Wohin gingen sie, … die Träume? Wohin verschwanden die nächtlichen Phantasien, wenn der Morgen graute und die Realität unbarmherzig die Klauen in jedes vernunftbegabte Wesen schlug? Was war mit all den Wünschen, Hoffnungen und kleinen Fluchten aus dem Alltag? Wo waren sie geblieben? Pandora Whitling wusste es nicht und vielleicht würde sie es auch nie mehr in Erfahrung bringen, denn sie hatte es getan.
Zehn Minuten hatte es gebraucht. Zehn Minuten, die über das Schicksal eines ganzen Planeten entschieden. Die Sekunden, die von ihrer Ankunft an dem Trinkwasserstausee, bis zu dem Moment vergingen, in dem sie die unscheinbar aussehende Phiole öffnete, waren ihr wie eine Ewigkeit erschienen. Eine Ewigkeit, in der sie noch einmal alles überdenken, sich anders entscheiden konnte, … doch das tat sie nicht. Viel zu lange hatte sie an das Gute in den Menschen geglaubt. Daran, dass sie sich ändern konnten und alles wieder ins Lot kam, doch in den letzten Jahren hatte sie eingesehen, dass das nur Wunschträume waren, die sich niemals erfüllen würden. Dass der Mensch immer der größte Feind des Lebens bleiben würde – falls man ihn nicht stoppte.
Die Hand, in der sie das Gefäß mit der unscheinbaren, klaren Flüssigkeit hielt, zitterte leicht, während der Sturmwind an ihren Haaren zerrte und Regentropfen über ihr Gesicht rannen. Ihre Gedanken glitten zurück in die Vergangenheit – in eine Zeit, in der sie jung und enthusiastisch ihre Forschungen vorangetrieben hatte. In der sie einen Sinn in ihrem Tun sah und die Hoffnung hegte, sie könnte den Lauf der Dinge beeinflussen. Heute wusste sie es besser. Die Menschen würden sich nicht ändern. Sie würden weiter Kriege führen, bedenkenlos töten, Andersdenkende ausgrenzen und eine Spur der Verwüstung hinterlassen. Es lag einfach in ihrem Blut.
Schon jetzt ächzte die Erde unter der Last der Überbevölkerung, den Folgen des Klimawandels, den keiner sehen wollte und der Tatsache, dass es niemanden gab, der sie schützte. Nur Pandora war da. Nur sie erkannte das stille Leid allen Lebens und den Fakt, dass nur sie es ändern konnte. Es lag allein in ihrer Hand.
Ihre Finger zitterten immer stärker, während sie den Tod in Händen hielt und das Gefäß immer weiter kippte. Noch vor wenigen Monaten hatte sie sich nicht einmal vorstellen können, dass es möglich wäre, das Angesicht eines ganzen Planeten zu verändern – doch jetzt …
Der erste Tropfen der Flüssigkeit traf die Wasseroberfläche, … danach ein zweiter. Pandora seufzte leise. Jetzt war es nicht mehr aufzuhalten. Die Würfel waren gefallen. Ein letztes Schaudern erfasste ihren schlanken Körper in dem warmen Mantel, bevor sie die Phiole umdrehte und den Inhalt ins Wasser schüttete. Sie wusste, dass bereits in diesem Moment die Teilung begann. Dass die Viren bereits aktiv wurden und sich mit jeder lebenden Zelle im Wasser verbanden. Innerhalb einer Stunde würden sie sich verdoppelt haben, in zehn Stunden bereits eine Zahl erreicht haben, die jenseits ihres Vorstellungsvermögens lag. Und sie würden damit beginnen, das Angesicht der Erde zu verändern. Vielleicht würde es Tage dauern, vielleicht Wochen oder Monate – aber es würde geschehen.
