Der Regen strömt nur so herab, während ich wie hypnotisiert auf die weißen Handschuhe der Sargträger starre. Ich spüre weder die Nässe, noch regt sich ein anderes Gefühl in mir. Die ganze Situation kommt mir surreal vor, völlig absurd.
Ich höre, dass der Pfarrer redet, der Vorsitzende des Schützenvereins, ein Feuerwehrmann in Ausgehuniform und ein geschniegelter Typ, der wie ein Banker wirkt. Keine Ahnung was die sagen. Bei mir kommen nur leere Worthülsen an.
Endlich wird der Sarg abgelassen. Die Träger ziehen ihre weißen Handschuhe aus, werfen sie ins Grab und entziehen sie so meinem Blick. Als wäre damit ein Schalter umgelegt worden, springt mein Bewusstsein wieder an. Der Bestattungsunternehmer tritt gerade vor, bittet die Anwesenden von Trauerbezeugungen am Grab Abstand zu nehmen, und lädt sie zum Beerdigungskaffee im Dorfgasthof ein.
Meine Mutter steht gramgebeugt an der offenen Grube und schluchzt, gestützt von meinen beiden Brüdern. Von den guten Söhnen. Den erfolgreichen. Den normalen …
Ich atme tief durch, um den Impuls zu unterdrücken, mich zu übergeben. Der Gedanke, welchen Skandal es verursachen würde, wenn ich vor der kompletten Trauergemeinde in das Grab meines Vaters kotze, erheitert mich kurz. Was hat mich bloß auf die Idee gebracht hierher zu kommen?
Ach ja! Der Therapeut, den ich regelmäßig aufsuche, seit du mich verlassen hast, meinte, es wäre eine gute Idee, um mit meiner Vergangenheit abzuschließen. Gerade finde ich, dass es eine totale Scheiß-Idee ist. Ich habe keinen trockenen Faden mehr am Leib, selbst meine teuren Lederschuhe sind durch und durch nass, und innerlich fühle ich mich roh und wund.
Wieder hier zu sein, öffnet seelische Verletzungen, die längst verheilt sein sollten.
Mechanisch trete ich vor, nachdem meine Brüder meine Mutter vom Grab weggeführt haben, und werfe einen Blick hinein. Der kostbare Eichensarg wird von einen prachtvollen Gesteck aus Rosen und Lilien geschmückt, deren Eleganz und Schönheit nicht einmal der anhaltende Wolkenbruch schadet. Ein der Situation nicht angemessenes Lachen steigt in mir auf. Alles vom Feinsten hier, alles genau durchgeplant, alles auf Effekt ausgerichtet. Nicht einmal das schlechte Wetter beeinträchtigt die letzte Show. Ich schätze, dass sich einige hundert Trauergäste unter den hastig aufgespannten Schirmen zusammendrängen. Mir kommt das Gewitter gerade recht. Es passt ausgezeichnet zu meiner Laune. Dabei denke ich übrigens hauptsächlich an die wütenden Blitze.
Als ich mich automatisch bekreuzige, wie ich das auf so vielen anderen Beerdigungen am Grab gemacht habe, verspüre ich weder Respekt noch Trauer. Ich fühle nur eine Mischung aus altem Zorn und neuer Leere. Du würdest mich in den Arm nehmen und sagen, dass ‚der alte Mistkerl‘ mich nun nie wieder verletzen kann und ich doch eh schon seit Jahren nicht mehr mit ihm gesprochen hätte.
Fast fühle ich dich an meiner Seite, fast höre ich deine geliebte Stimme im Ohr. Aber du bist fort, weil ich auch mit dir nicht mehr reden konnte. Weil mir die Worte immer wieder im Hals stecken geblieben sind. Weil ich nie gelernt habe, mit jemandem über meine Gefühle zu sprechen. Ich habe dir tatsächlich nie erzählt, weshalb ich Hals über Kopf zuhause ausgezogen und niemals dorthin zurückgekehrt bin.
Im letzten Moment unterdrücke ich den Impuls, in das noch offene Grab zu spucken, drehe mich um und beeile mich zum Parkplatz neben dem Friedhof zu kommen, um diesen unerträglichen Ausflug in meine Vergangenheit zu beenden.
Plötzlich legt sich eine Hand auf meine Schulter. Instinktiv ducke ich mich weg, bevor sie mich herumreißen kann und mir eine Faust in den Magen getrieben wird. Mein Herz rast wild und Adrenalin jagt durch meine Adern.
„Warte doch, Nils!“
Ich brauche einen Moment, um die kurzen, dunklen Haare, das kantige Gesicht und die schlanke, aber kräftige Gestalt einem Namen zuzuordnen.
„Wolle?“
Ein breites Grinsen blitzt auf und plötzlich erkenne ich meinen alten Schulfreund unzweifelhaft wieder, auch wenn die langen Haare, die Hornbrille und die ewigen Band-T-Shirts verschwunden sind. Außerdem hat Wolle offensichtlich den Sport für sich entdeckt. Und damit meine ich nicht die durchzockten Nächte vor dem Computer, sondern echtes Training. Niemand, der sich nicht regelmäßig bewegt, hat eine solche Figur.
„Ich kann mir schon vorstellen, dass du nicht zum Beerdigungskaffee gehst, aber vielleicht hast du Lust, mit mir in Ruhe etwas zu trinken, bevor du wieder ohne ein Wort für zehn Jahre auf Nimmerwiedersehen verschwindest?“ Ein kleines Lächeln nimmt der Aussage die Spitze und echte Hoffnung steht in Wolles Augen.
Ich zögere noch. Auch wenn ich mich gerne mit ihm unterhalten will, alles in mir sehnt sich danach, diesen Ort hier so schnell wie möglich zu verlassen. Wolle muss das spüren, denn er legt – mit Blick auf mein Nummernschild - noch einen nach:
„Ach, komm schon, Nils, du willst doch nicht mit deinen nassen Klamotten jetzt ernsthaft die 500 km bis Köln fahren, oder? Lass deine Karre stehen, spring bei mir rein und ich zeige dir, wo ich seit ein paar Jahren wohne. Du kannst von mir was Trockenes zum Anziehen haben und wir quatschen ein bisschen. Lisa wird sich auch bestimmt freuen.“
Lisa. Klar.
