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Zärtliches Versprechen

Als ich den schweren Deutz in die Scheune fahre, geht die Sonne schon fast unter. Das heißt dann wohl, ich sitze seit fast 12 Stunden mehr oder weniger ununterbrochen auf dem zum Glück gut gefederten Traktorsitz. Ich will nur noch etwas zu Essen, eine heiße Dusche und Schlafen. Und zwar genau in dieser Reihenfolge!

Andreas kann mir gestohlen bleiben! Ich versuche schon seit Stunden ihn zu erreichen, aber er geht einfach nicht an sein verflixtes Handy. Wahrscheinlich hat er es wieder irgendwo liegen lassen. Wenn das nicht ständig passieren würde, hätte ich mir längst Sorgen gemacht, schließlich war eigentlich verabredet, dass er mich irgendwann im Laufe des Abends ablöst. Das hat sich mittlerweile erledigt. Bachmayers Fahrsilo ist komplett mit Grasschnitt gefüllt und der ist auch schon festgefahren. Wir haben alle zusammen die Folie darüber gezogen und provisorisch befestigt. Nachbarschaftshilfe eben. Den Rest erledigen die Bachmayers morgen früh alleine.

Müde schlurfe ich über den Hof und bemerke verärgert, dass die Hühner noch draußen sind, im Hofladen trotz der späten Stunde das „Geöffnet“-Schild hängt und eine der Ziegen - statt sich in ihrem Gehege zu vergnügen - gerade interessiert durch die offene Haustür in den Flur späht. Verärgert überlege ich kurz, das alles zu ignorieren. Aber die Hühner können schließlich nichts dafür, dass Andreas sie offensichtlich vergessen hat und der Fuchs wird sich bedanken, wenn wir es ihm leicht machen, statt die Federbande nachts einzusperren. Als erstes fange ich jedoch die Ziege ein, die gerade beschlossen hat, das Haus zu erkunden und mir nur mit empörtem Gemeckere zurück in ihr Gehege folgt. Dort zähle ich rasch durch. Zum Glück war die Ausbrecherin ein Einzeltäter.

Gut dreißig Minuten später ist es stockdunkel, aber ich habe die Hühner und die Ziegen für die Nacht versorgt, den Hofladen geschlossen und knalle endlich die Haustüre hinter mir zu. Zu meiner Überraschung brennt oben im Flur Licht und die Dusche rauscht. Ist Andreas etwa heimgekommen und einfach an mir vorbeigelaufen, ohne mir mit den Tieren zu helfen? Stocksauer springe ich die Treppe hoch, nehme dabei immer mindestens zwei Stufen auf einmal, reiße die Tür zum Bad auf und hole tief Luft. Doch mein Geschrei bleibt mir in der Kehle stecken. Mit dem Anblick, der sich mir bietet, habe ich selbst im Traum nicht gerechnet!

Andreas steigt gerade aus der Dusche, splitterfasernackt, natürlich tropfend nass und mit einem verzweifelten Gesichtsausdruck. Er hält mir ein kleines Bündel entgegen. „Dennis! Wird auch Zeit, dass du endlich heim kommst! Ich weiß nicht mehr weiter!“

Erschrocken mache ich einen Schritt zurück und hebe abwehrend die Hände. Ich werde ihm seine zerbrechliche Last ganz sicher nicht abnehmen! Erst mal will ich wissen, was hier los ist! „Andreas, warum bist du nackt? Und was ist DAS?"

