Ein Jahr! Ein ganzes Jahr lang war er nun schon alleine. Mit Tränen in den Augen legte Nick eine dicke Kastanie auf das schlichte Urnengrab. Sam hatte Kastanien geliebt.
Genau wie er den Herbst, das bunte Laub und Halloween gemocht hatte. Sie waren lachend und voll guter Laune von einer Kostüm-Party gekommen, auf der sie gleichzeitig ihr zehnjähriges Kennenlernen gefeiert hatten. Sam konnte das Auto nicht einmal sehen, mit dem der betrunkene Fahrer in ihre Gruppe hinein gerast war.
Es kam Nick heute noch wie Hohn vor, dass ausgerechnet sein Sam, sein geliebter Mann, das Beste und Kostbarste in seinem Leben, von einer Sekunde auf die andere einfach fort gewesen war und er selbst kaum einen Kratzer abbekommen hatte.
Zuerst zeigten seine Familie und seine Freunde Verständnis. Der Schock über den unerwarteten Verlust saß bei allen tief. Aber nach einer Weile schien für alle anderen der Alltag einfach weiter zu gehen.
„Du musst loslassen!“
Wie oft hatte er das in den vergangenen Monaten gehört?
„Sam hätte nicht gewollte, dass du so sehr um ihn trauerst!“
Wer wusste schon, was Sam sich gewünscht hatte?
„Schau nach vorne!“
Was gab es da schon zu sehen? In all seinen Träumen hatte sich Nick seine Zukunft immer nur mit Sam vorgestellt. Ohne ihn war sie finster und einsam.
Er dachte lieber zurück, erinnerte sich an Sams Lachen, seine Wärme, seine Zärtlichkeiten, seinen schrägen Sinn für Humor, seine absolute Unfähigkeit zu Kochen, seine Kreativität. Genau zehn Jahre lang waren sie glücklich gewesen. Auf einer Halloween-Party hatten sie sich kennengelernt und es zu einer Tradition werden lassen, den Tag ihres ersten Treffens jedes Jahr ausgelassen zu feiern. Der schreckliche Unfall setzte allem ein Ende und machte aus Allerheiligen wieder den Tag der Trauer, an dem Nick mit seinen Eltern in seiner Kindheit immer den Friedhof besucht und seiner toten Angehörigen gedacht hatte.
Gerade lief ihm ein kalter Schauer den Rücken hinab und er fror erbärmlich. Wie lange stand er eigentlich schon hier und starrte reglos auf das Grab?
Die bleiche Sonne neigte sich bereits wieder in Richtung Horizont, also musste er seit mindestens zwei oder drei Stunden hier seinen Gedanken nachgehangen haben. Dabei war der Friedhof gar nicht so still und verlassen, wie an den meisten Tagen. Zahlreiche Menschen bevölkerten die Kieswege zwischen den Gräbern, legten Blumen nieder oder entzündeten kleine Leuchten. Manche wirkten so traurig und verloren, wie auch er selbst sich fühlte, andere schienen eher eine Pflicht zu erfüllen, schauten verstohlen auf ihre Handys und verschwanden so schnell, wie sie gekommen waren. Zwei ältere Damen schwatzen laut miteinander und hinter der kleinen Kapelle spielten ein paar Kinder Fangen. Feuchte Nebelschwaden trieben umher und verzerrten alle Geräusche auf seltsame Weise.
Als eine Glocke zu Läuten begann, küsste Nick zwei seiner Finger, bückte sich und presste sie die Marmorplatte, die Sams Grab bedeckte. Danach erhob er sich rasch. Er hatte keine Lust, einer ganzen Gruppe von Leuten zu begegnen, die mit salbungsvollen Worten von Liebe und Vergebung sprachen, aber Männer wie ihn im gleichen Atemzug gnadenlos für eine Liebe verurteilten, die aus unerfindlichen Gründen ihr Weltbild störte.
Nach Hause, in seine leere Wohnung, wollte er gerade heute auch nicht. Sie schien viel zu ruhig und viel zu groß zu sein, seit Sam fort war. Also schlenderte er nicht in Richtung Parkplatz, sondern zum Hinterausgang des Friedhofs. Dort gab es einen großen, öffentlichen Park mit verwilderten Rasenflächen und knorrigen alten Bäumen. Um diese Jahreszeit war er fast immer menschenleer, was ausgezeichnet zu Nicks Stimmung passte.
