellen. Es gibt noch so viel mehr zu erklären, doch das muss warten. Tami, glaub mir, es wird alles gut.“ Er sah mir fest in die Augen und ich glaubte ihm. Aber ich war trotzdem stinkwütend. Meine Wirbelsäule knackte laut, ich stiess ein kurzes Jaulen aus und schnappte dann knurrend nach Samuel. Er sprang vor mir zurück, ging auf Abstand. War auch besser so für ihn. Ich fiel keuchend auf die Knie. Meine Knochen verformten sich und die Schmerzen raubten mir den Atem. Ich wand mich auf dem Boden, stöhnte und jaulte. Samuel zog sich inzwischen den Wams aus und versuchte beruhigend auf mich einzureden, doch ich hörte ihn nicht. Mir liefen Tränen übers Gesicht. Aus meiner Haut spross rötliches Fell, mein Kiefer veränderte sich. Es tat so furchtbar weh! Als sich meine Wirbelsäule schlussendlich in die endgültige Position schob, schrie ich laut auf, doch zu hören war nur ein lautes, langgezogenes Heulen. Alle Kraft wich aus meinem Körper und ich sackte auf der Wiese zusammen. Ein paar Knochen rückten noch an ihren Platz, dann war es vorbei.

Eine Weile blieb ich noch liegen, ganz betäubt von der plötzlichen Abwesenheit des Schmerzes. Ich blinzelte. Die Farben um mich herum schienen gedämpfter, dafür konnte weiter sehen. Sogar bis zum Waldrand, wo gerade ein Kauz sich in die Lüfte erhob. Verwundert rappelte ich mich auf und... Moment mal! Irgendetwas war nicht richtig. Ich senkte meinen Blick auf meine Füsse, aber da waren keine. Stattdessen waren da pelzige Pfoten. Ehe ich ausflippen konnte, hörte ich ein leises, fragendes Winseln neben mir. Ich wandte meinen Kopf zu dem Geräusch hin und spürte wie meine Ohren sich aufrichteten. Da stand ein Wolf. Kohlenrabenschwarz und mit genauso dunklen Augen. Er machte ein Schritt auf mich zu und legte den Kopf schief. Ich konnte riechen, dass es sich bei diesem Wolf um Samuel handelte und ich wusste auch, dass er der Alpha war. Das war irgendwie... offensichtlich. Ich senkte den Kopf um ihm zu signalisieren, dass ich erkannt hatte wer er war. Er winselte erfreut und kam zu mir. Er schnupperte an mir und stupste mich dann sanft, aber bestimmt an. Ich sollte ihm wohl folgen. Er führte mich als erstes zum Mondschrein. Da stand noch die Schale mit dem Opferwasser. Daneben blieb er stehen und wies mit seiner Schnauze darauf. Ich zögerte etwas, doch dann wagte ich einen Blick hinein. Das Gesicht eines rotbraunen Wolfes mit schwarzen Augen blickte mir entgegen. Ich gab einen erstickten Laut von mir. Alles was Samuel mir erzählte war wahr?

Konnten Wölfe weinen? Der Mensch in mir weinte auf jeden Fall. Ich konnte nicht sagen ob wegen dem Schock, aus Angst oder aus Freude. Versteht mich nicht falsch. Ich wollte kein Wolf sein. Ich fand diese Aussicht grauenhaft. Und ich wollte auf keinen Fall von zuhause weg um mich einem Rudel anzuschliessen, aber irgendeiner meiner neuen seltsamen Instinkte sagte mir, dass das was mir passierte etwas Gutes war.

Samuel stupste mich an, verlangte meine Aufmerksamkeit. Ich winselte frustriert. Da schnappte er nach mir. Ich sprang erschrocken zurück und knurrte ihn an. „Na, na, nicht gleich böse werden.“ Diesen spöttischen Spruch, hörte ich direkt in meinem Kopf! Verwirrt schüttelte ich den Kopf. „Das nützt nichts, Kleine. Du wirst diese und noch andere Stimmen ab jetzt immer hören, wenn du in deiner Wolfsgestalt bist. So kommunizieren wir im Rudel. solange wir uns in Hörweite befinden können wir uns so unterhalten. Du brauchst dafür nur zu denken, was du sagen willst. Dann kann ich es auch hören. Versuchs mal!“ Ich konzentrierte mich und formte in meinem Kopf zögerlich die Frage, die mir am meisten auf der Zunge brannte. „Wieso ich?

