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Sei ein echter Mann, Maus!

Montag

 

Ich bin sowie so zu spät, weil ich die Mittagspause mal wieder deutlich überzogen habe. Obwohl ich es schätze, dass unser Schule Tennis als reguläres Sportfach anbietet, finde ich die Stunden am frühen Nachmittag einfach nur ätzend. Thomas erwischt mich auf dem Weg zur Tennishalle.

 

Der Thomas.

 

Der Thomas, der selbst in den billigen, schlecht geschnittenen No-Name Jeans und den verwaschenen Shirts, die er immer trägt, einfach nur geil aussieht. Der Thomas, dessen blonde Haare immer ein bisschen zu lang sind. Man könnte super mit den Fingern hindurch fahren. Also ich. Das stelle ich mir zumindest immer vor, während ich ihm heimlich hinterher glotze. Der Thomas, der mir immer nur einsilbige Antworten gibt, wenn ich ihn mal anquatsche.

Der Thomas, dem der blöde Sozi-Lehrer ein Referat über die Folgen der Jugendarmut aufgedrückt hat. Ausgerechnet. Dreist hat er daraus einen Vortrag über die "Emotionale Verarmung von materiell übersättigten Wohlstandskindern" gemacht und dabei süffisant mehrmals in meine Richtung geschaut. Er hat natürlich eine vier kassiert. Vortrag gut, aber Thema verfehlt. Da er ansonsten ein ziemlich guter Schüler ist, kann er es sich leisten. Ich brauche solche Stunts in der Schule zurzeit nicht zu bringen.

 

Im Moment ist außer uns beiden weit und breit keine Menschenseele zu sehen. Er reißt mich grob an der Schulter herum und knallt mich mit Wucht gegen die Wand der Halle. Meine Sporttasche entgleitet mir und fällt zu Boden.

„Du bist so ein Arsch, Maus!“

Thomas steht dicht vor mir und vibriert vor Zorn. Zwischen seinen Augenbrauen hat sich eine steile Falte gebildet, die Kiefer presst er so fest zusammen, dass man glaubt, die Zähne müssten zersplittern, und er ist bleich vor Wut. Seine Fäuste sind geballt und ich erwarte, dass er mir jeden Moment eine reinhaut. Das wird hart. Er ist mehr als einen halben Kopf größer als ich und sein T-Shirt spannt über breiten Schultern. Der Stoff liegt eng an und zeigt deutlich ausgeprägte Muskeln.

 

Ich schlucke trocken und überlege fieberhaft, wie ich aus der Nummer wieder raus komme. Natürlich habe ich eine ziemlich genaue Idee, warum er so sauer ist, aber mir ist nicht klar, wieso er mich im Verdacht hat. Am besten einfach alles Leugnen.

„Was willst Du überhaupt von mir?“ Ich versuche Empörung in meine Stimme zu legen.

„Lass den Scheiß! Ich habe eine Kamera in Mamas Kiosk installiert. Und deine dumme Visage und die blöde Angeber-Jacke, die Du immer anhast, sind deutlich zu erkennen. Wer Deine sauberen Freunde waren, kann ich mir schon denken. Aber die sind wenigstens so schlau gewesen, draußen zu bleiben.“

 

Schlagartig wird mir todschlecht. In meinem Magen hat sich ein eiskalter Klumpen gebildet und mein Herz stolpert. Leider fällt mir keine Antwort ein. Das Sprachzentrum hat sich, genau wie das restliche Gehirn, wegen akuter Blutarmut kurzfristig abgeschaltet.

 

 

Etwa anderthalb Tage vorher, Samstagnacht

 

Wir sind alle ziemlich betrunken, natürlich außer Matthias „Mad Dog“, der mag kein Bier. Seine bevorzugten Drogen sind literweise zuckerhaltige Cola, fettige Burger und selbstgedrehte Zigaretten. Bei seinem Gewicht würde es sowie so ewig dauern, bis der Alk endlich mal Wirkung zeigt. 145kg sind eine ganze Menge, auch wenn sie sich auf fast zwei Meter Körpergröße verteilen.

 

Ich bin das genaue Gegenteil. Ich wiege nicht mal die Hälfte von Mad Dog und in meinem Pass steht 1,70 m. Zum Glück hat keiner nachgemessen, in Wirklichkeit sind es nämlich nur 1,68 m. Finde ich eher peinlich für einen Mann, aber mit knapp 17 werde ich wohl nicht mehr viel weiter wachsen. Ich habe alles Mögliche ausprobiert, um wenigstens ein paar Muskeln aufzubauen, aber meist ist es dann bei dem Versuch geblieben. Deshalb klebt auch der Spitzname „Maus“ an mir, eine Abkürzung von „Micky Maus“. Gekommen bin ich zu diesem tollen Namen, weil ich eigentlich Michael heiße und … naja, für einen Jungen eher zierlich bin. Und nein, meine Ohren sind weder besonders groß noch besonders rund.

