Natürlich ahnte ich, dass mein völlig verrückter Mann mich aus dem Weg haben wollte, um irgendeine abgedrehte Überraschung vorzubereiten. Sonst hätte er mich niemals alleine an einem Freitag-Vormittag mit einer exorbitant langen Liste voller exotischer Zutaten aus dem Haus geschickt. Franco liebte es, Lebensmittel einzukaufen! Er schwelgte jedes Mal aufs Neue in dem Anblick und den Düften von frischem Obst und Gemüse, der Auswahl an verschiedenen Schinkensorten oder der bunten Vielfalt von Gewürzen.
Auch nach all der langen Zeit konnte ich mich niemals sattsehen an seiner offen zur Schau getragenen Begeisterung für die sinnlichen Genüsse, die sich vor seinen Augen ausbreiteten oder aber für die, die er in Gedanken aus den angebotenen Zutaten zauberte. Unwillkürlich verstärkte sich jedes Mal sein italienischer Akzent, wenn er mir laut und fröhlich darlegte, welches Rezept ihm gerade eingefallen war.
Ich wusste, jede seiner Zubereitungen würde köstlich sein. Vor meinem inneren Auge rührte er immer mit einem langen Holzlöffel in einem großen Topf, fügte noch einige Kräuter hinzu, hob den Löffel an und schnupperte hingebungsvoll mit geschlossenen Lidern. Dann schlossen sich seine Lippen um die kleine Kostprobe, er ließ sie auf der Zunge zergehen, schmeckte, schluckte. Anschließend strahlte er mir ins Gesicht und bot mir an, auch zu versuchen. Was auch immer er gekocht hatte, es würde wunderbar schmecken, besonders wenn ich es von seinen sinnlichen Lippen küsste, statt den Löffel zu benutzen.
Die Augen meines Geliebten hatten die Farbe von Espresso und die mittlerweile graumelierten Brauen betonten sie noch mehr. Ich verlor mich jedes Mal aufs Neue in ihren Tiefen und spürte mein Herz vor Liebe schneller klopfen. Manchmal holperte es auch ein wenig. Das hatte aber nichts mit dem Alter zu tun, sondern nur mit ihm.
Ich würde jederzeit und blind alles essen, was Franco mir unter die Nase hielt. Zum Glück kochte er besser, als jeder andere Mensch den ich kannte und ich konnte darauf vertrauen, dass es köstlich sein würde. Denn solange er neben mir stand, war es für mich fast unmöglich, den Blick von seinem Gesicht anzuwenden und auch nur einen Blick auf das Gericht zu werfen, dass er mir gerade unterjubeln wollte.
Kannten wir uns wirklich schon fünfzig lange Jahre?
Mir kam es vor wie gestern, als ich in Münster auf dem Weg zur Arbeit in der Pizzeria „Delizia di Roma“ einen handgeschriebenen Aushang sah:
„Service-Kraft gesucht! Dringend!“
Das musste ein Zeichen sein! Ich brauchte gerade unbedingt einen Nebenjob und kellnern konnte ich, auch wenn ich bisher nur auf Schützenfesten Bier ausgeschenkt hatte. Also öffnete ich frohen Mutes die Tür des kleinen Restaurants und trat aus der Hitze des Frühsommertages in das angenehm kühle Gebäude. Drinnen erwartete mich eine gemütliche Atmosphäre mit eindeutig italienischem Flair, rotkarierten Tischdecken, frischen Pflanzen und echten Kerzen.
Ein junger Mann stand hinter einer kleinen Theke und polierte Gläser. Er hob den Kopf, weil eine winzige Glocke bei meinem Eintreten leise bimmelte. In diesem Moment passierte das, was in Hollywoodfilmen immer so furchtbar kitschig wirkt: Unsere Augen trafen sich und die Zeit blieb einfach stehen. Ich bilde mir heute noch ein, ein helles Licht gesehen und schmalzige Musik gehört zu haben. Vielleicht war es auch nur die Leuchte über der Theke und eine Schnulze im Radio, aber in diesem Moment schien es einfach perfekt zu sein und ich war sicher, dass ich die Liebe meines Lebens gefunden hatte.