Andreas erfasst offensichtlich, wie wütend ich gerade bin. Beschützend zieht er das kleine Wesen wieder in seine Arme und murmelt ihm leise Worte ins Ohr. Etwas in mir schmilzt. Selbst nach all der Zeit bin ich nicht immun gegen die Wirkung, die mein Mann auf mich hat, wenn er blankzieht. Seine breite, leicht behaarte Brust, die ausgeprägten, aber nicht aufgepumpten Muskeln, die schmalen Hüften und die langen, kräftigen Beine sind einfach heiß. Ausnahmsweise interessiert mich seine Mitte aber diesmal nur am Rande. Das winzige Baby, dass er so sanft hält, verschiebt mein Bild von dem Sexgott, den ich kenne und liebe, hin zu einem archaisch wirkenden Beschützer. Der Eindruck berührt mich tief, an einer Stelle, die ich bisher bei mir noch nicht kannte. Ich bin jung, schwul und in den letzten Jahren ist so viel passiert, dass ich mir über Kinder nie Gedanken gemacht habe.

Andreas mit dem Baby zu sehen macht mir plötzlich klar, wie sehr ich mir wünsche, mit ihm eine Familie zu gründen. Der Kleine könnte unser Sohn sein. Wie Andreas hat er dunkle Haare, schokoladenbraune Augen und eine sanft gebräunte Haut. Bei dem Baby scheint der warme Karamellton allerdings permanent zu sein. Im Gegensatz zu Andreas zeigt sich bei dem Kleinen kein einziger Bereich, in dem die Haut wirklich weiß ist, weil die Sonne sie dort nie berührt.

Der Winzling fängt an zu quengeln und Andreas wiegt ihn ein wenig hin und her. So niedlich das auch ist, ich möchte schon gerne wissen, wo das Kind auf einmal herkommt und warum Andreas mit ihm zusammen geduscht hat.

„Andreas?“ erinnere ich ihn an meine Gegenwart.

„Bitte, Dennis, nimm mir den Kleinen einen Moment ab, damit ich mir was anziehen kann.“

Unbeholfen greife ich nach dem Baby und wickle es in ein flauschiges Handtuch, das Andreas auf der Heizung vorgewärmt hat. Es sieht mich mit großen, erstaunten Augen an, brabbelt ernsthaft vor sich hin und wedelt dazu mit den Armen.

„Hallo, du …“, erwidere ich zaghaft. Ich hatte meines Wissens noch nie einen so kleinen Menschen im Arm.

„Gnaaah!“, kräht der Winzling begeistert und grinst zahnlos. Na, das war ja einfach! Ich lächle zurück und werde belohnt, indem der Kleine mir eine ganze Geschichte erzählt. Ich verstehe zwar kein einziges Wort, aber er scheint zufrieden zu sein, solange ich freundlich nicke und hin und wieder „Ja, fein!“ sage.

Während mein neuer Kumpel und ich uns angeregt unterhalten, trocknet Andreas sich rasch ab und schlüpft in Shorts und ein T-Shirt. Ich erhasche noch einen letzten Blick auf seinen nackten Rücken, bevor er sich mir zuwendet. Irgendwie habe ich einen schuldbewussten Gesichtsausdruck erwartet, schließlich hat er mich heute Nachmittag versetzt, die Tiere nicht versorgt und ein Baby angeschleppt, ohne etwas so Wichtiges mit mir zu besprechen. Aber er wirkt nicht zerknirscht, sondern ziemlich sauer.

„Hast du mir was zu sagen, Dennis?“, knurrt er mich an.

„Ich? Spinnst du jetzt komplett? Wer von uns stand den vor einer Minute noch mit einem Säugling unter der Dusche?“ Meine Wut von vorhin kocht wieder hoch. Leider merkt das auch der Winzling in meiner Armbeuge und verzieht das Gesicht. Tränen sind nur noch Sekunden entfernt, das merke sogar ich, obwohl ich keinerlei Erfahrung habe. Beschwichtigend wiege ich das Kind hin und her, bis die Gefahr gebannt ist. Andreas beugt sich zu mir und unterstützt meine Bemühungen mit gurrenden Lauten, die ich einem so großen Mann nie zugetraut hätte. Der Kerl macht mich fertig! Eigentlich bin ich doch sauer auf ihn, aber gerade verliebe ich mich noch ein wenig mehr. Echt jetzt, wer kann schon einem Mann widerstehen, der so sich so niedlich um ein kleines Kind kümmert? Ich jedenfalls nicht!