 

Unser Kumpel Tobias Holzer alias „Tiger Woods“ betreibt dagegen konsequent jeden Tag mindestens zwei Stunden Sport. Aber er geht nicht Golfen, wie es sein Pseudonym vermuten lässt, sondern stählt seinen Luxuskörper mit Body Building. Das ist mir schlicht zu anstrengend und die merkwürdigen Eiweiß-Shakes, die er immer trinkt, sind mir suspekt. Genau wie die fett- und fleischlastige Atkins-Diät, auf die er schwört. Eigentlich ist er schuld an unseren komischen Spitznamen, weil er nach dem Genuss von Hochprozentigem regelmäßig gröllend verlangt: „Los, gib mir Tiernamen.“ Ich glaube, er hat das aus einem seiner Pornos und meint, es wäre eine coole Art von Dirty Talk. Ich bin ziemlich sicher, dass er nicht weiß, was Dirty Talk eigentlich ist.

 

Der Vierte im Bunde, Erich „Eule“, hält eher nichts von Sport, wenn man Online-Video-Games und Schach mal außen vor lässt. Weil seine Mutter auf makrobiotische Ernährung, bitte vorwiegend vegan und aus biologischen erzeugten Grundzutaten schwört, ist er aber trotzdem relativ schlank. Relativ, denn man bekommt auch nach dem Genuss von Bio-Bier diesen blöden Appetit und Bio-Chips sind zwar möglicherweise gut für die Umwelt, aber ganz sicher genau schädlich für die Hüften, wie normale. Die Schokoriegel, die er ständig kaut, wenn er nicht zuhause und damit der Kontrolle seiner Mutter entzogen ist, wollen wir hier gar nicht erwähnen.

 

Gerade sehen mich die drei Jungs auffordernd an, wobei Erich seine neue Nerd-Brille zurechtrückt, die ihm ständig von der Nase zu rutschen scheint. Scheiße. Ich bin echt der Einzige, der durch das kleine Fenster des Kiosks passt. Die Tür und das Schaufenster verbergen sich nachts hinter schweren Rollläden und sind außerdem mit Metall-Gittern gesichert, das kann man tagsüber problemlos erkennen.

Mad Dog stellt sich mit dem Rücken an die Wand, faltet die Hände zu einer Räuberleiter und nickt mir auffordernd zu. Sein übliches, irres Grinsen wirkt im fahlen Mondlicht etwas unheimlich.

 

Wer hatte eigentlich diese bescheuerte Idee? Angefangen hat es ganz harmlos: Wir haben, wie so oft, bei Tiger im Garten gegrillt, weil seine Eltern mal wieder einen spontanen Wochenend-Trip machen und er sturmfreie Bude hat. Leider hält Herr Holzer seine Bar eisern verschlossen, seit wir uns letzten Sommer einmal durch seine kostbaren, im Fass gereiften und Was-Weiß-Ich-Nicht-Wie-Teuren Whiskey-Sorten gesoffen und anschließend auch noch in den Pool gekotzt haben. Sogar Mad Dog war damals dabei, obwohl er ja eigentlich nichts trinkt. Whiskey mit ganz viel Cola passte dann aber dann wohl doch irgendwie in sein Beuteschema.

 

Heute ging uns jedenfalls gegen Mitternacht das Bier aus, Mad Dog´s Tabak war alle und Eule hatte keine Schokolade mehr. Leider gibt es auf dem Land immer noch keine Tanken, die 24 Stunden offen haben. Und bescheuert genug, um angetrunken noch über 30 km mit der 80ziger in die nächste Stadt zu fahren und dort ausgerechnet Bier zu kaufen, waren wir dann doch nicht. Also kam irgendwer auf die Idee, in dem kleinen Kiosk neben dem Schwimmbad zu shoppen. Außerhalb der Öffnungszeiten und ohne zu bezahlen. Neben dem langsam verglühenden Grill, kam mir der Gedanke cool und logisch vor. Jetzt gerade nicht mehr so sehr, aber schließlich bin ich ein Mann und keine Maus. Wir vier Kumpels werden das hier jetzt gemeinsam durchziehen! Jawohl!

 

Wir alle wissen, dass kleine Oberlicht neben der Tür nicht vergittert ist. Kann man ja bei jedem regulären Einkauf leicht sehen.