Mein Herz schlug plötzlich in dreifacher Geschwindigkeit, mir wurde glühend heiß und meine Zunge befeuchtete unwillkürlich meine Lippen, um sie für einen Kuss geschmeidig zu machen. Mein Gegenüber lächelte mich strahlend an. Wortlos stellte er das Glas zur Seite und kam geschmeidig hinter der Theke hervor. Ich war mir immer sicher gewesen, auf durchtrainierte, blonde Muskelmänner wie den jungen Burt Lancaster in ‚Der rote Korsar‘ zu stehen, aber noch nie hatte ich einen anderen Mann so begehrt, wie den schlanken, dunkelhaarigen Südländer, der nun auf mich zu eilte.
„Attimo! Parlare un tedesco … nicht gut … Zio Paolo … kommen gleich!“ Mit einer vagen Geste deutete er hinter sich und musterte mich interessiert.
Oh! Mein! Gott! Ich war auch kurz davor gleich zu kommen! Meine Libido rebellierte gegen meinen Verstand, während sich meine Augen an einer Kette mit einem kleinen goldenen Kreuz festsogen, die im Ausschnitt des Hemdes zu sehen war. Am Kragen standen zwei Knöpfe offen und der helle Stoff leuchtete förmlich gegen die olivfarbene Haut. Am liebsten hätte ich sofort die kleine Kuhle an der Kehle geküsst und wäre dann mit meiner Zunge den Hals entlang gefahren, um über das Kinn zu lecken, bevor ich die sinnlichen Lippen mit meinen eroberte.
„Scusi?“
Ich hatte wohl zu lange geschwiegen und ihn dabei mit den Augen verschlungen. Plötzlich wurde mir bewusst, wen ich da unverhohlen anhimmelte: Einen Italiener! Einen Macho! Und - wenn ich an die kleine golden Kette dachte - offensichtlich einen überzeugten Katholiken!
Besorgt suchte ich seinen Blick. Zu meiner Überraschung wirkte er eher amüsiert als verärgert und seine wunderschönen, vollen Lippen verzogen sich zu einem kleinen Lächeln. Er verschränkte die Arme vor der Brust und schaute mich nun ebenfalls von oben bis unten genau an. Dann deutete er auf sich selbst.
„Sono Franco, e …“
Krachend schlug im hinteren Teil des Restaurants eine Tür gegen die Wand und ein italienischer Fluch ertönte. Unsere Köpfe drehten sich unwillkürlich in die Richtung, aus der der Lärm ertönte und Franco lachte leise auf.
„Zio Paolo, eccolo!“
Damals wusste ich es noch nicht, aber an diesem Tag begann mein Leben erst so richtig. Mit Franco schien die Sonne für mich heller, mein Essen schmeckte intensiver und der Wein süßer. Mit Franco waren meine Nächte voller Liebe, Leidenschaft und verrückter Zärtlichkeiten.
Ich werde „Zio Paolo“ nie vergessen, dass er mich damals einstellte, obwohl er auf den ersten Blick sah, was zwischen mir und Franco gerade passierte und es in Deutschland zu der Zeit noch verboten war, wenn sich zwei Männer liebten. Aber Paolo hatte ja auch seinem schwulen Neffen Asyl in seinem Heim angeboten, ohne auch nur einen zweiten Gedanken daran zu verschwenden. Italien stellte Homosexualität zwar nicht unter Strafe, aber in Rom versetzten die Neigungen ihres Sohnes Francos Eltern in bodenlose Wut. Paolo dagegen sah es gelassen. Er glaubte fest daran, dass man echter Liebe eine Chance geben sollte, egal in welcher Form sie sich zeigte.
Meine eigenen Erzeuger waren zwar nicht ganz so tolerant, aber immerhin begnügten sie sich damit, den Kontakt mit mir auf ein Minimum einzuschränken. Francos Vater dagegen verpasste seinem Sohn eine derbe Abreibung und setzte ihn wutschnaubend vor die Tür. Für ihn war sein schwuler Sohn ein Unding, eine Schande. Er wollte nie wieder mit ihm zu tun haben oder auch nur ein einziges Wort von im hören. Ich habe ihn in all den Jahren niemals kennengelernt.
Verrückt, aber die Meinung der Nachbarn und die mittelalterliche Haltung der katholischen Kirche waren ihm wichtiger, als sein eigen Fleisch und Blut. Die wilden sechziger Jahre und die sogenannte „sexuelle Befreiung“ gingen spurlos an Francos Vater vorüber. Ehrlich gesagt, wurden auch meine Eltern davon nicht wirklich berührt. Ihnen war die ganze Sache nicht geheuer. Sie hofften noch lange, ich würde diese ‚Phase‘, wie sie es nannten, überwinden, mir eine Frau suchen, heiraten und ihnen Enkelkinder schenken. Sie behandelten Franco mit kühler Höflichkeit, wenn wir sie besuchten.