Mit einem gefakten Grinsen hält Andreas dem Kleinen seinen Finger hin. Der greift sofort danach und versucht, ihn sich in den Mund zu stopfen. Vielleich merkt er deshalb nicht, was genau mein Mann da gerade in einem absolut freundlichen Tonfall von sich gibt, der nicht wirklich zu seinen Worten passt. „Ja, mein Kleiner! Hast du schon wieder Hunger? Jetzt, wo dein Papa, der böse Dennis, wieder da ist, macht er dir sicher gleich ein leckeres Fläschchen! Und dann kann er mir erklären, wer deine Mama ist und warum sie dich hier auf der Türschwelle abgelegt hat. Und warum der liebe Andreas gar nichts von dir wusste, du kleiner Scheißer …“

„Gnaaah!“, antwortet besagter kleiner Scheißer ernsthaft und schaut doch tatsächlich mich an, als wüsste er das auch gerne.

Mir entgleiten nicht nur die Gesichtszüge, ich lasse bei dieser Anschuldigung fast das Kind fallen. Kopfschüttelnd nimmt Andreas es mir ab und legt es an seine Schulter. Da der Kleine ihn jetzt nicht mehr sehen, kann macht er sich auch nicht mehr die Mühe, seine Wut auf mich zu verbergen.

„Das ist nicht dein Ernst, oder?“, keuche ich fassungslos. Ich habe Andreas noch nie betrogen, schon gar nicht mit einer Frau. Ich wusste immer, dass ich ausschließlich auf Männer stehe und bin nur theoretisch darüber informiert, wie Sex mit dem anderen Geschlecht funktioniert. Andreas unerwartete Anschuldigungen, besonders der absurde Verdacht, ich wäre ihm untreu gewesen, tun mir richtig weh. Ich fühle mich, als hätte er mich ohne Warnung mit aller Wucht in den Magen geboxt. Das Badezimmer scheint sich um mich zu drehen und ich suche nach Halt, weil ich mich festhalten muss, um nicht umzukippen.

Plötzlich spüre ich einen starken Arm, der mich an eine breite Brust zieht. Andreas Wärme und sein geliebter Duft hüllen mich ein. Wenn ich die Augen schließe, kann ich so tun, als wäre alles wie immer …

Leider sind wir aber nicht alleine. Ein kleiner Fuß trifft mich an der Schulter und eine winzige Faust krallt sich in mein Haar. Der Winzling zieht überraschend fest und entlockt mir ein empörtes „Aua!“. Andreas leises Lachen legt sich wie Balsam auf meine Seele. „Wenigstens hat er dich nicht von oben bis unten vollgekotzt“, flüstert er mir ins Ohr.

Das erklärt zumindest, warum die beiden eine Dusche nötig hatten …

„Andreas, ich habe wirklich keine Ahnung, wo das Kind herkommt, und warum jemand es hier ausgesetzt hat. Aber ich weiß eines ganz sicher: Von mir ist es nicht! Ich hatte noch nie im Leben etwas mit einer Frau, ehrlich nicht, das musst du mir glauben!“ Ich beuge mich ein wenig zurück, damit ich ihm in die Augen schauen kann, ohne den tröstlichen Luxus seiner Umarmung aufzugeben. Andreas erwidert meinen Blick und was auch immer er darin sieht, scheint seine Zweifel auszuräumen. Er küsst mich sanft.

„Tut mir leid, dass ich dich so angeblafft habe. Natürlich glaube ich dir! Ich war nur so perplex, als ich das Kind gefunden habe, dass mir keine andere Erklärung eingefallen ist.“

„Gnaaah?“

„Wahrscheinlich hat er Hunger! Ich habe ihm zwar etwas gegeben aber dann …“ Ein wenig verlegen unterbricht sich Andreas.