„Ihr seid echt noch zusammen?“
Sein Lächeln wird sanft. „Für immer. Wir haben vor fünf Jahren geheiratet und gerade eine kleine Tochter bekommen. Unser Sohn ist schon vier.“
Wolle rempelt mich mit der Schulter an, wie er es als Junge tausendmal gemacht hat. „Ich will sie dir unbedingt vorstellen. Bitte, Nils, ja?“
Etwas in mir schmilzt. Nicht alles in meiner Kindheit war schlecht und für die meisten guten Erinnerungen sind Wolle und Lisa verantwortlich. Ergeben nicke ich und lasse mich von Wolle zu einem alten SUV zerren, der seine besten Tage hinter sich hat. Auf der Rückbank ist ein Kindersitz befestigt, die Vordersitze haben verschlissene, aber waschbare Überzüge und verzeihen unsere klatschnassen Anzüge mit Sicherheit besser als die hellen Lederbezüge in meinem Wagen.
Während Wolle den schweren Wagen aus dem Dorf heraus lenkt, erzählt er und ich höre zu. Das war schon immer so. Wenn man dauernd aufpassen muss, was man sagt, hält man besser gleich den Mund.
„Wir haben das alte Forsthaus gekauft.“ Er lacht und wackelt mit den Augenbrauen. „Also, eigentlich gehört es nun zum größten Teil der Bank, aber wir leben dort und für uns ist es genau richtig. Lisa hat nach dem Abi wirklich die Gärtnerlehre gemacht und kann sich auf dem großen Grundstück jetzt so richtig austoben. Alles rein biologisch. Sie baut da Gemüse und Kräuter an, hält jede Menge Viecher und hat aus der alten Remise einen kleinen Bioladen gemacht. Der läuft gar nicht schlecht.“
„Und du?“
„Ich wollte ja eigentlich Architektur studieren, hatte aber erst mal keinen Bock mehr auf reine Theorie. Ich bin Bauzeichner geworden und arbeite jetzt in einem großen Planungsbüro. Wir sind ein junge Team, die Arbeit macht unheimlich Spaß und … ich verdiene ehrlich gesagt nicht schlecht.“
Er wirft mir einen Blick zu und zögert einen Moment. „Wir wollten immer eine große Familie haben, Lisa und ich. Für uns passt es genau, so wie es ist. Meine Eltern und Lisas Mutter unterstützen uns, wenn wir mal einen Babysitter brauchen. Sie sind ganz vernarrt in die Kleinen.“
Das ist so weit weg, von dem Leben, das ich führe …
Familie heißt für mich Terror, Kinder wollte ich nie und mein Vater hat mich mehr oder weniger aus dem Haus gejagt. Die seltenen Alibi-Anrufe meiner Mutter sind eher peinlich und dienen wohl in erster Linie dazu, ihr Gewissen zu beruhigen. So kann sie jederzeit behaupten, sie hätte sich schließlich bemüht, den Kontakt zu halten und sich einreden, ihr könne man keinen Vorwurf machen, weil ich nie mehr nach Hause gekommen bin. Dabei fragt sie mich nie, ob oder wann ich kommen möchte. Ich glaube sie kennt die Antwort und ignoriert sie einfach. Darin, unbequeme Wahrheiten nicht zur Kenntnis zu nehmen, ist sie immer absolute Spitze gewesen.
Ich bin mir nicht sicher, ob Wolle und Lisa mich verstehen werden. Ob du wohl nachvollziehen kannst, was ich empfinde? Ich habe dir nie erzählt, was in meiner Kindheit und Jugend passiert ist. Ich habe mit keinem Menschen darüber geredet, bis du mich verlassen hast und ich dachte, ich würde ersticken, wenn ich den neuen Schmerz und die alte Wut nicht endlich herauslasse.
Inzwischen sind wir auf einen gekiesten Hof gefahren. Das alte Forsthaus wirkte früher immer recht nüchtern, mit akkurat gemähtem Rasen hinter einem alten Jägerzaun, einigen sorgfältig in Form geschnittenen Koniferen und einem kleinen Wildgehege hinter der Remise, in dem der Förster hin und wieder ein verwaistes Rehkitz oder einen Frischling aufzog.
Nun haben bunt blühende Stauden den Zaun beinahe überwuchert und strecken der Sonne, die gerade zögerlich durch die Wolken bricht, eifrig ihre Köpfe entgegen. Die Koniferen sind zum größten Teil verschwunden und haben Beerensträuchern und jungen Obstbäumen Platz gemacht, die mit engmaschigen Netzen gegen Vogelfraß geschützt werden. Im Wildgehege wacht ein stattlicher, bunter Hahn über eine ansehnliche Schar von Hennen und auf der nahegelegenen Wiese grasen tatsächlich zwei Esel und ein paar Ziegen.
Wolle führt mich nicht zur Haustür, sondern zum Hintereingang, der uns direkt in eine große Wohnküche bringt. Es riecht nach Kaffee, frischem Kuchen und warmer Milch. Lisa sitzt mit einem Säugling im Arm am Tisch und scheint ihn gerade zu füttern. Am Boden spielt ein kleiner Junge mit bunten Plastik-Traktoren. Beide heben den Kopf als wir hereinkommen. Mit einen freudigen „Papa!“ springt der Kleine auf und stürzt sich in Wolles Arme, der ihn sicher auffängt und einmal herumwirbelt.
Lisa steht langsamer auf, drückt Wolle im Vorbeigehen einen beiläufigen Kuss auf die Wange, ohne den Blick von mir abzuwenden, und kommt zu mir. Tränen stehen in ihren Augen.
„Darf ich?“, fragt sie leise und hebt einen Arm. Ich nicke stumm, weil ich einen Kloß in der Kehle habe. Sie kuschelt sich an mich, wie sie es tausendmal gemacht hat, als wir noch jung waren, und drückt ihre Nase in meine Halsbeuge. Dass ich klatschnass bin, scheint sie nicht im Geringsten zu stören. Das geht dem kleinen Bündel, das zwischen sie dabei vorsichtig zwischen uns einklemmt, anders. Der Säugling gibt einen unwilligen Laut von sich, der mich an das Mauzen einer Katze erinnert. Lisa lacht ein wenig, rückt wieder von mir ab und zieht geräuschvoll die Nase hoch.