Wir stehen also alle auf dem gepflasterten Platz vor dem Kiosk, halten jeder einen leeren Rucksack in der Hand und die drei anderen sehen mich auffordernd an. Ich zucke ergeben mit der Schulter und benutze meinen riesenhaften Freund als Leiter. Mit einem Ziegelstein bewaffnet und mit Motorradhandschuhen geschützt, stellt das Fensterchen kein Hindernis dar. Nachdem das Glas zerbrochen ist, greife ich einfach nach innen, öffne die Verriegelung und klappe den Rahmen mit der zerstörten Scheibe weg. Noch ein wenig Hilfe von Mad Dog und ich bin wenige Sekunden später im Inneren des Kiosks.

 

Das bleiche Gesicht von Eule erscheint kurz im Oberlicht, dann wirft er mir die leeren Rucksäcke zu. Rasch räume ich den kompletten Biervorrat aus dem Kühlschrank hinein, lege auch noch ein paar Dosen kalte Cola für Mad Dog dazu und ergänzte das Ganze mit einigen „Kurzen“ aus dem Aufsteller neben der Kasse. Dann schnappe ich mir alle Zigarettenpackungen und die beiden einsamen Dosen mit losen Tabak, die im Regal stehen. Eule brüllt mir von draußen zu, die Schokolade nicht zu vergessen und hat sogar den Nerv, mir zu sagen, ich soll auf jeden Fall etwas von seiner Lieblingssorte mitbringen. Boah, der spinnt wohl, hier auch noch Wünsche anzumelden.

Ergeben werfe ich ein paar Hände voll Süßkram in eine der Taschen und lege kurzentschlossen noch ein paar Packungen Eis am Stiel aus der kleinen Kühltheke zu dem Bier. Erstens bleibt das Gesöff damit schön kalt und zweitens liebe ich Eis.

 

Der Stuhl, der hinter der Theke steht, muss Mad Dogs Räuberleiter ersetzen. Nach nicht mal 10 Minuten bin ich wieder draußen und gemeinsam ziehen wir giggelnd und kichernd wie kleine Mädchen oder wie die betrunkenen Teenager, die wir ja schließlich auch sind, mit unserer Beute ab.

Wie lange wir in der Nacht noch an Tigers Pool gesessen haben und wie ich heim gekommen bin, weiß ich nicht mehr. Nur an den mörderischen Kater, den ich am Sonntag-Nachmittag hatte, als ich endlich aus dem Alkohol-Koma erwacht bin, an den kann ich mich noch erinnern.

 

 

Montag

 

„Ihr reichen, arroganten, geschniegelten Arschlöcher glaubt doch, dass ihr Euch alles erlauben könnt! Aber damit kommt ihr dieses Mal nicht durch! Ich zeige den Bullen die Bilder, und dann wirst Du verknackt. Da kann Dich auch Dein Vater nicht mehr raushauen. Du kommst in den Knast!“

Thomas brüllt nicht, er flüstert. Irgendwie macht das seine Worte noch bedrohlicher. Ich schlucke nervös. Die ganze Aktion war total daneben, das ist mir nüchtern völlig klar. Unabhängig davon ist mein Vater sowieso schon total sauer, weil ich seiner Meinung nach in der Schule nicht genug Leistung bringe und damit mein potentielles Studium an einer Elite-Uni gefährde. Der wird mich umbringen, wenn er von dem Einbruch erfährt. Bis in den Knast komme ich sicher gar nicht mehr. Oder ich bin vielleicht dann froh, dass eine dicke Stahltür hinter mir abgeschlossen wird und mich vor seinem Geschrei rettet. Er bringt mich natürlich nicht wirklich um. Er schlägt mich auch nicht, aber seine Worte können ganz schön hart sein.

 

Plötzlich meldet sich mein Hirn zurück. Ich bin schließlich nicht wirklich doof, bloß faul. „Wieso weiß die Polizei denn noch nichts von den Bildern?“ Die Frage ist ja wohl berechtigt.

Thomas wird knallrot. Seine Fäuste zucken. Er öffnet den Mund und schließt ihn wieder. Dann sagt er doch was: „Arschloch!“

Abrupt dreht er sich um und verschwindet ohne ein weiteres Wort um die Ecke der Halle.

 

Scheiße. Was war das denn? Meine Knie sind nur noch Pudding und ich lasse mich an der Wand entlang nach unten sinken. Für Tennis ist es jetzt sowieso zu spät, aber unentschuldigte Fehlstunden sind im Moment meine geringste Sorge.

 

Ich angele mein Smartphone aus der Sporttasche und informiere meine Kumpels per SMS, dass wir uns umgehend sehen müssen, weil unser „Einkaufsbummel“ aufgeflogen ist. Die drei haben heute Nachmittag keinen Unterricht, das weiß ich sicher, also bestelle ich sie zu mir nach Hause. Dort sind wir ungestört. Unsere Haushälterin arbeitet nur vormittags und meine Eltern sind im Büro. Irgendwie muss der Rubel ja rollen.