„Was ist dann passiert?“

„Zuerst habe ich ihn Bäuerchen machen lassen, wie man das im Fernsehen immer sieht. Und dann …“

„Raus mit der Sprache!“

„Wir haben ‚Flieger‘ gespielt, das fand er toll. Er hat jedes Mal gejauchzt, wenn ich ihn hochgeworfen habe, bis …“

Lachend vervollständige ich den Satz: „… bis er dir alles über den Kopf gekotzt hat, oder?“

Der Ausdruck von unverhohlenem Ekel in seinem Gesicht lässt mich hilflos kichern. Der Mann ist Bauer, ich habe ihn schon von oben bis unten voller Scheiße gesehen, mehr als einmal. Wenn er Geburtshilfe bei einer Kuh leistet, steckt er manchmal bis zur Schulter in deren Arsch und hinterher klebt überall Blut und Schleim. Aber Kinderkotze findet er widerlich?

Andreas schnaubt und kratzt den Rest seiner Würde zusammen. „Du findest mich in der Küche, wenn du mit Lachen fertig bist.“ Zusammen mit dem Winzling rauscht er die Treppe herab.

Ich nutzte die Gelegenheit und springe in Rekordzeit unter die Dusche, um den Schmutz und Schweiß des langen Arbeitstages abzuwaschen. In frischen Klamotten folge ich ihm nach unten. Andreas sitzt am Küchentisch, auf dem eine riesige Wickeltasche steht. In seiner Armbeuge hält er den Winzling, der gierig an einer bunt bedruckten Flasche saugt. Die beiden lassen sich von mir nicht ablenken, sondern schauen sich tief in die Augen. Die Szene wirkt so friedlich und häuslich, dass ich nicht anders kann. Ich zücke mein Handy und mache ein Foto.

Andreas schaut mich an und ich weiß genau, was er denkt, obwohl wir bisher nie über Kinder geredet haben.

 „Eines Tages, versprochen?“, frage ich leise.

„Eines Tages, versprochen!“, antwortet er ohne zu zögern.

Mit einem hörbaren ‚Plopp‘ entlässt der Kleine den Nuckel der Flasche aus seinem Mund gleiten. Sie ist leer und seine Lider sinken auf Halbmast. Da ist jemand rechtschaffen müde, scheint mir. Andreas steht langsam auf und reicht mir das schon halb schlafende Baby.

„Diesmal bist du für das Bäuerchen verantwortlich!“, flüstert er mir ins Ohr und macht sich daran, die Flasche auszuspülen. Ich muss schmunzeln, wiege das kleine, warme Bündel an meiner Schulter und klopfe ihm sanft auf den Rücken. Ein kleiner Rülpser belohnt meiner Bemühungen, dann höre ich nur noch leise, gleichmäßige Atemzüge. Das Baby riecht nach Milch, ein wenig süßlich und leicht herb nach Andreas bevorzugtem Duschgel. Ich möchte es nie wieder hergeben …

Wieder liest Andreas meine Gedanken. „Eines Tages, Dennis, aber nicht heute. Der Kleine gehört zu jemand und wenn der- oder diejenige sich nicht bald meldet, müssen wir die Polizei oder zumindest das Jugendamt anrufen.“ Er überlegt einen Moment. „Das hätte ich vielleicht sofort machen sollen! Was ist, wenn er entführt wurde und schon verzweifelt vermisst wird?“

„Hat er wirklich hier auf der Schwelle gelegen?“, frage ich neugierig.