„Geh duschen und lass dir von Wolle was Trockenes zum Anziehen geben. Bis du fertig bist, habe ich den Tisch gedeckt.“ Sie küsst mich mitten auf den Mund, was Wolle ein Grollen entlockt, und schiebt mich energisch in Richtung Flur. „Los, mach schon! Du auch, Wolle.“
Zum ersten Mal an diesem Tag wird mein Herz leicht. Das ist eine der wirklich guten Erinnerungen: Die kleine, zierliche Lisa, die Wolle und mich ohne mit der Wimper zu zucken herumkommandiert und uns zu den verrücktesten Dingen anstiftet. Die uns nach vollbrachter Tat in ihrem Baumhaus mit Keksen und Schokolade verwöhnt. Die mich einfach in den Arm nimmt und tröstet, wenn sie spürt, dass etwas nicht ok ist. Ohne zu fragen. Ohne zu zögern.
Ich habe Wolle nie gesagt, was ich für ihn wirklich empfunden habe. Aber ich musste auch nie fragen, ob er das Gefühl erwidert. Wir alle drei wussten immer, dass Wolle, Lisa und ich die allerbesten Freunde sind, aber Wolle und Lisa eines Tages Liebhaber sein werden. Ich kann noch mich an den Tag erinnern, nachdem es geschehen ist. Die beiden waren glücklich und ich wollte mich wirklich mit ihnen freuen. Wie so vieles blieb ungesagt, dass ich Wolle damals mehr als alles auf der Welt begehrte, während er nur Lisa wollte.
Unter der Dusche lausche ich in mich hinein. Will ich Wolle noch immer? Aus dem Jungen, mit dem ich Abitur gemacht habe, ist ein ganzer Mann geworden. Ein außerordentlich attraktiver Mann. Aber während ich darüber nachdenke, regt sich nichts bei mir. Ganz anders sieht das aus, wenn ich meine Gedanken auf dich lenke. Die Erinnerung an dein Lachen, deinen warmen, festen Körper, deinen einzigartigen Geruch treiben augenblicklich das Blut in meine Mitte und lassen mich schmerzhaft hart werden. Es kommt mir falsch vor, mir einen runterzuholen, während ich bei meinen alten Freunden zu Besuch bin. Andererseits kann ich auf keinen Fall mit einem Harten in der Küche auftauchen, in der nicht nur Wolle und Lisa sein werden, sondern auch die beiden Kinder. Ich hoffe, dass das Prasseln des Wassers mein Stöhnen unterdrückt, als ich meinen Rhythmus finde. Während meine seifige Rechte immer schneller auf und ab gleitet, beiße ich zur Sicherheit in meine linke Hand. Endlich rast der Orgasmus durch mich hindurch.
Ich weiß nicht, ob die Nässe auf meinen Wangen allein von der Dusche kommt.
„Timo, ich vermisse dich so sehr …“
Wolles Jeans sind mir ein wenig zu weit, genau wie sein Shirt, aber für ein paar Stunden wird es wohl gehen. Ich werfe meinen nassen Anzug zusammen mit dem Hemd und der Unterwäsche in den Trockner und schalte den Schongang ein. Keine Ahnung, ob das richtig ist, normalerweise gebe ich meine Anzüge in die Reinigung.
Bevor ich nach unten gehe, schaue ich in den Spiegel. Ich habe Schatten unter den Augen, weil ich in letzter Zeit schlecht schlafe. Es fehlt mir nicht wirklich, dass du mir die Decke klaust oder im Schlaf wild um dich schlägst, aber ich vermisse die kleinen Geräusche, die mir versichern, dass ich nicht alleine bin.
Seit du gegangen bist, habe ich außerdem abgenommen, weil mich niemand mehr daran erinnert, regelmäßig zu essen. Eigentlich eher, weil ich keine Lust habe, alleine am Tisch zu sitzen und die Fertiggerichte, die ich mir zubereite, noch schlechter schmecken, als deine merkwürdigsten Kochexperimente. Nudeln mit Buttersoße habe ich gehasst, als du bei mir gewohnt hast. Es ist mittlerweile mein Lieblingsgericht, weil es mich an dich erinnert. Als du noch da warst, hat es mich manchmal genervt, dass du bei den Mahlzeiten ununterbrochen geredet hast. Danach fand ich die Stille unerträglich. Erst da ist mir bewusst geworden, dass ich vorher oft wie mein Vater reagiert habe. Bei Tisch wird nicht gesprochen! Das Familienoberhaupt liest die Zeitung und alle haben respektvoll zu schweigen.
Was für ein Schwachsinn! Wie konnte ich nur in ein Muster fallen, das ich verabscheue, seit ich denken kann? Mein Therapeut behauptet, mir würden andere Vorbilder fehlen und ich hätte deshalb instinktiv imitiert, was ich als Kind kennengelernt habe.
Durch die geschlossene Tür höre ich Wolle lachen, die helle Stimme des kleinen Jungen und Lisas ruhige, bestimmte Antwort. Warum habe ich nie ernsthaft versucht, das zu leben, was ich bei den Beiden zuhause gesehen habe? Wolle hat vier jüngere Geschwister und bei Tisch ging es ständig laut, lebhaft und fröhlich zu. Lisa wohnte zwar mit ihrer Mutter alleine, aber wenn wir dort waren, ermunterte die uns immer, zu erzählen, was uns auf der Seele lag. Lisa durfte dann nach Herzenslust über blöde Lehrer, zickige Mitschülerinnen und ungerechte Note schimpfen. Wenn der erste Frust raus war, sah meist alles schon wieder viel besser aus und die Mahlzeit endete in der Regel mit Gelächter.
Wenn ich dagegen mit solchen Geschichten zuhause ankam, hieß es immer, die Lehrer hätten schon recht, ich solle gefälligst gehorchen und wäre selber schuld. Im besten Fall bekam ich für meine Beschwerde nur einen Nachmittag Stubenarrest, um für ‚gerechtere‘ Noten zu pauken. Im schlechteren Fall setzte es zuerst noch eine Ohrfeige oder eine Tracht Prügel.
„Kleiner, bist zu unter der Dusche ersoffen?“ Wolles launig gebrüllte Frage reißt mich aus meinen Erinnerungen.
„Ich komme sofort, Alter!“, schreie ich in der gleichen Lautstärke zurück und muss plötzlich lachen. Wolle ist genau einen Monat vor mir geboren und ungefähr seit der fünften Klasse bin ich genauso groß wie er. Die Spitznamen sind trotzdem kleben geblieben.