 

Eine halbe Stunde später tigere ich auf der Terrasse hin und her und kaue dabei nervös auf meinem Daumennagel herum. Erich hat gesimst, er hätte keine Zeit, weil er angeblich an einem wichtigen Geschichtsreferat sitzt. Dann hat er sein Handy ausgeschaltet. Wahrscheinlich spielt er online irgendein bescheuertes Rollenspiel. Typisch Eule. Vielleicht sollten wir ihn besser „Vogel Strauß“ nennen.

 

Tiger und Mad Dog haben nicht geantwortet, aber gerade eben höre ich den Kies in der Auffahrt knirschen. Die beiden kommen Seite an Seite direkt ums Haus herum und durch den Garten, ohne zu klingeln oder so etwas.  Schließlich sind sie hier so gut wie zuhause. Unsere Eltern besuchen sich immer gegenseitig und wir kennen uns schon aus der Krabbelgruppe.

 

Tobias legt sofort los: „Was heißt hier aufgeflogen? Gibt es etwa verwertbare Zeugenaussagen? Hat uns jemand beobachtet? Oder konnte man Fingerabdrücke finden? Kann man uns was nachweisen?“

Zwar ist mein Vater der Anwalt, seiner ist Architekt, aber Tiger will unbedingt Jura studieren und zieht sich dauernd Gerichts- und Krimiserien rein. Zur Vorbereitung behauptet er. Manchmal merkt man es.

 

Mad Dog sagt nichts. Sein Vater ist Steuerprüfer, da ist Verschwiegenheit wichtig. Wegen seiner Größe und dem Gewicht halten ihn die Leute Matthias manchmal für doof, aber er in Wirklichkeit ist er nur maulfaul. Meistens hat er eh etwas im Mund, entweder Cola, was zu Essen oder halt eine Selbstgedrehte, so wie jetzt gerade. Wortlos lässt er sich auf einen der breiten Teakholzstühle fallen, der prompt unter der Last knirscht. Mit verschränkten Armen wartet er darauf, was ich zu erzählen habe.

 

„Thomas hat mich vor der Tennishalle abgefangen. Er hat im Kiosk seiner Mutter eine Kamera installiert, und auf den Fotos bin ich zu erkennen.“

Meine beiden Kumpel sehen mich betreten schweigend an. Man hört im Hintergrund nur ein paar Grillen zirpen, die unser persönliches Drama völlig unbeeindruckt lässt.

 

„Also weiß er nichts von uns?“ Tiger rennt nun auf der Terrasse hin und her, genau wie ich vor ein paar Minuten. Schließlich bleibt er stehen, verschränkt die Arme vor der Brust und schaut mich mit trotzig erhobenem Kinn an. „Ich werde alles leugnen. Egal was Du sagst!“

Bevor ich auch nur die Chance habe, darauf zu antworten, wirbelt er herum und verschwindet ums Haus herum. Seine hastigen Schritte werden rasch leiser.

 

Mir steht der Mund offen. Damit habe ich nicht im Traum gerechnet. Wir sind seit dem Kindergarten alle durch dick und dünn miteinander gegangen. Ok, dass Eule ein Feigling ist, war klar, aber Tiger? Mein Weltbild kippelt bedrohlich.

 

Mad Dog hat sich keinen Millimeter bewegt, nur die Kippe wackelt in seinem Mundwinkel, wenn er daran zieht. Wir starren uns eine Weile wortlos an, dann nimmt er den Rest seiner Zigarette und drückt sie in dem protzigen Marmor-Aschenbecher aus, den meine Mutter so toll findet.

„Willst Du jetzt auch abhauen?“ blaffe ich, immer noch geschockt davon, dass Tiger mich so schnöde im Stich gelassen hat.

„Nö.“ Mehr kommt erst einmal nicht.

 

Toll. Matthias hat bestimmt kein Sabbelwasser getrunken, das steht fest.

„Warum sind Thomas oder seine Mutter nicht zur Polizei gegangen?“ fragt er ruhig.

„Keine Ahnung! Das verstehe ich auch nicht!“

„Hat Thomas gesagt, was er von Dir will?“ Suchend klopft er sich auf die Hosentaschen. Er braucht eine neue Zigarette.

 

Ich versuche mir die Szene an der Tennishalle in Erinnerung zu rufen. Thomas hat mir gedroht, zur Polizei zu gehen, aber die müsste doch eigentlich längst Bescheid wissen. Der Kiosk hat schließlich auch Sonntags auf, also ist der Einbruch gestern Morgen schon aufgefallen. Und wenn etwas geklaut wird, ruft man doch die Bullen, oder? Vielleicht stimmt das mit der Kamera ja gar nicht, aber wie kommt Thomas dann dazu, ausgerechnet mich zu beschuldigen?