Paolo war da ganz anders, offener. Als er merkte, dass es mir und Franco wirklich ernst miteinander war, hatte auch ich plötzlich wieder einer Familie, eine richtige, italienischen Großfamilie, die mich herzlich in ihrer Mitte aufnahm. Auch wenn ich überall als ‚ein Freund‘ vorgestellt wurde, so war doch allen klar, warum ich immer an Francos Seite auftauchte. Als eher ruhiger Westfale musste ich mich an die lautstarken und lebhaften Diskussionen, die wahlweise in schnellem Italienisch und gebrochenem Deutsch geführt wurden, erst einmal gewöhnen.
Der ganze Clan stammte aus ‚Roma, la città eterna‘. Ich sah über die Jahre hinweg immer wieder, wie Franco mit einem sehnsüchtigen Glänzen in den Augen den Schilderungen seiner Verwandten lauschte, wenn sie die alte Heimat besucht hatten. Aber so oft ich ihn auch fragte, er wollte Rom nicht zusammen mit mir besuchen. Der Schmerz über das Verhalten seiner Eltern und den Verlust seiner Geburtsfamilie saß zu tief.
Hier in Deutschland machten wir uns am Anfang unserer Beziehung strafbar, weil wir uns liebten. Wir durften in der Öffentlichkeit nicht einmal andeuten, dass wir ein Paar waren, sonst hätte man uns nach §175 verurteilen können. In Italien war Sex zwischen Männer nicht verboten, dort hätten wir Hand in Hand gehen durch die Stadt spazieren können. Allerdings war die öffentliche Meinung in der Weltstadt Rom fast noch konservativer als hier im beschaulichen Münster.
Während Franco und mir allmählich klar wurde, dass wir nicht nur eine ernsthafte Beziehung führten, sondern wirklich für immer zusammen gehörten, drehte sich der Wind in Deutschland langsam, ganz langsam. Ein paar Tage bevor im Juni 1969 der Beschluss fiel, den §175 endlich zu lockern, feierten wir den fünften Jahrestag unseres Kennenlernens. Ganz offiziell öffentlich küssen durften wir uns aber erst Wochen später, weil die Änderung erst am 01. September in Kraft trat. Für uns war allerdings etwas ganz anderes wichtig: Nun konnte uns niemand mehr bestrafen, weil wir als Paar zusammen wohnten und uns ein Schlafzimmer teilten. Während bei den Heteros gerade freie Liebe oder doch zumindest wilde Ehe modern wurden, genossen wir unsere monogame Beziehung.
Franco und ich waren Kinder der Nachkriegsgeneration. Wir verbargen zwar nicht unbedingt, was wir für einander empfanden, aber vor Fremden tauschten wir eigentlich niemals Zärtlichkeiten aus. Zu tief hatte sich die Angst vor Verfolgung und Ausgrenzung in uns eingegraben. Zumindest mussten wir unsere gegenseitige Zuneigung vor unserer großen Wahlfamilie niemals verbergen. Dieses Glück kannten damals nur wenige. Das Homosexualität nicht mehr strafrechtlich verfolgt wurde, war eine Sache, Akzeptanz eine ganz andere.
Im Hier und Jetzt räusperte sich jemand hinter mir. Etwas erschrocken erblickte ich eine junge Frau, die nun um mich herum nach den Tomaten griff. Mir wurde bewusst, dass ich bereits eine ganze Weile völlig gedankenverloren vor der Gemüsetheke stand und blicklos die Waren betrachtete. Wahrscheinlich hielt sie mich für dement und fragte sich, ob das Altenheim Ausgang hatte.
Entschlossen legte ich rasch alles, was ich aus der Abteilung brauchte, in den Einkaufswagen und kramte Francos Zettel hervor, um ja nichts zu vergessen. Er hatte mich zwar mit einem Vorwand aus dem Haus geschickt, aber die Liste war echt. Mein Schatz wollte sicher etwas ganz Besonderes kochen, schließlich feierten wir am Wochenende mit unserer Familie und den Freunden ein großes Fest. Die Geschicke des „Delizia di Roma“, das wir vor vielen Jahren von Paolo übernommen und lange gemeinsam geführt hatten, würden endlich in die Hände der jungen Generation übergehen, die uns schon seit Jahren tatkräftig unterstützte. Das und ein weiterer Anlass waren zu feiern. Wir würden uns alle in der Pizzeria treffen, essen, reden und lachen, so wie so oft in den letzten fünfzig Jahren.