Der Tisch in der Küche sieht aus, als hätte sich eine komplette Fußballmannschaft angemeldet. Neben Kaffee und Kuchen stehen da eine große Schale frisches Obst, ein Korb mit Brot, eine Platte voller Wurst und Käse sowie ein paar Gläser mit verschiedenen Marmeladen. Auf dem Herd dampft ein großer Topf, der verführerisch nach Gemüsesuppe duftet. Gedeckt ist für drei Personen und Lisa drückt mich energisch auf einen der Stühle, bevor sie mir ungefragt einen Teller Eintopf serviert. Wolle bedient sich selbst und lässt sich mir gegenüber auf die hölzerne Eckbank fallen. Lisa wirft noch einen Blick auf ihren Sohn, der auf der Couch in der Wohnecke herumlümmelt und fasziniert eine Zeichentrickserie anschaut, die über den Bildschirm flimmert, dann nimmt sie sich ebenfalls eine Portion und setzt sich zwischen uns.
„Haut rein, Jungs!“
Erst als ich anfange zu essen, bemerke ich, wie hungrig ich bin. Schweigend genieße ich die Mahlzeit, während Lisa munter erzählt, dass die Zutaten für die Suppe komplett aus ihrem eigenen Garten stammen und dass die Butter und der Käse so hell sind, weil sie aus Ziegenmilch hergestellt wurden. Von eigenen Ziegen, versteht sich.
Mitten im Satz legt Wolle ihr plötzlich eine Hand auf den Mund und unterbricht so ihren Redefluss. „Bevor sie jetzt auch noch anfängt, dir ihren Plan für eine eigene Hofmolkerei im Detail zu erzählen, damit sie ihren Ziegen-Kram legal verkaufen kann, möchte ich gerne wissen, wie es dir ergangen ist, Nils.“
Lisa beißt Wolle strafend, aber nicht allzu fest, in den Daumen, drückt mit einer Hand meinen Unterarm und blinzelt mir zu. „Das interessiert mich natürlich auch. Aber ich bin höflich genug, einen lieben Gast erst mal in Ruhe essen zu lassen, bevor ich ihn mit Fragen überschütte.“
Sie streckt Wolle die Zunge heraus, was er mit einem Augenrollen quittiert. Nach diesem nonverbalen Schlagabtausch schauen mich beide erwartungsvoll an.
„Ähm …“ So viel Aufmerksamkeit überfordert mich. Das bin ich privat nicht gewohnt und greife aus Verlegenheit zuerst noch einmal nach meiner Kaffeetasse. Leider ist sie fast leer und verschafft mir nur einen minimalen Aufschub.
„Du bist nach dem Abi Knall-auf-Fall verschwunden, ohne dich abzumelden oder eine Adresse zu hinterlassen. Deine alte Telefonnummer war tot und per Mail warst du auch nicht mehr zu erreichen. Was glaubst du, wie oft ich deine Eltern angebettelt habe, mir zu sagen, wo du bist, aber sie haben immer nur gesagt, du würdest studieren und wolltest keinen Kontakt mehr. Das hat sich ziemlich scheiße angefühlt, um ehrlich zu sein.“
Ein Hauch der alten Verletzung steht in Wolles Augen und Lisa drückt sanft seine Hand.
„Ich habe nie geglaubt, dass du mit uns nichts mehr zu tun haben wolltest“, erklärt sie ruhig. „Aber du hast dich im diesem letzten Jahr immer mehr von uns zurückgezogen. Ich dachte, du brauchst einfach ein wenig Zeit um mit der Situation klarzukommen und dass du dich irgendwann schon bei uns melden würdest.“
Wolle errötet ein wenig und wirft mir einen leicht verzweifelten Blick zu. Damals hat er nicht begriffen, was ich wirklich von ihm wollte, aber offensichtlich hat Lisa ihn inzwischen aufgeklärt. Wenn ich ehrlich bin, hat sie mit ihrer Aussage nicht ganz unrecht. Eigentlich wollte ich nach dem Abi nur noch alles hinter mir lassen und vergessen, dass mein bester Freund meine beste Freundin fickt, statt es mir zu besorgen. Als mein Vater mich dann aus dem Haus warf und verbat, jemals wieder einen Fuß über die Schwelle zu setzen, bin ich gegangen, weil mich nichts mehr hier gehalten hat.
„Rede mit uns, Nils. Wir sind doch immer noch Freunde, oder?“ Lisas Rechte liegt nach wie vor in Wolles Hand, ihre Linke streichelt nun federleicht über meinen bloßen Unterarm. Zielstrebig schmuggelt sie ihre Finger unter meine Handfläche, stupst daran herum und lässt nicht locker, bis ich schließlich nachgebe und meinerseits leicht zudrücke.
„Sind wir das?“ Ich kann mir die Frage nicht verkneifen. Wenn die Antwort ‚Nein!‘ ist, habe ich mir das selbst zuzuschreiben.
Wolle schaut Lisa an, zögert, räuspert sich, blickt zu mir und entzieht seiner Frau dann seine Hand. Er springt auf und beginnt in der Küche auf und ab zu gehen. Das ist so typisch! Er konnte noch nie nachdenken, geschweige denn eine ernsthafte Unterhaltung führen, ohne sich dabei zu bewegen.
„Natürlich sind wir noch Freunde, Nils. Wenn du es willst.“ Er wirft mir einen prüfenden Blick zu. „Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich zu der Beerdigung deines Vaters gegangen wäre, wenn ich nicht die klitzekleine Hoffnung gehabt hätte, dass du dort auftauchst, oder?“ Ohne mir die Chance zu einer Antwort zu geben, redet er weiter: „Ich mache mir bis heute Vorwürfe, dass ich überhaupt nicht kapiert habe, was bei euch los war. Ich …“ Hilflos bricht er ab und fährt sich mit den Händen durch die Haare.
„Was hättest du denn machen sollen?“ Meine Stimme hört sich fremd an. Heiser.
„Ich verstehe nicht, warum er dich immer verprügelt und dann aus dem Haus geworfen hat. Deine Brüder gehen doch bis heute bei euch zuhause ein und aus. Sie sind in seine Firma eingestiegen und schienen sich wirklich mit ihm zu verstehen. Irgendwann habe ich Torben mal zur Rede gestellt. Der hat noch nicht mal abgestritten, was passiert ist, und meinte nur, du hättest den Alten ständig herausgefordert, bis der sich halt vergessen hat und ausgerastete ist. Er und Henrik wären ihm einfach aus dem Weg gegangen, wenn er schlechte Laune hatte.“
Das ist natürlich auch eine Art und Weise die Dinge zu sehen. Meine beiden Brüder sind deutlich älter als ich und haben sich tatsächlich nie mit meinem Vater angelegt. Sie schienen immer alles richtig zu machen und wurden mir ständig als leuchtendes Beispiel vor Augen gehalten. Ich dagegen konnte in den Augen meines Vaters nie etwas richtig machen. Bis heute habe ich das Gefühl, er bekam jedes Mal ‚schlechte Laune‘, wenn er mich sah, und ich konnte ihm schließlich nicht vierundzwanzig Stunden am Tag und sieben Tage die Woche aus den Augen gehen. Bis heute habe ich keine Ahnung, warum er mich so sehr gehasst hat. Wenn er mit mir geredet hat, kamen meist nur schlagende Argumente. Wortwörtlich.