 

„Keine Ahnung, was der will. Er hat mich wüst beschimpft und mit der Polizei gedroht. Dann ist er einfach abgehauen.“

Mad Dog nickt bedächtig mit dem Kopf und entzündet eine neue Fluppe. Er inhaliert mit geschlossenen Augen den Rauch ein und schweigt. Natürlich. Aus Erfahrung weiß ich, dass er so am besten nachdenken kann und es rein gar nichts nützt, ihn jetzt zu zu texten.

Schließlich bläst er einen perfekten Rauchkringel in die Luft. Aha. Denkprozess beendet.

 

„Wenn er bis jetzt noch nicht bei den Bullen war, geht er auch nicht mehr hin.“ Er klingt, als wäre er sich sicher.

„Aber warum nicht?“ Mir will das einfach nicht in den Kopf.

Matthias kneift die Augen leicht zusammen und zuckt die Schulter, als wäre die Antwort so offensichtlich, dass er sie nicht extra aussprechen muss. Leider ist sie mir überhaupt nicht klar.

„Hey Großer, mach den Mund auf. Wenn mein Alter Fotos von mir in Finger bekommt, die mich beim Bierklauen zeigen, rastet der total aus. Dann bekomme ich bis zum Abi keinen Ausgang und kein Taschengeld mehr. Wahrscheinlich zeigt er mich außerdem persönlich an, wenn es ihm nicht doch zu peinlich ist. Schließlich gehört der Kiosk der Gemeinde und er ist im Gemeinderat.“

 

Mad Dog nickt und hebt die Augenbrauen, als hätte ich gerade etwas besonders Schlaues gesagt. Dann endlich fällt auch bei mir der Groschen. Thomas hat noch vier jüngere Schwestern und seine Mutter musste jeden Cent mehrmals rumdrehen, seit sein Vater die Familie im Stich gelassen hat. Sie war total glücklich, als sie den Kiosk von der Stadt mieten konnte, weil sie so endlich etwas dazu verdienen kann, ohne die Kinder alleine zu lassen.

 

Die Mädchen sitzen meist hinten, in dem winzigen Lagerraum und machen Hausaufgaben, malen oder schauen in einen nur DIN A4 großen, alten Fernseher. Sie helfen aber, genauso wie Thomas, auch oft vorne mit, räumen Regale ein oder putzen. Außerdem sind sie, wie fast alle Kinder und Jugendlichen der Gemeinde, im Sommer Dauergast im Schwimmbad, das ja direkt neben dem Kiosk liegt. Thomas musste früher immer auf seine kleinen Schwestern aufpassen, als sie noch jünger waren. Leider hat er sich in letzter Zeit nicht mehr blicken lassen. Ich glaube, dass er neben der Schule eine Job hat, um seine Mutter zu entlasten.

 

Erst als Mattias sich räuspert, wird mir klar, dass sich meine Aufmerksamkeit komplett verschoben hat, sobald in meinen Gedanken Thomas in Badeshorts aufgetaucht ist. Er sieht einfach super aus: Glatte straffe Muskeln und gebräunte Haut, dazu die zu langen Haare, die im Sommer durch die Sonne ausbleichen.

 

Eine Bewegung holt mich ins hier und jetzt zurück. Mad Dog winkt mit eine Hand vor meinem Gesicht herum, schüttelt den Kopf und fragt: „Klar, warum die nichts gesagt haben?“

„Frau Schröder hat Angst, dass sie Ärger mit meinem Vater bekommt, wenn sie den Einbruch meldet und heraus kommt, dass ich daran beteiligt war. Sie will bestimmt auf keinen Fall den Mietvertrag für den Kiosk verlieren und glaubt dass mein Vater im Gemeinderat genau dafür sorgen würde“ äußere ich meine Vermutung. Ganz abwegig ist das leider nicht. Meinem Vater achtet sehr auf sein Image und er reagiert empfindlich, wenn jemand daran kratzt.

 

„Das glaube ich auch“ Matthias nickt zustimmend. Aber er ist noch nicht fertig: „Und was machen wir jetzt?“

„Das was wir eigentlich gestern schon hätten machen sollen: Wir gehen hin, entschuldigen uns und versuchen den Schaden wieder gut zu machen. Auf jeden Fall sollten wir den geklauten Kram und die Scheibe bezahlen, vielleicht kommen wir so wenigstens um eine Anzeige herum.“

Mir ist total schlecht bei dem Gedanken, obwohl ich weiß, dass es das einzig Richtige ist. Das wird ganz furchtbar peinlich werden. Meine geheimen Träume, in denen Thomas eine ziemlich große Rolle spielt, kann ich wohl ein für alle Mal begraben. Er mochte mich ja sowieso noch nie leiden, aber jetzt wird er mich hassen.