Mein Gott! Kannte ich Franco wirklich schon ein halbes Jahrhundert?
Sein anbetungswürdiger Körper war immer so noch schlank und drahtig, wie der eines jungen Mannes. Für mich hatte er sich fast nicht verändert. Oder machte die Liebe mich blind? Unsinn! Ich brauchte zwar mittlerweile eine Lesebrille, aber ansonsten konnte ich noch ausgezeichnet sehen.
Nur die vielen feinen Linien um Francos Augen verrieten sein wahres Alter. Vielleicht war auch das silbrige Grau seines Haares ein Hinweis. Aber selbst wenn es nicht mehr nachtdunkel war, so fühlte es sich immer noch so voll und so weich an, wie eh und je. Für mich war Franco nach wie vor der schönste Mann der Welt und sein strahlendes Lachen richtete Dinge mit mir an, die ich selber in meiner Jugend einem über siebzig Jährigen niemals zugetraut hätte.
Gedankenverloren beendete ich meinen Einkauf und kontrollierte noch einmal anhand der Liste, ob ich auch nichts vergessen hatte, bevor ich den Wagen in Richtung Ausgang schob. Vor mir an der Kasse standen zwei Jungen, die sich verstohlen an der Hand hielten. Auf dem Band lagen Kondome und Gleitgel. Unwillkürlich musste ich grinsen. Das hätten wir uns in diesem Alter niemals getraut. Gut, dass die Zeiten sich geändert hatten.
Dann musste ich plötzlich ein lautes Lachen unterdrücken. Manche Dinge waren auch gleich geblieben. Bei jungen Leuten nahm jeder an, dass sie Sex hatten. Aber die wenigsten Menschen dachten, dass zwei ergraute Herren es immer noch wild miteinander trieben. Franco schien mich auch mit meinem leichten Bauchansatz und den immer deutlicher werdenden Geheimratsecken zu begehren.
Gut, wir liebten uns nun wahrscheinlich etwas ruhiger als in unseren ersten, wilden Jahren. Aber erst heute Morgen war ich davon erwacht, dass sich eine kundige Zunge hingebungsvoll über meinen Schwanz hermachte. Franco wusste was er da tat. Langjährige Übung! Immer wieder zögerte er meinen Höhepunkt hinaus, bis ich schließlich atemlos um Gnade flehte. Erst dann ließ er mich kommen. Ganz der Macho genoss er es, wenn er im Bett das Sagen hatte.
Anschließend drehte er mich auf die Seite. Erfahrene Finger bereiteten mich vor, bevor er seine Härte langsam in mich hinein schob. Dabei ließ er seine Hände zärtlich über meiner Brust und dem Bauch auf und ab wandern. Seine tiefen, gleichmässigen Stöße reizten zielsicher immer wieder meine Prostata und ich spürte, dass ich wieder hart wurde. Der Orgasmus rauschte diesmal fast zeitgleich über uns beide hinweg. Keuchend ließen wir uns von unserer Leidenschaft in den Himmel tragen, nur um dann sicher wieder den Armen des jeweils anderen zu landen.
Zweimal an einem Morgen Kommen war nicht schlecht für einen alten Knacker, oder? Und mein rasender Herzschlag danach beruhigte sich immer noch ganz ohne die Tabletten, die viele meiner Altersgenossen dauernd schluckten. Unser Hausarzt bestätigte mir und Franco eiserne Gesundheit. Vielleicht war Liebe ja doch die beste Medizin …
Um ehrlich zu sein: Wir dachten nicht wirklich an unsere Gesundheit, wenn wir uns gegenseitig heiß machten.
Die beiden Jungen vor mir bezahlten, ohne das Gaffen der Verkäuferin zu beachten, und schlenderten aus dem Laden, immer noch Hand in Hand.
Ich zwinkerte der Frau zu, als sie sich schließlich von dem Anblick löste. Sie errötete leicht, um dann geschäftig meine umfangreichen Einkäufe über den Scanner zu ziehen. Endlich! Plötzlich konnte ich es nicht mehr erwarten, nach Hause zu kommen. Ich war neugierig, was mein Liebster wohl für eine Überraschung vorbereitet hatte.