Ziellos wanderte er über die verlassenen Wege. Die Nebelschwaden verhüllten alles, was weiter entfernt war und verstärkten seinen Eindruck ganz allein auf der Welt zu sein, bis sich plötzlich ein Schwarm Krähen aus einer dicken Eiche erhoben und krächzend ein paar Mal um ihn kreisten.
Sam, mit seiner fröhlichen Faszination für alles Mystische, hatte ihm einmal erzählt, dass die schwarzen Vögel als Botschafter aus dem Jenseits galten und die Seelen der Menschen bei ihrem Übergang von diesem Leben das Nächste begleiteten. Tatsächlich hatte er in der schrecklichen Nacht vor einem Jahr als Halloween-Kostüm einen schwarzen Umhang und eine Federmaske mit Schnabel getragen. Als Nick sich beschwerte, dass er ihn so gar nicht küssen könnte, schob er das alberne Ding einfach hoch. Der gebogene Schnabel hatte wie die schlechte Imitation eines Einhorns gewirkt. Darüber hatte Sam gelacht, als …
„Nicht!“
Nick zuckte zusammen, als eine heisere Stimme erklang. Natürlich verzerrte der Nebel alle Geräusche und täuschte über die Entfernungen, aber er war überzeugt gewesen, alleine zu sein. Irritiert schaute er sich um. Der Park wirkte völlig leer. Er wirbelte herum, als er erneut etwas hörte.
„Ich bin hier.“
Kein Mensch war zusehen, aber nicht weit von ihm saß auf einem niedrigen Ast ein großer, dunkler Vogel und schaute ihn mit schief gelegtem Kopf an. Das Tier schüttelte sein nachtschwarzes, glänzendes Gefieder und machte dann Anstalten, auf den Boden zu hüpfen. Die Krähe kam nie unten an.
Stattdessen hockte vor Nick ein schlanker, nackter Mann mit ebenholzfarbenem Haar und Augen voller Dunkelheit. Er schaute mit in den Nacken gelegtem Kopf zu ihm auf. Hohe Wangenkochen und eine schmale, lange Nase ließen das Gesicht streng wirken, aber die breiten, sinnlichen Lippen milderten den Eindruck ab.
Nick kannte diese Züge in- und auswendig. Er wusste, dass sich der eine Mundwinkel beim Lächeln eine Idee höher hob, als der andere. Er kann die Stelle, an der beim Lachen ein freches Grübchen erschien und die steile Falte, die sich bei Zorn zwischen den Brauen bildete. Aber die Wangen waren jetzt schmäler als in seiner Erinnerung und unter den Augen lagen dunkle Schatten.
„Sam!“ Nick krächzte das Wort hinaus, als wäre er selber eine der Krähen, die noch immer aufgeregt über ihnen hin und her flatterten. Weil seine Beine ihn nicht mehr zu tragen schienen und er ohnehin unbedingt das geliebte Gesicht berühren wollte, fiel er auf die Knie. Ganz vorsichtig strecke er die Hand aus, halb und halb überzeugt, der Mann vor ihm wäre nur ein Trugbild, dass bei Kontakt in tausend Teile zerstoben würde wie eine Seifenblase.
Aber Sams Wange fühlte sich schmerzlich vertraut an, warm und ein wenig rau von den Bartstoppeln, ganz so, als hätte Nick ihn erst gestern und nicht schon vor einem ganzen Jahr zum letzten Mal angefasst.
Das konnte nicht wahr sein! Nick riss seine Finger zurück und hörte den furchtbaren Schrei, bevor ihm bewusst wurde, dass er selber ihn ausgestoßen hatte. Dann kippte er einfach um. Die feuchte Novemberkälte drang sofort auf der ganzen Länge seines Beins durch die Jeans, der Oberkörper dagegen war durch die Jacke besser geschützt. Konnte man solche Details nur einbilden? Nicks Gedanke rasten, seine Hoffnungen spielten Fangen mit seinen Träumen und wurden dabei gnadenlos von seinem Realitätsinn und seiner Trauer gejagt.
Eine zitternde Hand berührte vorsichtig sein Haar und holte Nick ins Hier und Jetzt zurück. Sam konnte ihm nicht in die Augen schauen, während er ihn behutsam streichelte. Sein geliebtes, schmerzlich vermisstes Gesicht war tränennass und verzweifelte Schluchzer schüttelten seinen Körper.