 

Mein alter und zurzeit einziger Kumpel Mad Dog dagegen grinst anerkennend. „Ich wusste doch, dass Du ein echter Mann bist, Maus!“

Der Teakholzsessel ächzt erleichtert auf, als sich fast drei Zentner Kampfgewicht erheben. Matthias schlägt mir leicht auf die Schulter und setzt sich in Bewegung. „Komm schon, Micky, auf der Bank war ich eben schon, lass es uns hinter uns bringen.“

Geld ist wirklich nicht unser Problem. 

 

Wir gehen neben einander langsam in Richtung Schwimmbad. Der Parkplatz ist fast leer, weil das Bad montags geschlossen hat. Nur ein paar Autos stehen am Waldrand, vermutlich von Wanderern. Die Touristen sind außerhalb der Badesaison die Hauptkundschaft sowohl für den Kiosk, als auch für einige andere kleine Geschäfte im Ort.

Thomas sitzt mit seinen Schwestern an einem der runden Holztische, die vor dem Kiosk stehen, in der Sonne. Er sieht so gut aus wie immer und mir ist zu Heulen zumute, weil wir nun niemals Freunde werden, egal was ich sage oder tue. Er hat ja schon vorher alle meine Versuche, ihn kennen zu lernen, abgeblockt.

 

Mein Traummann steht auf, als er uns kommen sieht und sagt etwas zu den Mädchen, die daraufhin ohne zu mucken nach drinnen verschwinden. Offensichtlich haben sie ihre Mutter verständigt, denn Frau Schröder tritt vor die Tür und schaut uns mit verschränkten Armen entgegen.

 

Ich spüre, dass ich vor Verlegenheit knallrot anlaufe und versuche verzweifelt, mich zu erinnern, wie man spricht, damit ich mich angemessen entschuldigen kann. Überraschenderweise übernimmt Matthias, der sonst auch gut mal drei Tage gar nichts sagen kann, den Part des Redens.

„Wir haben totalen Mist gebaut, Frau Schröder. Das tut uns schrecklich leid. Wir hätten gestern sofort kommen sollen, um uns zu entschuldigen, obwohl es eigentlich keine Rechtfertigung für unsere Blödheit gibt.“

Mad Dog zückt ein Bündel Scheine. „Das sind 800€. Damit dürfte der materielle Schaden für die gestohlene Ware und das zerstörte Fenster beglichen sein. Wenn es nicht reicht, sagen Sie bitte Bescheid. Wir wissen natürlich, dass es keinen Ausgleich für den Schrecken und den Ärger gibt, den wir Ihnen bereitet haben. Was auch immer Ihnen als Strafe dafür vorschwebt, wir werden es machen.“

Mann, ich wusste gar nicht, dass Matthias so viele Sätze am Stück sagen kann.

 

Mutter und Sohn mustern uns und das Geld eine endlos erscheinende Weile, dann nickt Frau Schröder leicht und nimmt die Scheine an. Mir fällt auf, dass sie die Stirn auf die gleiche Weise runzelt, wie ihr Ältester. Ich weiß das blind, weil ich Thomas schon unendlich oft heimlich beobachtet habe. Jetzt traue ich mich nicht, ihn an zu schauen. Die Verachtung in seinem Blick kann ich nicht ertragen.

 

„Ok war das nicht, was ihr da gemacht habt. Aber damit sind wir Quitt!“ Sie steckt das Geld einfach in die Tasche ihrer Jeans und will sich abwenden, aber Thomas hält seine Mutter am Arm fest.

„Willst Du sie jetzt einfach so davon kommen lassen?“ Er ist immer noch stocksauer und ich kann ihn  verstehen. Ich würde alles dafür geben, wenn ich die Zeit zurück drehen könnte. Seine Mutter aber schüttelt leicht den Kopf und sagt leise etwas zu ihm, dann geht sie in dem Kiosk hinein.

 

Thomas schlendert näher. „Mad Dog und das Mäuschen. Wo sind denn die beiden anderen Spezialisten? Die waren doch sicher mit von der Partie. Sind die nicht Manns genug, sich zu entschuldigen?“ Seine Stimme trieft vor Verachtung.

 

Etwa einen Meter vor uns hält er inne. Die nächsten Worte sind nur ein wütendes Flüstern: „Oder meinen die Beiden, wir drei Schwuchteln würden das irgendwie unter uns ausmachen?“

 

Mad Dog zuckt nicht mal mit der Wimper, während ich spüre, dass meine Gesichtszüge völlig entgleiten und ich nun zur Abwechslung statt knallrot mal leichenblass werde. Meine Lippen fühlen sich taub an, so entsetzt bin ich von dem Gehörten. Niemand, wirklich niemand weiß, dass ich auf Jungs stehe. Auch wenn ich Tiger und Eule bis vor einer Stunde zu meinen besten Freunden gezählt habe, bin ich nie auf die Idee gekommen, ihnen zu erzählen, dass mich Gerede über Mädchen anödet und ich die Hetero-Pornos, die Tiger immer aus dem internet runterläd entweder widerlich oder gähnend langweilig finde. Die, die ich mir runterlade, schaue ich lieber alleine an, weil ich dabei dann entspannt oder vielleicht besser gesagt „zur Entspannung“ Hand anlegen kann.