Hinter der Pizzeria harrte bereits ein Empfangskomitee auf meine Rückkehr. Mario, einer ‚unserer‘ Großneffen, und sein Bruder Luca schnappten sich den Autoschlüssel und versprachen hoch und heilig, sich um die fachgerechte Unterbringung der von Franco bestellten Lebensmittel zu kümmern. Ihre Schwester Emilia nahm mich mit einem verschwörerischen Lächeln an der Hand und zog mich in den Gastraum, in dem schon alles für das Abendgeschäft eingedeckt war. Aus der Küche ertönte das Klappern von Metall und laute italienische Schlagermusik, bei der jemand ziemlich schief den Refrain mitsang.
Morgen um diese Zeit würde ein Schild mit der Aufschrift „Geschlossene Gesellschaft“ an der Türe des „Delizia di Roma“ hängen, wir hätten schon alle Tische zu einer langen Tafel zusammengeschoben und eine Ecke zum Tanzen frei geräumt. Ich freute mich schon unbändig auf die Feier. Die Übergabe des Restaurants war der eine Anlass. Der andere war … fünfzig Jahre! Oh, Mann! Fünfzig lange Jahre! Es war so etwas wie eine goldene Hochzeit, auch wenn wir natürlich nie geheiratet hatten. Eine eingetragene Lebenspartnerschaft wollte Franco nicht. Ich brauchte sie nicht, um zu wissen, dass er DER Mann für mich war. Der Katholik in Franco sehnte sich nach Gottes Segen, ein Papier vom Staat, auf dem stand, dass wir Partner waren, hatten wir beide nicht nötig. Ich war aber froh, weil ich wusste, dass Franco seinen eigenen Frieden mit dem Glauben seiner Kindheit schon vor Jahren gemacht hatte, auch wenn die Offizialkirche noch immer ablehnte, dass wir uns liebten, nur weil wir zwei Männer waren.
„Zio Stefano, wir müssen hier noch einen Moment warten und dann muss ich dir die Augen verbinden.“ Emilia winkte fröhlich mit einem roten Seidenschal. „Franco hat ganz genaue Anweisungen gegeben!“
Ich hatte sie von einem niedlichen Kleinkind zu einer bildhübschen jungen Frau heranwachsen sehen. Dass sie und ihre Brüder mich ganz selbstverständlich ‚Zio‘ – Onkel - nannten, war ein weiteres kostbares Geschenk, dass ich meiner Beziehung zu Franco verdankte. Ich sonnte mich nicht nur in seiner Liebe, sondern auch in der Zuneigung einer großen, lauten und lebhaften italienischen Familie. Unserer Familie.
„Andiamo!“ schallte es plötzlich von draußen.
Emilia drückte mich auf einen Stuhl und verknotete den Schal sorgfältig um meine Augen. Dann fasste sie mich an beiden Händen, zog mich wieder hoch und führte mich langsam in Richtung Fronttüre.
Die Strahlen der Mittagssonnen kitzelten mein Gesicht, als wir das Lokal verließen und ins Freie traten. Emilia ließ mich los, aber sofort schnappte jemand anderes nach meinen Händen. Der feste Griff war so vertraut wie der männliche Duft, der mich streifte, als ein zärtlicher Kuss auf meine Schläfe gedrückt wurde.
„Stefano, ti amo, bello!“
Bevor ich etwas erwidern konnte, nahm Franco mir die Augenbinde ab und ich sah in die espressofarbenen Augen, die mich vor einem halben Jahrhundert in ihren Bann gezogen und nie wieder daraus entlassen hatten. Sie waren nun von einem Kranz feiner Lachfalten umgeben, von denen ich jede einzelne kannte und liebte.
Mein Schatz strahlte mich an, dann küsste er mich so innig, dass ich zum dritten Mal an diesem denkwürdigen Tag spürte, dass ich zwar alt, aber noch lange nicht tot war. Hoffentlich besaßen unsere Verwandten die Höflichkeit, uns ins Gesicht zu sehen und uns nicht auf den Schritt zu starren. Ich fühlte deutlich, dass der Kuss auch Franco nicht kalt gelassen hatte. Seine Härte wuchs neben meiner und war auch durch den Stoff der Hose zu spüren.