„Bitte Nick, lass es mich dir erklären!“ Sams Stimme war anders. Leise. Heiser. Unsicher.
Eine Krähe schrie ganz in der Nähe laut und krächzend, der ganze Schwarm antwortete aus der Ferne. Beide Männer zuckten zusammen und suchten unwillkürlich mit Blicken nach dem Störenfried. Aber die Nebelschwaden gaben nichts preis. Hektisches Flügelschlagen war zu hören, danach kehrte absolute Stille ein.
Sam stand auf und zog auch Nick hoch. „Du wirst dir noch den Tod holen, wenn du hier in der Kälte auf dem nassen Boden liegst!“
Nick stieß ein verzweifeltes Lachen aus. Die Situation war einfach absurd. Da stand sein tot geglaubter Geliebter völlig nackt vor ihn und machte ihm Vorhaltungen, weil er angeblich erfrieren würde.
Sam zog sanft an seinem Arm. „Lass uns nach Hause gehen.“
Ein scharfer Schmerz durchfuhr Nick. „Ich habe kein Zuhause mehr, seit du gestorben bist!“
Sam zuckte zusammen, als hätte er ihn geschlagen.
Plötzlich war Nick alles egal. War dies hier nicht genau das, was er sich ein ganzes Jahr lange gewünscht hatte? Aber statt Sam die Arme zu schließen und fest an sich zu drücken, statt sich über sein unglaubliches Glück zu freuen, fing er einen dummen Streit an?
Ganz langsam griff er nach Sams Hand. Zog ihn in eine Umarmung. Ließ sich gegen den starken, festen Körper sinken und legte seinen Kopf in dessen Nackenbeuge, um seinen Duft endlich wieder einzuatmen. Sam roch vertraut und doch anders. Schärfer. Wilder.
Nicks Finger erkundeten die starken Muskeln der breiten Schultern und das Tal der Wirbelsäule auf Sams Rücken, lernten den Körper seinen Geliebten neu kennen. Als er ihn anschauen wollte, wurde ihm plötzlich bewusst, dass die Sonne fast untergegangen war, und nur Nebel und Schatten im Park zurückgelassen hatte. Sams Züge waren in der Dämmerung nicht mehr wirklich zu erkennen.
Unerwartet musste Nick grinsen. Die hereinbrechende Dunkelheit würde zumindest das Risiko minimieren, dass sie jemand auf ihrem Weg zum Auto sah. Auch wenn er mit dem christlichen Glauben nicht mehr viel am Hut hatte, so wollte er doch nicht an Allerheiligen späte Friedhofsbesucher mit dem Anblick des nackten Mannes an seiner Seite schockieren.
Ohne ein weiteres Wort und ohne Sam loszulassen, führte er ihn in Richtung Parkplatz. Die hohe Mauer, die den geweihten Boden umgab, schützte sie vor neugierigen Blicken und niemand sah sie, als sie um die Ecke huschen und rasch in Nicks Auto stiegen. Wie selbstverständlich griff Sam hinter den Beifahrersitz auf die Rückbank. Rasch legte er die Decke, die immer dort lag, über sich.
Nick startete den Motor und gemeinsam fuhren sie durch die dunkle Stadt nach Hause. Wortlos rannten sie nebeneinander die Treppe hinauf, bis sie vor der Tür zum Dachgeschoss standen, wo sie gemeinsam gelebt hatten. Nick öffnete, ließ aber Sam den Vortritt.
Nichts hatte sich in der Wohnung verändert. Selbst Sams Schuhe standen noch im Regal und seine Jacken hingen an der Garderobe, ganz so als wäre er nie weg gewesen. Nick schälte sich aus seinen nassen und dreckigen Klamotten und ließ sie achtlos zu Boden fallen, bevor er im Bad verschwand. Als Sam das Rauschen der Dusche hörte, löste er sich aus seiner Erstarrung und folgte seinem Freund.
Die Nebelschwaden im Bad waren ganz anders als die im Park. Feuchte Hitze füllte den kleinen Raum, weil Nick die Duschkabine nicht geschlossen hatte. Sam verstand die unausgesprochene Einladung und stellte sich zu ihm unter die Brause. Einen Moment lang löschte der pure Genuss des Gefühls von heißem Wasser, das auf seine Schultern prasselte, alle anderen Gedanken aus. Seifige Hände, die ihn sanft einschäumten, lösten ein vertrautes Kribbeln in seiner Wirbelsäule aus und ließen ihn hart werden.