Das Fass zum Überlaufen gebracht hat der Tag, als ein Computer-Fuzzi meinem Vater gezeigt hat, wie man die Browser-Daten aller Firmenrechner auswerten kann. Eigentlich sollte nur sichergestellt werden, dass niemand über Gebühr während der Arbeitszeit privat surft. Drei IP-Adressen wurden regelmäßig nach Feierabend genutzt. Eine davon für exzessives Online-Gaming, eine für halblegale Musik-Downloads und die dritte fürs Anschauen kostenloser Porno-Clips. Pornos mit homosexuellem Inhalt wohlgemerkt …
Mein Gott, ich war knapp achtzehn, dauergeil und habe mir echt keine Gedanken darüber gemacht, dass jemand wegen meines Surfverhaltens darauf kommen würde, dass ich schwul bin. Schließlich benutzte ich immer den Inkognito-Modus und löschte täglich zusätzlich den Verlauf. Ich bin gar nicht auf die Idee gekommen, dass unsere Familie auch privat das WLAN-Netz der Firma benutzte und dass man meine Surfverhalten deshalb dort nachvollziehen konnte.
Nachdem er herausgefunden hatte, dass ich schwul bin, hat sich mein Vater so zum ersten Mal völlig vergessen. Die Prügel, die ich bezogen habe, konnte mir jeder ansehen, weil er diesmal nicht darauf geachtet hat, mein Gesicht außen vor zu lassen. Ich war so überrascht, dass ich mich nicht einmal gewehrt habe, obwohl ich eigentlich längst stark genug dazu war. Wenn ich danach sofort hätte aufstehen können, wäre ich noch am gleichen Tag abgehauen. So aber lag ich heulend vor Schmerzen und Scham auf dem Fußboden meines Zimmers und hatte Zeit zu überlegen. Voller Wut beschloss ich, noch die drei Monate durchzuhalten, bis ich mein Abi in der Tasche hatte, und dann für immer zu gehen.
Heute weiß ich, dass ich die Fähigkeit so kalt entschlossen zu handeln und meinen Zorn aufzusparen, wahrscheinlich von meinem Vater habe. Ich mag diese Eigenschaft an mir nicht besonders.
„Nils?“ Lisa streichelt mich schon eine Weile zärtlich. Wolle steht immer noch mitten im Zimmer und sieht aus, als würde er am liebsten heulen.
„Ich konnte einfach nicht darüber reden. Ihr beide wart mein besten Freunde und das Einzige was ich an Normalität im Leben hatte. Ich wollte einfach nicht, dass dieser Scheiß zwischen uns kommt.“
„Aber …“
„Bei euch beiden konnte ich immer über Alltagskram quatschen, lachen und vergessen, was bei mir zuhause los war“, unterbreche ich Wolle, bevor er seinen Einwand formulieren kann. „Zuerst, als es anfing, dachte ich immer, dass ich was falsch gemacht habe. Ich wusste aber einfach nicht was und wollte auf keinen Fall, dass ihr auch bemerkt, dass etwas mit mir nicht stimmt. Als ich endlich begriffen habe, dass es gar nicht an mir liegt, hatte ich noch weniger Lust, darüber zu reden. Der Alte sollte mir nicht auch noch die kostbare Zeit vergiften, die ich mal nicht zuhause sein musste.“ Ich hole tief Luft und suche nach den richtigen Worten. „Vielleicht habe ich mich auch geschämt.“
Lisa laufen stille Tränen die Wangen herab. Sie drückt meine Hand so fest, dass es fast wehtut. Auch Wolle weint jetzt. Er kommt langsam näher, greift nach mir und zieht mich hoch direkt in eine Umarmung, die mir fast die Luft stiehlt. Ich bleibe ganz starr stehen. Solche liebevollen Berührungen kannte ich früher gar nicht. Erst du hast mir beigebracht, wie schön sie sein können, und ich bin immer noch nicht daran gewöhnt.
„Ich sollte mich schämen, weil ich nicht für dich da war.“ Wolle räuspert sich, lässt mich aber nicht los.
„Warum weinen denn alle?“ Die helle Kinderstimme lässt mich zusammenzucken. Wolle geht es ebenso. So eng, wie wir gerade beieinander stehen, kann mir seine Reaktion gar nicht entgehen.
Lisa schnieft hörbar, bevor sie zu ihrem Sohn eilt und sich neben ihn kniet. „Onkel Nils war früher der allerbeste Freund von Papa und Mama. Wir haben ihn sehr lange nicht gesehen und jetzt sind wir froh, dass er wieder hier ist. Deshalb heulen wir. Das sind Freudentränen.“
„Ihr seht aber gar nicht froh aus.“ Der Kleine ist hörbar misstrauisch.
„Ja, wir sind auch ein bisschen traurig, weil wir uns so lange nicht getroffen haben.“
„Erwachsene sind komisch!“
Für mich völlig unerwartet schlingen sich schmale Kinderarme um meinen Oberschenkel und ein ernsthaftes, kleines Gesicht schaut mich an. „Du musst nicht mehr traurig sein, Onkel Nils. Komm einfach öfter her.“
Wolle strubbelt seinem Sohn mit einer Hand durchs Haar ohne mich loszulassen und grinst unter Tränen. „Du bist ein kluger Junge, Lukas. Ich bin stolz auf dich!“
Ich erwache früh, weil in den kleinen Kirschbaum vor meinem Fenster anscheinend eine ganze Armee von hungrigen Vögeln einfällt. Statt den Diebstahl heimlich, still und leise zu vollziehen, veranstaltet die Bande einen ungeheuren Lärm.