„Nein, eigentlich saß er in dem Ding da festgeschnallt auf dem Küchentisch.“ Vage deute Andreas zu einem Maxi Cosi in der Ecke. „Daneben lag die Wickeltasche und davor stand eine ganze Batterie von vorbereiteten Flaschen auf einem Zettel mit den Anweisungen, wie man sie in der Microwelle warm machen kann.“

„Hast du auch zufällig irgendwo in dieser riesigen Tasche etwas mit seinem Namen drauf gefunden? Oder noch besser, mit dem Namen seiner Mutter?“

„Ähm …“

„Sag nur, du hast noch gar nicht reingeschaut!“ Mein Mann ist wirklich nicht dumm, aber manchmal …

Andreas zieht die Wickeltasche mit einem schuldbewussten Blick an sich und will gerade den Reißverschluss öffnen, als ihm offensichtlich etwas auffällt. In einem Seitenfach steckt ein großer Umschlag. So vorsichtig, als wäre es eine Briefbombe, nimmt Andreas ihn in die Hand und öffnet ihn. Mit gerunzelter Stirn fängt er an, laut vorzulesen.

Hallo Dennis, hallo Andreas!

Bitte entschuldigt, dass ich Elias einfach so bei euch parke. Ich habe versucht anzurufen, aber niemanden erreicht, und ich weiß nicht, wenn ich sonst um Hilfe bitten soll. Ihr habt immer gesagt, wenn ich mal was brauche, soll ich einfach vorbeikommen. Jederzeit.

Meine Scheidung ist endlich durch und ich habe ganz unerwartet die Gelegenheit gleich in Polizeibegleitung noch ein paar Sachen aus der Wohnung zu holen. Wahrscheinlich ist eh alles schon im Müll gelandet, ihr kennt Bernd ja. Dabei will ich den Kleinen auf keinen Fall mitnehmen. Bernd wird ohnehin eine Szene machen, aber wenn er das Kind sieht, flippt er komplett aus.

Ich hole Elias so schnell wie möglich wieder ab, wahrscheinlich noch heute Abend. Wenn was ist, ruft an. Alle wichtigen Nummern findet ihr unten aufgelistet.

Viele Grüße und tausend Dank im Voraus, Clara!“

Andreas lässt den Brief sinken und schüttelt versonnen den Kopf. Ich weiß, was er denkt.

Clara hat einige Zeit hier im Hofladen gearbeitet, bis ihr damaliger Verlobter es ihr verboten hat. Ich verstehe bis heute nicht, wieso sie mit ihm zusammen war. Clara ist die netteste und liebste Person, die man sich vorstellen kann, immer freundlich und hilfsbereit. Ja, ok, manchmal wirkt sie ein wenig verpeilt und sie schämt sich, weil sie etwas pummlig ist. Aber sie hat das warmherzigste Lächeln der Welt und wer nicht sieht, wie hübsch sie mit ihren dunklen Locken und dem kleinen Grübchen in der linken Wange ist, hat einfach nicht genau genug hingeschaut. Bernd dagegen ist ein richtiger Prolet, der ständig seine ultrarechten Ansichten ungefragt und laut zur Kenntnis gibt. Natürlich mussten die beiden heiraten, nachdem Clara schwanger wurde. Allerdings ist Bernd fast ausgerastet, als er Elias zum ersten Mal zu Gesicht bekam. Da hat es auch nichts genutzt, dass alle, die Clara schon als Baby kannten, Bernd versichert haben, seine Frau hätte früher genauso eine karamellfarbene Haut gehabt. Der Idiot behauptet bis heute steif und fest, Clara wäre fremdgegangen, und bestand auf der Scheidung. Unsere Meinung nach tat er Clara damit einen großen Gefallen …

Andreas überwindet die wenigen Schritte, die uns trennen und nimmt mich in den Arm, ganz vorsichtig, weil ja Elias immer noch an meiner Schulter schläft.

„Bitte entschuldige! Wenn ich doch ein wenig genauer hingeschaut hätte … Ich habe einfach nur den Kleinen gesehen und gedacht … Ich liebe dich so sehr, Dennis, ich könnte es nicht ertragen, wenn du mich verlässt!“

Ich lasse seine scheinbar zusammenhanglosen Worte unkommentiert, küsse ihn stattdessen, versichere ihm so, dass ich ihm verzeihe und ihn von ganzem Herzen liebe. Mein großherziger, wunderschöner Mann denkt tatsächlich immer noch manchmal, dass er zu alt für mich ist und ich ihn irgendwann für jemand Jüngeres verlassen würde. Reden hilft da nicht, wie ich mittlerweile aus Erfahrung weiß, aber ich hoffe, dass jeder gemeinsame Tag seine Sorge schwinden lässt und er sie eines Tages komplett vergisst.