„Nick …“, setze er an, aber sein Geliebter schüttelte den Kopf und legte ihm einen Finger auf die Lippen, bevor er sie mit seinen eigenen verschloss. Sam seufzte in den Kuss hinein. Nick hatte recht. Reden konnte sie auch später.
Es dauerte nicht lange. Verlangen und Sehnsucht hatten sich ein ganzes Jahr aufgestaut. Kaum dass Nick ihre beiden Schwänze in die Hand nahm und einige Male fest auf und ab rieb, spürte Sam, dass er kam. Nick folgte ihm nur Sekundenbruchteile später. Keuchend standen sie aneinander gelehnt da, während das herabrinnende Wasser die Spuren ihrer Lust mitnahm.
Zärtlich trockneten sie sich gegenseitig ab, bevor sie in ihre dicken Bademäntel schlüpften. Nicks Magen knurrte laut und die Stimmung kippte. Allerdings wurde sie nicht unangenehm. Sie lächelten sich an und gingen Hand in Hand in die Küche. Wie immer deckte Sam den Tisch, während Nick den Tee kochte.
Beim Essen war es wieder so, als wäre Sam nie fort gewesen, aber er spürte, dass Nick allmählich unruhig wurde. Fahrig spielten seine Finger mit einem kleinen Löffel und die letzten Reste des Butterbrots lagen schon eine Weile unberührt auf seinem Teller.
Sam griff über den Tisch und legte seine Hand über Nicks, verhinderte so, dass er weiter das Besteck hin und her schob.
„Bitte schau mich an, Nick. Ich bin dir eine Erklärung schuldig.“
Aber der weigerte sich, den Blick zu heben sondern hielt ihn stur auf ihre übereinandergelegten Finger gerichtet.
„Weißt du noch, als du im Sommer vor zehn Jahren nach einem Wespenstich den schweren allergischen Schock hattest und erst im Krankenhaus wieder aufgewacht bist?“
Das brachte Sam einen mehr als erstaunten Blick ein.
„Was hat diese alte Geschichte mit uns und dem, was heute passiert ist, zu tun? Das war doch schon lange bevor wir uns kennengelernt haben!“
Sam schüttelte den Kopf. „Tatsächlich habe ich dich an diesem Tag zum ersten Mal gesehen.“ Er grinste bei der Erinnerung schief. „Du sahst einfach furchtbar aus. Dein Gesicht war völlig verquollen und du konntest kaum aus den Augen blicken. Aber als ich dich mitnehmen wollte, hast du dich geweigert. Dein Leben läge noch vor dir und du würdest immer noch auf deine große Liebe warten, hast du gesagt. Dass hatte ich schon unzählige Male gehört. Doch du griffst nach meiner Hand und zogst sie an die Lippen. Du könnest nicht gehen, jetzt wo du sie endlich gefunden hättest.“
Nick neigte sich mit gerunzelter Stirn zu ihm. „Daran kann ich mich nicht erinnern. Wir haben uns doch erst im Herbst, auf dieser Halloween-Party kennengelernt.“
Sam schüttelte den Kopf. „Ich habe dir doch erzählt, dass die Krähen die Seelen der Menschen beim Übergang vom Leben zum Tod begleiten. An diesem Tag im Sommer sollte ich dich hinüber führen. Normalerweise kann uns niemand sehen, wenn wir unserer Bestimmung nachgehen. Wir sind einfach nur eine friedliche Präsenz, damit die Sterbenden spüren, dass sie nicht alleine sind und weniger Angst haben.“ Er sah Nick nun endlich an. „Du hattest keine Furcht. Du warst auch nicht traurig, zornig oder schicksalsergeben. Das waren die Emotionen, die ich kannte. Du aber hast mich angestrahlt, voller Glück und Hoffnung. Voller Liebe! Dabei hättest du mich nicht einmal sehen dürfen, geschweige denn erkennen, dass ich nicht nur schwarzer Vogel, sondern auch ein Mann bin.“
Zärtlich berührte er Nicks Wange. „Ich konnte es nicht tun. Ich konnte dich nicht aus dem Leben holen. Stattdessen saß ich tagelang an deinem Bett und hoffte, du würdest noch einmal die Augen aufschlagen und mich ansehen. Du hast es tatsächlich geschafft und überlebt. Aber leider schien ich damit für dich wieder unsichtbar geworden zu sein.“
Sam seufzte, gefangen in seinen Erinnerungen. „Ich konnte dich einfach nicht vergessen und dann nutzte ich die einzige Chance, die ich hatte: An Allerheiligen sind die Grenzen zwischen den Welten dünn. Wenn man es wirklich will, kann man sie durchschreiten. So wurde ich von einem namenlosen, gefiederten Todesboten, zu Sam, zu dem Mann, den du kennengelernt hast.“
Nick schüttelte ungläubig den Kopf. Gar zu fantastisch hörte sich das Alles an. Und doch saß er hier, lauschte der ungewohnt heiseren Stimme, spürte die liebevollen Berührungen und die warme Haut auf seiner eigenen und sah die schmerzlich vertrauten Züge, die er ein ganzes Jahr lang vermisst hatte.