Im Licht des frühen Morgens wirkt das kleine Gästezimmer noch freundlicher als gestern Abend. Lisa hat es sich nicht nehmen lassen, mir außer einem Glas und einer Flasche Wasser eine Vase mit einem Strauß bunter Sommerblumen auf den Nachttisch zu stellen. Durch das geöffnete Fenster weht ein leichter Wind herein, der den Geruch von frisch geschnittenem Gras mit sich bringt. In der Ferne brummen Traktoren.
Wie an jedem einzelnen Tag, seit du mich verlassen hast, sehne ich mich nach dir. Heute verspüre ich zum ersten Mal das Bedürfnis, dir zu zeigen, woher ich komme. Damit meine ich nicht mein Elternhaus, nicht meine Familie, die mir beigebracht hat, dass es ungehörig ist, Gefühle zu zeigen. Die wahrscheinlich immer noch glaubt, das Dinge nicht wahr werden, wenn man sie nur nicht ausspricht …
Nein, ich möchte dir die sanften, grasbewachsenen Hügel zeigen, auf denen ich als Kind gespielt habe. Den kleinen Wald, der mir damals vorkam wie ein riesiger Dschungel, und den winzigen Bach, den wir immer wieder aufgestaut haben, um darin selbstgebaute Flöße aus Stöckchen und Boote aus Papier fahren zu lassen.
Lisa, Wolle und ich haben gestern noch bis spät in die Nacht geredet. Wirklich geredet. Das fällt mir immer noch nicht leicht und das wird es wahrscheinlich auch nie. Ich habe den beiden sogar von dir erzählt. Wie wundervoll es am Anfang war und wie sehr ich dich vermisse. Ich habe den beiden gestanden, was ich dir gegenüber nicht aussprechen konnte: Dass ich dich über alles liebe.
Jetzt liege ich hier und frage mich verzweifelt, warum ich es dir nie sagen konnte. Warum ich solche Angst hatte, mich dir gegenüber zu öffnen. ‚Mangelndes Urvertrauen‘ meinte der Therapeut. Mir sind die Gründe plötzlich egal. Ich will, dass du wieder morgens neben mir liegst. Ich will sehen, wie du erwachst und mich verschlafen anlächelst. Ich will mich über dich schieben und …
Es klopft kräftig an der Tür. „Onkel Nils, das Frühstück ist gleich fertig.“
„Lukas, komm sofort runter! Du solltest Nils doch schlafen lassen!“ Einen Moment erstarre ich, als ich Wolle brüllen höre. Dann muss ich über Lukas ebenso lautstarke, wie altkluge Antwort grinsen.
„Wer abends lange aufbleibt, kann auch morgens pünktlich aufstehen!“
Ein freches Kichern ertönt, dann entfernen sich eilige Kinderschritte. Lukas wird nie um eine Antwort verlegen sein, weil man ihm nicht mit der flachen Hand immer wieder eingetrichtert hat, dass Kinder Erwachsenen zu schweigend zu gehorchen haben.
Ich verabschiede mich nach einem ausgezeichneten Frühstück von Lisa und den Kindern, nicht ohne meine Telefonnummer zu hinterlassen und hoch und heilig zu versprechen, bald wiederzukommen. Zusammen mit Wolle steige ich in den SUV. Ich trage immer noch seine Klamotten, weil mein Anzug reichlich zerknittert wirkt. Statt das Auto zu starten, legt er beide Unterarme aufs Lenkrad und starrt aus der Frontscheibe, als würde er im Hühnergehege gerade alle Geheimnisse des Universums entdecken.
„Nils?“
„Ja-ha?“
„Wir haben nie darüber geredet.“
Seufzend lasse ich den Kopf gegen die Nackenstütze sinken. „Was gibt es da zu sagen?“
Er wirft mir einen kurzen Blick zu, nur um wieder starr nach vorne zu schauen.
„Wolle, willst du mir jetzt echt erzählen, dass du nicht gemerkt hast, dass ich scharf auf dich war?“
Heteros sind so niedlich, wenn ein Schwuler ihnen so was sagt. Alleine dafür müsste ich meine Abneigung gegen persönliche Geständnisse schon ablegen. Wolle wird gerade so rot wie eine Tomate.
„Lisa wusste es immer.“ Damit lege ich offensichtlich noch einen drauf, denn jetzt fängt er an, sich hin und her zu winden.
„Das hat sie mir aber erst gestanden, als du weg warst. Sie meinte, dass du vielleicht Abstand brauchst und nachdem ich das partout nicht verstanden habe, ist sie deutlicher geworden.“
Endlich schafft er es, mir in die Augen zu sehen: „Wärst du hier geblieben, wenn …“
Ich lausche in mich hinein. Wollte ich damals Wolle wirklich mehr als alles andere, so sehr, wie ich heute dich haben will?
„Ich glaube nicht. Du und Lisa, ihr wart das Beste in meinem Leben. Naja, sie ist echt nett, aber sie macht mich nun mal nicht an, also habe ich mich auf dich konzentriert.“
„Wie … wie konntest du damit umgehen, dass wir ein Paar geworden sind?“
„Damals? Gar nicht gut. Ich war eifersüchtig wie die Hölle.“
Wolle schluckt und sucht nach Worten.
„Lass gut sein, Wolle. Es ist wie es ist. Stell dir mal vor, ich wäre hetero. Dann hätten wir uns sicher um Lisa geprügelt. Bis aufs Blut …“
„Ich hätte gewonnen. Ich wollte sie mehr als alles andere auf der Welt.“ Wolle boxt mich in die Schulter, ganz sanft. Ich glaube, er wird mich nie mehr fest irgendwohin schlagen, auch nicht im Spaß, weil er weiß, welche Erinnerungen das wecken könnte. Leider ist er noch nicht fertig mit dem Thema.
„Es heißt, Männer und Frauen können keine Freunde sein.“
„Was soll das den heißen? Bin ich kein Mann, oder was? Außerdem ist der Spruch sowieso total doof.“ Allmählich werde ich ein bisschen sauer.
„Ich meine ja nur. Weil …“
„Weil ich mir mal vorgestellt habe, dich zu ficken und du das jetzt weißt, können wir keine Freunde mehr sein?“
Er sieht mich mit schmalen Augen an. „Gerade überlege ich, ob du mir nicht besser gefallen hast, als du noch nicht so offen mit mir gesprochen hast.“ Als er den Schlüssel dreht, springt das Auto nicht auf Anhieb an, stattdessen gibt der Anlasser ein gequältes Geräusch von sich. Wolle knallt eine Hand auf den Lenker.