Ein wenig atemlos lösten wir uns voneinander. Dann trat mein Geliebter einen halben Schritt zur Seite und deutete mit großer Geste hinter sich. Eine gewisse Theatralik war ihm als Italiener einfach angeboren.
„Tadaa!“
Im Schatten der großen, alten Kastanie, die majestätisch über unsere Außenterrasse wachte, standen zwei nagelneue feuerrote Vespas, dahinter parkte ein sorgfältig renovierter alter Fiat-Bus in der gleichen Farbe.
Ich spürte, dass Franco seinen Kopf an meine Schulter legte. Sein linker Arm schlang sich um meine Hüfte und meine rechte Hand fand automatisch ihren angestammten Platz an seiner Taille.
„Stefan, du hast mich immer wieder gefragt, ob ich nicht noch einmal nach Rom will. Aber ich wollte nie. Meine Heimat ist doch längst hier bei dir. Dann ist mir aber aufgegangen, dass ich dir diese wunderbare Stadt vorenthalte. Lass mich dir die ‚città eterna‘ zeigen, so wie ich sie kennengelernt habe.“
„Auf eine Vespa?“ Ich war nicht ganz sicher, was ich davon zu halten hatte.
Franco kannte mich natürlich ganz genau und lachte schallend los. „Si, mio bello! Schau‘ nicht so entsetzt! Wir haben jetzt alle Zeit der Welt! Die Kinder führen nun das Lokal und wir beide machen uns gemütlich auf in Richtung Süden. Wir halten an, wo es uns gefällt, suchen uns ein nettes Hotel mit einem seniorentauglichen Bett, holen die Roller aus dem Bus und erkunden die Gegend.“ Er grinste frech. „Schließlich sind wir schon alte Knacker, wollen nachts bequem liegen und nicht mehr überall zu Fuß hin laufen.“
Dann wurde er etwas ernster. „Ich danke Gott dafür, dass wir beide noch so fit sind. Lass uns zusammen Rom anschauen. Ich möchte es noch einmal sehen, bevor ich …“
Rasch legte ich ihm zwei Finger auf den Mund. „Sprich es noch nicht einmal aus! Wir werden Rom sehen und … leben!“
Meine Hand rutschte in seinen Nacken und ich zog ihn für einen weiteren Kuss zu mir heran. Mein Daumen rieb über das kleine goldene Kreuz, dass er noch immer trug.
Im Stillen dankte auch ich Gott für fünfzig wundervolle Jahre und bat um ein paar mehr, die wir gemeinsam und frei von allen täglichen Pflichten genießen konnten. Ich freute mich darauf, lauter verrückte Dinge mit meinem wunderschönen Mann zu erleben.
„Wann fahren wir los und wann kommen wir zurück?“ fragte ich leise.
„Chissà!“ Franco lachte schon wieder. „Wir brechen am Montag auf, aber wann wir wieder hier sind, kann ich noch nicht sagen. Wenn ich wirklich nach all den Jahren wieder in Rom bin, will ich vielleicht nicht mehr dort weg.“
Ich glaubte mich verhört zu haben und schaute ihn entsetzt an.
„Aber unsere ganze Familie und unsere Freunde leben doch hier in Münster!“
Franco gab mir einen zärtlichen Kuss auf die Nase. „Ach, lass einen alten Römer doch ein wenig spinnen, mio bello! Du hast ja recht! Lass uns Rom sehen und leben! Danach kommen wir zurück.“
Er grinste frech. „Aber mit dem ‚Leben‘ fangen wir gleich an. Lass die jungen Leute das Fest vorbereiten. Ab heute und in Zukunft koche ich nur noch für dich. Statt mich in die Küche zu stellen, probiere ich jetzt zuerst einmal mit dir die Roller aus.“
Klar, es war nur Münster und nicht Rom. Aber mit einem verrückten alten ‚Römer‘ an der Seite auf einer Vespa durch die Stadt zu knattern, fühlte sich schon mal verdammt italienisch an. Meine Zukunft war auch nach einem halben Jahrhundert mit und wegen Franco noch immer voller Verheißungen.
Texte: C.J. Rivers
Bildmaterialien: pixabay.com (User markus53), bearbeitet
Tag der Veröffentlichung: 17.11.2014
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
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Für jemanden, der immer Liebe und Lachen verbreitet hat, dem aber keine 70 Jahre auf dieser Welt vergönnt waren.
Die Idee, Rom mit einer Vespa zu erkunden, hätte von ihm stammen können.
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