„Wieso bist du gegangen? Hast mich einfach alleine zurück gelassen? Ich habe um dich getrauert. Auch mein Leben war zu Ende.“
„Nick, mein menschlicher Körper war völlig zerstört. Instinktiv habe ich das wenige, was noch von mir übrig war, in die andere Welt gerettet. Das war ohnehin nur möglich, weil an diesem besonderen Tag im Jahr die Grenzen nicht undurchdringlich sind. Wie gerne wäre ich sofort zu dir zurück gekehrt, hätte dich in den Arm genommen und getröstet oder hätte einfach meinen Platz an deiner Seite wieder eingenommen. Aber es war unmöglich. Glaub mir, ich habe die allererste Chance genutzt, die ich bekommen konnte, um wieder bei dir sein zu können!“
Tränen tropfen auf ihre miteinander verschränkten Hände, als Sam sich vorbeugte. Ihre Lippen berührten sich und der Kuss schmeckte nach Salz und Sehnsucht, nach tiefer Trauer und verzweifeltem Verlangen. Dann mischten sich andere Aromen dazu: Vorsichtige Hoffnung, zärtliche Liebe und lange unterdrückte Leidenschaft.
Die beiden Männer vergaßen die Welt und ihre mystischen Geheimnisse. Nur noch das hier und jetzt zählte. Zeitgleich schoben sie die Stühle zurück und erhoben sich. Mit ineinander verschränkten Fingern eilten sie in das dunkle, warme Schlafzimmer, streiften sich die Bademäntel von den Schultern und fielen auf das weiche Bett. Sam lag unter Nick, aber obwohl er stärker war, ließ er es sich gefallen, dass der über ihm hockte, seine Handgelenke festhielt und ihn so an jeder Bewegung hinderte. Nick beugte sich vor und küsste ihn rasch auf den Mund, danach aufs Kinn. Dann knabberte und leckte er sich den Hals hinab, ließ seine Zunge abwechselnd um beide Brustwarzen schnellen, pustete auf die feuchten Knospen und biss zart hinein, als sie sich erregt aufrichteten. Sam stöhnte laut und konnte einfach nicht mehr still liegen. Aber er warf Nick nicht ab, sondern bewegte sich nur unruhig hin und her.
Nicks Augen funkelten in dem weichen Licht, dass durch den Türspalt aus dem Flur hereinfiel. Er ließ von den Brustwarzen ab und platzierte seine feuchten, heißen Küsse Millimeter für Millimeter tiefer. Sams Bauchmuskeln zitterten. Er war gefangen zwischen dem Wunsch, seinen Geliebten machen zu lassen und dem Bedürfnis, ihn auf den Bauch zu drehen, um sich tief in seiner dunklen Enge zu versenken. Sein Schwanz schmiegte sich längst hart an seine Bauchdecke und pulsierte im Takt seines Herzen. Erste, heiße Tropfen der Lust bildeten sich an der Spitze. Als Nick sie ableckte und dann mit der Zunge in den kleinen Schlitz stippte, schrie Sam auf. Seine Hüften zuckten unkontrolliert nach oben. Nicks Lippen öffneten sich sofort, um seine Härte aufzunehmen. Seine Mundhöhle war heiß und feucht und dass gekonnte Spiel seiner Zunge trieb Sam fast über die Klippe. Erst im allerletzten Moment zog Nick sich zurück und hinderte Sam mit einem festen Griff um die Schwanzwurzel daran, zu kommen.