„Verdammte Scheiße. Natürlich werden wir weiter Freunde sein. Wenn ich bloß dran denke, wie oft ich fast an die Decke gegangen bin, wenn du mit Lisa gekutscht hast …“ Er ist immer noch knallrot. „Du wolltest mich nur damit ärgern. Das wird in Zukunft nicht passieren. Ich werde das ab jetzt völlig entspannt sehen. Und …“ Jetzt grinst er. „… der Fantasie-Sex mit mir war großartig, oder?“
Das war er. Aber das werde ich dem selbstgefälligen Mistkerl sicher nicht gestehen. Stattdessen zeige ich ihm einen Vogel. Wolle schafft es endlich den Motor zu starten und den Rest der Fahrt plaudern wir über belanglosen Dorftrasch. Als wir bei meinem Auto ankommen, steigt auch Wolle aus. Er zögert nicht, mich herzlich zu umarmen, und nimmt mir noch einmal das Versprechen ab, mich in Zukunft regelmäßig zu melden, bevor mit seinen SUV davonbraust.
Eigentlich bin ich gestern her gekommen, um mit meiner Vergangenheit abzuschließen. Ich habe nicht damit gerechnet, dass mich ein Teil davon einholen wird und wie dankbar ich dafür sein werde.
Auf dem Beifahrersitz liegt mein Handy und ich prüfe gewohnheitsmäßig die entgangenen Anrufe. Viele sind es nicht, weil meine Kollegen wussten, dass ich zu einem privaten Termin musste, und ich nur noch wenige private Kontakte pflege, seit du fort bist. Gestern Abend haben allerdings drei mir unbekannte Nummern mehrmals versucht, mich zu erreichen. Jeder der drei Anrufer hat etwas auf der Mailbox hinterlassen.
„Nils, hier ist Henrik. Ruf mich bitte zurück.“
„Hallo, Nils. Ich dachte, wir hätten beim Kaffee Zeit zu reden. Melde dich doch mal bei mir. Also bei Torben. Meine Nummer wird angezeigt.“
„Nils, Junge, hier ist deine Mutter. Wieso bist du nicht zum Kaffee gekommen? Was sollen die Leute jetzt nur denken? Dein Auto stand noch am Friedhof. Ist alles in Ordnung bei dir? Es ist doch nichts passiert, oder? Wo bist du denn? Du hättest ruhig Bescheid sagen können, wo du dich rumtreibst. Alle haben nach dir gefragt und ich wusste keine Antwort. Das war so peinlich. Ich …*piep*“
„Nils, noch mal deine Mutter. Irgendwie war das Band wohl voll. Also was ich noch sagen wollte: Du meldest dich ja nie. Und kommst auch nie vorbei. Ich verstehe das nicht. Wir haben dir doch immer alles ermöglicht. Sogar das Studium hätten wir dir bezahlt, aber das wolltest du ja nicht. Henrik und Torben wollen auch mit dir sprechen. Ich glaube wegen dem Testament und so, also … *piep*“
„Noch mal Mama. Ruf bitte mal an. Sofort, wenn es geht.“
In mir kocht es. Diese verlogene Bande. Meine Mutter hatte meine Adresse und meine Nummer immer, auch wenn sie – wie ich heute Nacht erfahren habe – gegenüber Wolle und Lisa etwas anderes behauptet hat. Plötzlich ahne ich, warum sie mich überhaupt angerufen hat, um mir von Vaters Tod zu erzählen. Ich bin für meine Familie grundsätzlich nur interessant, wenn sie etwas zu meckern haben oder wenn sie etwas von mir wollen.
Einen Moment habe ich doch wirklich geglaubt, meine Mutter hätte sich bei mir gemeldet, weil sie sich Sorgen um mich macht, oder weil sie vielleicht meinen Trost haben will. So ignorant anzunehmen, dass ich um meinen Vater trauere, wird sie ja wohl nicht sein. Allerdings verfügt sie über die einzigartige und außerordentlich praktische Eigenschaft, die Welt so zu sehen, wie sie sie sehen möchte. Wie sie in Wirklichkeit ist, dass will meine Mutter gar nicht wissen. Sonst hätte sie ja zur Kenntnis nehmen müssen, dass ihr jüngster Sohn regelmäßig nach Strich und Faden verprügelt wird. Vielleicht hätte sie sich ja sogar schützend vor ihr Kind stellen müssen.
Nein, da war es schon besser, sich einzureden, dass alles in Ordnung ist. Bloß immer schön den Schein wahren …
Ich unterdrücke den Wunsch, meine mühsam neu erworbene Fähigkeit, über Gefühle zu reden, an meiner Familie auszuprobieren und suche stattdessen nach einer anderen, ganz bestimmten Nummer in meinem Adressbuch. Nach deiner Nummer. Mein Finger schwebt schon über der Wahltaste, als ich mich plötzlich bremse.
Das hast du nicht verdient. Ich will dich nicht voller Wut auf meine verkorkste Verwandtschaft anrufen, sondern weil ich dir endlich sagen möchte, wie sehr ich dich liebe.
Wenn ich ehrlich bin, macht man so etwas eh nicht am Telefon. Ich will dir dabei in die Augen sehen und ich hoffe wirklich, dass du mir noch einmal eine Chance gibst. An dich zu denken, gibt mir Kraft. Für dich will ich in Zukunft mein Bestes geben, statt dich mit gedankenloser Selbstverständlichkeit zu behandeln und dich mit meinem Schweigen fortzutreiben.
Statt meine Mutter oder meine Brüder anzurufen, wähle ich die Nummer meines Therapeuten und vereinbare einige Termine. Ich mache das lieber gleich, bevor ich es mir wieder anders überlege. Ein Gespräch mit guten Freunden ist erst der Anfang. Ich will auf keinen Fall in meine alten Muster zurückfallen. Falls ich dich zurückgewinnen kann, muss ich mich öffnen und das wird mir niemals leicht fallen. Dafür brauche ich wahrscheinlich noch lange Hilfe.
Danach rufe ich meinen Anwalt an, gebe ihm die Nummern meiner Verwandtschaft und bitte ihn, sich in Erfahrung zu bringen, was sie von mir wollen. Ich habe überhaupt keine Lust mehr auf die gestelzten Floskeln, die bei uns zuhause immer ausgetauscht werden, statt einfach zu sagen worum es wirklich geht. Falls mir mein Vater etwas vererbt hat, was ich stark bezweifle, werde ich das Erbe nicht ablehnen, wie es mein erster Impuls war. Ich werde es einer Organisation spenden, die sich um schwule Jugendliche kümmert oder an eine, die sich für die Gleichberechtigung von Homosexuellen einsetzt.