Der schwarze Wolf blickte mich traurig an. „Ich hätte früher kommen sollen. Du hättest darauf besser vorbereitet werden sollen. Das tut mir Leid! Du hast diese Gabe von deinem Vater geerbt, genauso wie deine Geschwister.“ Mein Kopf schnellte hoch. „Wie meine Geschwister? Du meinst sie müssen dieses Grauen auch durchleben?“ Beim Gedanken wurde mir Angst und Bang. „Das werde ich nicht zulassen!“ Ich wirbelte herum und wollte gerade zum Haus zurückrennen, da stellte er sich mir in den Weg. Nun war er nicht mehr der mitfühlende Mann, der mir helfen wollte. Mit hochgezogenen Lefzen und drohendem Knurrend stand er hochaufragend vor mir. Ich klemmte mir den Schwanz zwischen die Beine und presste mich winselnd auf den Boden. „Ich verstehe, dass du verwirrt bist, aber wag es nicht unser Leben in den Dreck zu ziehen, wenn du es noch gar nicht kennst. Und das auch noch vor zukünftigen Mitgliedern des Rudels.“ Als ich mucksmäuschenstill liegen blieb, schien er sich ein wenig zu beruhigen. „Dir mag es wahrscheinlich momentan mehr wie ein Fluch vorkommen, doch glaub mir, das ist es nicht. Lass es mich dir zeigen.“ Er machte ein paar Schritte Richtung Wald. „Und? Kommst du?“ Ich rappelte mich auf und sah verzweifelt zurück zum Haus. „Deine Geschwister kannst du nachher immer noch retten. Du weisst doch, die Wandlung setzt erst an ihrem sechszehnten Geburtstag ein“ ,meinte er mit einem leicht säuerlichem Unterton. Ich gab mir einen Ruck und folgte ihm zögerlich. Er trabte auf den Wald zu und ich hinterher. Kaum hatten wir die Bäume erreicht, stiess er ein erfreutes Kläffen aus und jagte davon. In meinem Kopf erklang seine Stimme. „Na komm schon! Ich zeig dir jetzt wie wunderbar das Leben als Wolf sein kann.“ Seine Euphorie war ansteckend. Ich jagte hinter ihm her. Ich rannte und bewunderte dabei, wie meine kräftigen Beine mich in einer unglaublichen Geschwindigkeit über den Waldboden trugen. Die Bäume sausten nur so an mir vorbei. Es war herrlich! Der Wind pfiff mir um die Ohren und die Gerüche des Waldes drangen auf mich ein. Ich beschleunigte meine Schritte, testete meine Grenzen aus. Jetzt sollte ich Samuel bald eingeholt haben, doch ich sah ihn nicht. Unsicher verlangsamte ich meine Schritte. „Samuel?“ Da auf einmal hörte ich ein Rascheln hinter mir. Ich wandte mich um, sah einen Schatten über mir, und schon landete jemand auf mir und riss mich zu Boden. Ich stiess ein erschrockenes Kläffen aus, dann kugelten wir auch schon über das Laub. Ich kam kaum dazu mich zu wehren, da lag ich schon auf dem Rücken und Samuel drückte mich zu Boden. „Gewonnen!“, verkündete er fröhlich. Verdutzt glotzte ich ihn an. Er ging von mir weg und liess mich aufstehen. „Jetzt bist du dran.“ Er streckte seinen Hintern in die Höhe und wedelte mit dem Schwanz. Er wollte spielen! „Darfst du dich als Alpha so aufführen?“, fragte ich schnippisch. „Wieso sollte ich mich nicht amüsieren dürfen? Ausserdem lernst du beim spielen am besten, was es heisst ein Wolf zu sein.“ „Na dann...“ Und schon stürzte ich mich auf ihn. Eine grosse, knurrende Fellkugel, so musste es ausgesehen haben, die über den Waldboden kullerte. Doch schon nach einer Minute lag ich wieder auf dem Rücken und er rief schadenfroh: „Schon wieder gewonnen!“ Dieses Spiel wiederholten wir solange, bis ich hechelnd und zitternd auf dem Boden liegen blieb. Er hingegen, war kaum ausser Atem. „War das schon alles?“, zog er mich auf. Ich war total ausgelaugt und enttäuscht darüber, dass er so ein leichtes Spiel mit mir gehabt hatte. Also drehte ich verärgert den Kopf in die andere Richtung und schmollte. „Kein Grund traurig zu sein. Dafür, dass es deine erste Nacht als Wolf ist, hast du dich ganz gut geschlagen. Ausserdem bin ich nicht umsonst der Alpha.“ Ich schnaubte laut. Bescheidenheit war wohl nicht so seine Stärke.

Hast du Hunger oder Durst? Dann zeige ich dir wo und wie du dich stärken kannst.“ Jetzt merkte ich erst wie durstig ich war. Ich schluckte leer. Hunger hatte ich auch bereits wieder, allerdings traute ich mich das nicht zu sagen. Was wenn er plötzlich von mir verlangen würde, selbst ein Tier zu erlegen und roh zu essen?

Nur Durst. Es gibt hier in der Nähe einen kleinen Bach, da können wir uns erfrischen“, schlug ich vor. „Du kennst dich anscheinend aus!“, stellte Samuel fest. „Ich liebe den Wald!“, erwiderte ich. „Da haben wir was gemeinsam.“ Er lächelte. Kann ein Wolf lächeln? Vielleicht die Lefzen hochziehen und Grinsen, aber lächeln? Er jedoch tat es.

Seite an Seite zottelten wir los. Es kam mir so natürlich vor auf allen vieren zu gehen. Das alles fühlte sich so surreal an und doch absolut richtig. Ich kann es kaum beschreiben. So viele neue Sinneseindrücke stürmten auf mich ein, es war unglaublich! Beim Gedanken daran, was mich in dieser für mich völlig neuen Welt erwarten könnte lief es mir kalt den Rücken hinab und doch... Ein Teil von mir, den ich gerade erst kennenlernte, freute sich auf das was kommen würde.

Impressum

Texte: Zaharu Liep
Bildmaterialien: Cover: http://de.gdefon.com/download/Wolf_heult_Mond_Nacht/312590/1920x1080
Tag der Veröffentlichung: 10.04.2014

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