„Gnaaah?“, quengelt jemand leise.

Wir müssen beide lachen, weil der Kuss – wie immer – nicht so unschuldig geblieben ist, wie er geplant war.

„Vielleicht sollten wir den Kleinen in Bett bringen und dann da weitermachen, wo wir gerade aufgehört haben“, schlage ich vor.

Andreas nickt. Gemeinsam verpassen wir dem Baby, das immer noch nichts außer dem großen Handtuch trägt, eine Windel (richtig schwierig!), ziehen ihm einen Strampler an (überraschend einfach!) und stecken ihn in eine merkwürdige Mischung aus Latzhose und Schlafsack, die wir in der Wickeltasche finden. Ich baue ein gemütliches Nest aus Kissen auf dem dicken Teppich vor der Couch, während mein Mann Elias, der bei unseren Bemühungen wach geworden ist, einen Schnuller in den Mund steckt und ihn wieder in den Schlaf wiegt. Andreas scheint sich kaum trennen zu können und legt das Baby erst auf meinen strengen Blick hin in sein provisorisches Bett.

Erschöpft lassen wir uns aufs Sofa fallen und betrachten den Kleinen, der nun wie ein Engel schläft. Sex ist etwas wundervolles, aber diese durch und durch häusliche Szene hat ihren ganz eigenen Reiz, den wir beide auskosten möchten. Ohne dass wir darüber reden müssen, wissen wir genau, dass wir gerade einen kleinen Blick in eine mögliche Zukunft als Familie werfen. Es fühlt sich verdammt gut an und aneinandergeschmiegt genießen wir es.

So findet uns Clara, als sie zu später Stunde auf leisen Sohlen ins Wohnzimmer geschlichen kommt. Sie wirkt erschöpft und kann nicht verbergen, dass sie geweint hat. Schweigend nimmt sie ihren Sohn hoch und drückt ihn an sich. Andreas, guter Samariter, der er nun einmal ist, überzeugt sie, diese Nacht nicht mehr weiter zu fahren, sondern im Gästezimmer zu bleiben und sich richtig auszuschlafen.

Also sitzen am nächsten Morgen zweieinhalb Männer und eine Frau am Frühstückstisch. Elias erzählt wortreich, wenn auch unverständlich eine Geschichte und mopst zwischendurch kleine Brotstücke von Andreas, der sich das gutmütig gefallen lässt, nachdem Clara ihr ok dazu gegeben hat.

Der Abschied kommt viel zu schnell, allerdings ist es keiner auf Dauer. Wir können Clara überreden, in Zukunft wieder bei uns im Laden zu arbeiten. Elias wird sie natürlich mitbringen, zumindest bis er in den Kindergarten geht. Als sie schließlich davonfährt, starre ich ihrem kleinen Auto hinterher, bis es nicht mehr zu sehen ist.

Andreas stößt mich mit der Schulter an. „Komm schon, Onkel Dennis. Die Arbeit ruft!“

Ich muss lachen. Onkel Dennis hört sich erstaunlich gut an, Onkel Andreas fast noch besser. Und mit Elias können wir üben, bis wir irgendwann einen eigenen Winzling haben, der „Papa“ ruft, wenn er – oder sie – etwas von und möchte. Dieses Versprechen haben wir einander gestern Nacht gegeben und ich freue mich jetzt schon darauf, wenn wir es eines nicht allzu fernen Tages wahr werden lassen.

 

 

 

 

 

Impressum

Texte: C.J. Rivers
Bildmaterialien: Bild von PublicDomainPictures auf Pixabay
Cover: C.J. Rivers
Tag der Veröffentlichung: 11.11.2019

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