Beide Männer keuchten und schwitzten vor Erregung. Sam realisierte, dass seine Hände frei waren und nutze die Gelegenheit umgehend, um Nicks Härte zu massieren. Der hielt seinen Blick fest, während er sich vorsichtig auf die Fersen hob. Dann senkte er sich langsam auf Sam hinab, nahm seine ganze Länge in sich auf und hieß sogar das leichte Brennen willkommen. Endlich waren sie wieder so eng vereint, wie es zwei Menschen nur sein konnten. Nicks Verstand schaltete ab. Er bestand, genau wie Sam, in diesem Moment nur noch aus Gefühlen und Leidenschaft. Die Zeit verlor jegliche Bedeutung. Die beiden Männer lernten sich in dem sanften Halbdunkel wieder kennen, erforschten geheime Winkel neu und reizten die erotische Hot-Spots, die sie nur voneinander kannten. Sie flogen gemeinsam und kamen nach Atem ringend wieder auf der Erde an, nur um das Spiel in einer anderen Variante von Neuem zu beginnen. Irgendwann dämmert sie aneinander geschmiegt in den Schlaf, aber Sam vergaß nicht, eine Decke über seinen Geliebten zu ziehen, damit ihm nicht kalt wurde.
Nick erwachte am nächsten Morgen als erster. Da auf den Feiertag in diesem Jahr ein Sonntag folgte, hatte kein Wecker sie aus dem Schlaf gerissen. Natürlich waren am Abend die Vorhänge nicht mehr geschlossen worden. Nun stand die Sonne bereits so hoch am Himmel, wie es um diese Jahreszeit möglich war, und sandte ihre bleichen Strahlen ins Zimmer.
Sams schwarze Haare schimmerten in dem Licht wie dunkle Seide oder das Gefieder eines Raben. Plötzlich erstarrte Nick. Er erinnerte sich, dass er ein ganzes Jahr lang alleine geschlafen hatte. Auch der Grund fiel ihm sofort wieder ein. Träumte er, oder lag wirklich der Mann, den er über alles liebte und der sich gestern vor seinen Augen von einer Krähe in einen Menschen verwandelt hatte, an seiner Seite? Als hätten seine Zweifel Sam geweckt, schlug der die Augen auf und sah ihn an. Erkenntnis und Verstehen blitzten in dem dunklen Blick auf.
„Es ist wirklich wahr, Nick! Frag mich alles, was du wissen willst. Es wird nie mehr Geheimnisse zwischen uns geben und ich werde dich nicht wieder alleine lassen, bevor du mir sagst, dass ich gehen soll.“ Ein Kuss besiegelte das Versprechen.
Wilde Freude keimte in Nick auf. Sam, sein über alles geliebter Sam, war gegen jede Vernunft und gegen jede Hoffnung tatsächlich wieder an seiner Seite. Endlich fühlte er sich wieder ganz. Was auch immer die Zukunft bringen mochte, gemeinsam würden sie den Anforderungen stellen und die Probleme lösen. Er schmiegte sich eng an seinen Geliebten und erwiderte den Kuss. Dann vergaßen sie für eine lange Weile alles, was sich außerhalb des Bettes abspielen mochte.
Unbemerkt von den Männern stieß sich eine riesige Krähe vom Fensterbrett ab und strebte mit mächtigen Flügelschlägen in den Himmel hinauf. Ein ganzer Schwarm der schwarzen Vögel schloss sich ihr an. Sie krächzten laut, während sie gemeinsam ihre Runden über der Stadt drehten.
Der große Leitvogel, der hoch über allen anderen flog, aber blieb stumm. In dieser Gestalt konnte er nicht lächeln, um seiner Freude Ausdruck zu verleihen. Es war noch nie geschehen, dass einer seiner Seelenboten wirklich sein Glück fand. Er gönnte es Sam von ganzem Herzen und schwor sich, ihn und seinen Geliebten mit aller Macht zu schützen, die ihm zur Verfügung stand. Ein zarter Funke der Hoffnung keimte in ihm auf. Wenn eine seiner Krähen seine Liebe gefunden hatte, war dies vielleicht auch andern möglich.
Die Zukunft wirkte plötzlich nicht mehr düster und voller Tod, sondern enthielt ein leises, leuchtendes Versprechen …
Texte: C.J. Rivers
Bildmaterialien: pixabay.com / Bonnyb Bendix
Tag der Veröffentlichung: 20.10.2014
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