 

Weil ich schon wieder völlig in Gedanken bin, trifft mich der Ellbogen von Matthias unerwartet in die Seite. Bedeutungsvoll schaut er mich an. Plötzlich verstehe ich zum ersten Mal wirklich, was Thomas da gerade gesagt hat: … wir drei Schwuchteln? Hallo??? Ist er etwa auch…? Und … Mad Dog???

Ich schaue zwischen den beiden hin und her und kann nicht fassen, was mir da gerade enthüllt worden ist.

 

Thomas schimpft weiter leise vor sich hin und Mister Maulfaul grinst. Genau dieses irre Lächeln hat ihm seinen Spitznamen eingebracht. Ok, das und ein paar andere Stunts.

Dann hebt er die Hand. Allein wegen seiner Größe wirkt das schon gebieterisch. „Halt jetzt mal den Rand, Thomas. Nur zur Info: Auch wenn ich hin und wieder eine Schwulen-Bar besuche, stehe ich eigentlich eher auf Miezen. Aber unser Maus hier, der ist schon seit Monaten scharf auf Dich. Vielleicht solltet ihr Euch mal aussprechen. Von Mann zu Mann. Oder meinetwegen von Mann zu Maus.“

 

In aller Seelenruhe fummelt er sich dann eine selbstgedrehte Zigarette aus der Hosetasche, zündet sie an, nickt uns noch einmal zu und verschwindet in Richtung Dorf. Nur leichter Rauchgeruch bleibt zurück.

 Thomas und ich schweigen beide. Mad Dog ist eine Naturgewalt. Ich hatte ja immer schon den Verdacht, dass nichts mehr wächst, wo er einmal zugeschlagen hat, wusste allerdings nicht, dass er Worte noch treffsicherer einsetzen kann, als seine großen Pranken.

 

Nach einer gefühlten Ewigkeit schauen wir uns an. Thomas´ graublauen Augen funkeln belustigt und sein Mundwinkel hebt sich ein wenig: „Du bist echt scharf auf mich?“

Ich schlucke und nicke dann zögernd. Oh, Mann, ist das peinlich. Jetzt wäre ich gerne eine echte Maus und würde mich in einem kleinen Loch verkriechen. So hatte ich mir ein Gespräch mit Thomas echt nicht vorgestellt.

Dann fragt er: „Und mit Mad Dog läuft nichts?“

 

Endlich fällt meinem Kehlkopf wieder ein, wie man Worte bilden kann: „Was? Wie kommst Du den auf so etwas?“

Thomas zuckt mit der Schulter und malt mit der Fußspitze die Muster der Pflastersteine des Parkplatzes nach. „Ich habe irgendwie immer gehofft, dass Du am gleichen Ufer fischst wie ich. Und eine Freundin hattest Du nie. Als ich dann Matthias mal in einer Schwulenbar gesehen habe, war für mich klar, dass ihr zusammen seid.“

Seine Mine verdunkelt sich plötzlich. „Würde ja auch passen. Schließlich habt ihr beide reiche Eltern und kennt euch schon ein Leben lang. Außerdem hängt ihr dauernd zusammen ab. Von uns Normalos kommt doch in eure Elite-Clique sowie keiner rein.“

 

Er dreht sich um und will gehen. Rasch greife ich nach seinem Arm.

„Warte mal. So ist das doch gar nicht. Wir kennen uns einfach schon ewig und haben als Kinder immer miteinander gespielt, weil unsere Eltern halt befreundet waren“ sprudelt es aus mir heraus. „Aber jetzt bin ich erwachsen und suche mir meine Freunde selber aus. Ich habe doch mehr als einmal versucht, Dich an zu quatschen, aber Du hast immer abgeblockt.“

Dann sage ich etwas, von dem ich noch gestern nie gedacht hätte, dass ich den Mut dazu habe: „Ich bin schon lange in Dich verknallt!“

 

Thomas sieht mich verblüfft an. Dann erscheint langsam ein kleines Lächeln auf seinem Gesicht. „Warum das denn?“

Blöde Frage, denke ich du spreche es dann auch aus: „Blöde Frage! Du siehst einfach klasse aus, bist richtig gut in der Schule und hilfst Deiner Mutter und Deinen kleinen Schwestern, wo Du kannst. Wie soll man Dich da nicht lieben?“ 1A. Erst bekomme ich die Zähne nicht auseinander und dann lege ich ihm mein Innerstes zu Füssen. Bei soviel Dummheit brauche ich weder Abitur noch eine Elite-Uni, sondern nur noch einen Besen und ein Kehrblech um die Scherben zusammen zu kehren, die Thomas gleich aus meinem Herzen machen wird.