Der Gedanke, dass sich mein Vater dabei im Grab herumdreht, gefällt mir außerordentlich gut.
Während ich auf dem Weg zur Beerdigung beinahe wie auf Autopilot gefahren bin, mich pflichtschuldigst an jede Geschwindigkeitsbegrenzung gehalten habe und langsamer geworden bin, je näher ich meinem Heimatort kam, rase ich zurück, so schnell es geht. Dafür kassiere ich zwei neue Bilder in meiner zum Glück bisher relativen leeren Blitzer-Galerie. Eines davon kostet wahrscheinlich nur ein paar Euro, das andere wird mit Sicherheit teuer werden …
In Köln angekommen, kann ich es kaum erwarten, dich zu sehen. Wie immer gibt es in der Nähe der Uni kaum Parkplätze. Endlich finde ich eine Lücke, quetsche mein Auto hinein und renne zu dem alten Mietshaus, in dem du jetzt wohnst. Auf dem Klingelschild steht kein Name, sondern nur „Studenten-WG unter dem Dach“, daneben klebt ein alberner Smiley. Ich drücke den Knopf und halte ihn fest, bis jemand den Türöffner betätigt.
Im Laufschritt rase ich die Treppen nach oben bis in die fünfte Etage. An der offenen Tür steht ein freundlich wirkender, junger Mann mit weißblonden Haaren.
„Hi!“, keuche ich und versuche, wieder genügend Luft zu bekommen. „Ich bin Nils und möchte zu Timo. Ist er da?“
Überraschung und eine Spur von Zorn blitzen in den gut geschnittenen Zügen auf. Dann verschließen sie sich.
„Nein.“ Der Kerl dreht sich einfach ohne weitere Erklärung um und will mir die Tür vor der Nase zuschlagen.
„Warte doch …“
Im gleichen Moment rufst du von drinnen: „Jan, ich habe das Portemonaie gefunden. Ich komme sofort und bezahle die Pizza.“ Deine Stimme zu hören, treibt mir fast die Tränen in die Augen. Rücksichtslos drängle ich mich in die Wohnung hinein und sehe dich zum ersten Mal seit fast zehn Monaten wieder. Du bist schmaler als früher und du trägst deine Haare irgendwie anders. Mein Herz zieht sich zusammen, aber wie so oft bekomme ich kein Wort über die Lippen.
„Nils?“ Du wirkst geschockt, wirst weiß wie eine Wand.
„Liebst du mich noch?“ Das ist die gleiche Frage, die du mir gestellt hast, bevor du gegangen bist. Die Frage, auf die ich noch nie eine Antwort über die Lippen gebracht habe.
„Nils …“ Hilflos wandert dein Blick von mir zu Jan und zurück.
Plötzlich weiß ich, wie du dich damals gefühlt haben musst, als ich einfach nichts sagen konnte. Zweifel und Angst steigen in mir hoch. Mir wird eiskalt und ich spüre, dass meine Knie nachgeben. Ein warmer, starker Arm stabilisiert mich.
„Ihr seid alle beide Idioten!“, knurrt Jan mit ausgeprägtem niederländischem Akzent und zerrt mich in eine winzige, vollgestopfte Küche, wo er mich unsanft auf einen Stuhl schubst. „Timo, gib mir den Geldbeutel, ich verziehe mich mit der Pizza in den Park und ihr beide sprecht euch endlich aus. Verstanden?“
Erst als die Tür knallend ins Schloss fällt, wage ich es dich anzuschauen. Du wirkst distanziert, lehnst mit verschränkten Armen an der Spüle und siehst nicht aus, als wärst du froh darüber, mich zu sehen. Wieder einmal bleiben mir die Worte im Hals stecken, wieder einmal habe ich keine Ahnung, was ich sagen soll, um dich davon zu überzeugen, zu mir zurück zu kommen.
„Wie geht es dir, Timo?“
„Ernsthaft jetzt, Nils? Was willst du hier? Ich meine … fast ein Jahr gar nichts und dann platzt du unangekündigt hier rein und fragst mich, ob ich dich noch liebe. Was denkst du dir eigentlich?“
Ich denke, dass ich dich mehr als alles auf der Welt liebe und dass ich dich zurückhaben will. Aber sogar ich mit meinen unterentwickelten Kommunikationsfähigkeiten ahne, dass dies nicht der beste Gesprächseinstieg ist. Also fange ich stattdessen mit dem ersten an, was mir in den Sinn kommt.
„Mein Vater ist gestorben und gestern war ich auf der Beerdigung.“
Irritiert schaust du mich an. „Das tut mir leid für dich …“
„Muss es nicht. Er war ein Arsch.“ Ich wusste nicht, wie erleichternd es sein kann, das laut auszusprechen. „Also, eigentlich war er kein totaler Arsch, aber er hat sich mir gegenüber mein Leben lang wie einer benommen. Bei ihm wusste ich nie, wie er reagiert, wenn ich was sage.“
Plötzliches Verständnis malt sich auf deinen Zügen ab. „Nils …“
„Ich habe ihm viel zu lange Macht über mich gegeben. Das habe ich aber erst verstanden, als du gegangen bist. Danach war ich erst schrecklich verletzt und wütend, dabei wusste ich genau, dass ich selber schuld bin. Ich hatte Angst, weil du immer wichtiger für mich geworden bist. Also bin ich auf Distanz gegangen, habe mich in Arbeit vergraben und dich nicht mehr an mich heran gelassen.“ Weil ich es immer noch hasse, über mich selbst zu reden, versagt meine Stimme. Energisch räuspere ich mich. „Ich versuche mich zu ändern, ehrlich. Ich mache eine Therapie und gestern habe ich mit Freunden zum ersten Mal über alles gesprochen.“
„Nils“, flüsterst du.
„Ich liebe dich, Timo!“ Auf einmal kann ich es sagen. Von ganzem Herzen. Vielleicht ist es längst zu spät, aber wenn ich noch eine winzige Chance habe, werde ich um dich - nein, um uns kämpfen.
Eine Klammer um mein Herz löst sich. Endlich kann ich es aussprechen. Ich versuche es gleich noch einmal: „Ich liebe dich!“ Das ist viel zu lange ungesagt geblieben.
Texte: C.J. Rivers
Bildmaterialien: pixabay.com
Lektorat: congeries
Tag der Veröffentlichung: 11.07.2016
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