 

Unerwartet strahlt er statt dessen übers ganze Gesicht. Mürrisch ist er ja schon eine Wucht, aber unter diesem Lächeln schmelze ich dahin. Ganz zaghaft erhebt die Hoffnung ihr Haupt. Ich muss schlucken und versuche das heiße Ziehen in meinem Magen zu ignorieren. Meine zitternden Finger wollen unbedingt durch seine wirren Haare streichen und meine Nase möchte sich in seine Halsbeuge graben, um zu testen, ob er so wundervoll riecht, wie ich es mir immer ausgemalt habe.

 

„Weißt Du was Maus? Ich finde, dass Du ein toller Mann bist!“ Mein Herz geht bei diesen Worten weit auf und ich fühle mich besser als je zuvor in meinem Leben. Thomas legt eine Hand in meinem Nacken und zieht mich ganz langsam zu sich heran. Unsere Lippen treffen sich und das Gefühl ist unglaublich.

 

Ich kann nicht anders, ich dränge mich ganz eng an ihn heran und umrahme sein Gesicht mit meinen Händen. Der Kuss wechselt von zärtlich zu verlangend, als sich unsere Zungen treffen und erst ungeschickt, dann immer wilder miteinander spielen.

Atemlos müssen wir schließlich aufhören und stehen in wortlosem Staunen beieinander. Ich spüre seine Wärme und rieche sauberen Schweiß und Shampoo. Endlich darf ich mit den Fingern durch seine Haare streicheln. Mein Herz jubiliert. Ich bin einfach glücklich. Es ist toll, ein Mann zu sein.

 

 

Ein Jahr später:

 

Natürlich haben nicht alle gut aufgenommen, dass Thomas und ich zusammen sind. Meine Eltern waren am Anfang entsetzt. Überraschenderweise hat sie weniger gestört, dass ich einen Jungen mag, als das er nicht „aus den gleichen Kreisen“ kommt. Zum Glück hat Thomas aber seine eigene Art mit solcher Arroganz umzugehen. Nachdem er zuerst meine Mutter mit einer Mischung aus Höflichkeit und frechem Charme um den Finger gewickelt hat, konnte auch mein Vater seinen Widerstand nicht länger aufrecht erhalten. Inzwischen mögen die beiden Thomas wirklich.

 

Tiger und Eule reden nicht mehr mit mir. Nach der Nummer, die sie sich geleistet haben, ist das in meinen Augen kein echter Verlust .

 

Mad Dog hat eine Freundin. Ich habe keine Ahnung wie sie wirklich heißt, weil alle sie Muschi nennen und sie den Namen anscheinend mag. Sie hat sich so vorgestellt. Muschi ist 1,54m und wiegt nicht mal 45kg. Ich will mir nicht wirklich vorstellen, wie sie und dieser schwere Riese Matthias… Lassen wir das lieber…

 

Auch wenn wir mittlerweile schon ein Jahr zusammen sind, habe ich jedes Mal Herzklopfen vor Glück, wenn ich Thomas nur sehe.

 

Als Entschädigung für den Ärger und als persönliche Entschuldigung haben Mad Dog und ich am Samstag nach dem Einbruch den Kiosk neu gestrichen. Frau Schröder war das erst peinlich. Sie hat darauf bestanden, dass Thomas uns hilft.

Abends haben wir alle zusammen ein Bier getrunken. Nur eins, danach höre ich jetzt immer auf. Dann ist Frau Schröder mit den Mädchen heim gegangen, Mad Dog hat was von „Zigaretten holen“ gemurmelt und ist verschwunden. Thomas und mir ist erst Stunden später aufgegangen, dass er die leicht auch aus dem Kiosk bekommen hätte, schließlich war noch nicht abgeschlossen.

 

Aber wenn man frisch verliebt ist, konzentriert man sich halt auf das Wesentliche. Den nächsten Kuss zum Beispiel.

 

 

Impressum

Texte: C.J. Rivers
Bildmaterialien: BookRix
Tag der Veröffentlichung: 12.02.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Die Geschichte ist der Gruppe Gay Kiss gewidmet. Ich liebe die Bücher, die in den Wettbewerben entstehen und die Gruppe inspiriert mich. Leider entwickeln meine Geschichten immer ein Eigenleben und laufen am Thema des Wettbewerbs vorbei. Die admin war so nett, den Beitrag trotzdem anzunehmen. Mal schauen, ob ich irgendwann was schreibe, das in die Vorgaben passt...

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