Der Regen hatte in der Zwischenzeit aufgehört und die Sonne kam hinter dunklen Wolkenbänken hervor. Ein Hoffnungsschimmer, in einer Welt, die dabei war, aus den Fugen zu geraten. Wärmende Strahlen trafen die einsame Gestalt am Ufer des Sees und ein Regenbogen erschien am Horizont. Alles wirkte so unschuldig und ruhig, doch Pandora wusste, dass es nicht so war. Dass die Flüssigkeit, die sie auf die Welt losgelassen hatte, tödlich war. Nicht für alle, … aber für sehr, sehr viele Lebewesen, würden die nächsten Tage die letzten sein und noch ahnte niemand etwas. Die Menschen gingen ihrer Arbeit und ihren Interessen nach – fühlten sich sicher. Das böse Erwachen würde sie treffen, wenn der Umbau der Zellen sie traf – wenn die dann von den Viren verändert wurde. Sie waren darauf programmiert, Leben zu erschaffen, doch dabei würden sie auch töten …
Pandora starrte auf die Glasphiole in ihrer Hand. Ein einzelner Tropfen klebte am Rand des Glases, funkelte im hellen Sonnenlicht – betörend, lockend und unschuldig. Vorsichtig nahm Pandora ihn mit ihrem Finger auf. Sie wusste, dass bereits in diesem Moment einige Viren durch ihre Haut in das Innere ihres Körpers wanderten, dass sie es nicht mehr verhindern konnte, von der Veränderung ergriffen zu werden. Nur eine winzige Sekunde empfand sie so etwas wie Bedauern. Nur für ganz kurze Zeit dachte sie an all das Schöne, das dieser Planet hervorgebracht hatte, … an Träume, an Liebe und all die warmen Gefühle, die sie früher empfunden hatte. Sie träumte schon lange nicht mehr …
Ein entschlossener Ruck lief durch die schmale Gestalt und im gleichen Moment frischte der Wind ein weiteres Mal auf, brachte Kälte mit sich, die Pandora nicht nur äußerlich empfand. Sie hob die Hand und leckte den letzten, verbliebenen Tropfen von ihrem Finger. Grenzenlose Ruhe umfing sie und das Wissen, dass sie das richtige getan hatte …
Dienerin
3231 Jahre später:
„Shan!“ Shanaya versuchte die nervtötende Stimme auszublenden, doch dieses Mal wollte es ihr nicht so recht gelingen. Erst recht nicht, da Wanja einfach keine Ruhe geben wollte. „Shan, jetzt komm endlich. In zehn Minuten beginnt die Versammlung im großen Saal. Bist du denn gar nicht aufgeregt?“
Shanaya sah von ihren Unterlagen auf und musterte Wanja mit einem Blick, der wohl besagen sollte, dass sie nicht wüsste, warum sie aufgeregt sein sollte. Immerhin bestellte man die Elevinnen nur in die Tempelhalle, um sie mit Verfehlungen und Tadeln zu überhäufen, oder ihnen neue Benimmregeln nahezulegen, die ihnen das Leben an der Seite ihrer zukünftigen Herren erleichtern sollten. Und auf beides konnte Shanaya sehr gut verzichten. Außerdem hatte sie gerade ein interessantes Buch über die Vergangenheit gefunden. Eines, dass ihr helfen würde, die Artefakte die letzte Woche eingetroffen waren, besser zu verstehen.
Shanaya seufzte, weil sie genau wusste, dass ihr nichts anderes übrigblieb, als dem Ruf der Servants zu folgen. Sollte sie sich weigern und nicht in der Halle erscheinen, würde man sie holen kommen und das hatte immer auch eine Strafe zur Folge. Ärgerlich klappte Shanaya die Aufzeichnungen zu und erhob sich von ihrem harten Schemel.
„Ich weiß überhaupt nicht, warum du so nervös bist, Wanja. Außer einer langweiligen Predigt, was sich gehört und was nicht, wird uns vielleicht maximal noch etwas darüber erzählt werden, wie die Zeremonie in der nächsten Woche abläuft und das haben wir bestimmt schon tausend Mal über uns ergehen lassen. Nichts, auf das ich besonders neugierig wäre.“
Wanja krallte ihre schlanken Finger in Shanayas Arm und diese konnte sich nur mit Mühe davon abhalten, einen lauten Fluch auszustoßen, weil es hart an der Grenze zum Schmerz war. Aber Fluchen war verboten und in diesem Haus hatten die Wände Ohren – leider. Vor drei Jahren hatte sie sich bei der Gartenarbeit in den Finger geschnitten und hatte ein paar üble Worte benutzt, um ihrem Ärger Luft zu machen. Auch weil sie dabei ihre einzige Schürze beschmutzt hatte. Keine fünf Minuten später hatte sie bei der obersten Tempelvorsteherin erscheinen müssen, um sich die Strafe für ihr ungebührliches Verhalten abzuholen. Zwei Tage hatte niemand ein Wort mit ihr sprechen dürfen. Zwei Tage, die Shanaya wie eine Ewigkeit erschienen waren, hatte man sie von den anderen isoliert. Das war schlimmer für sie gewesen, als wenn man sie gepeitscht hätte und sie dachte noch heute mit Schaudern an diese Strafe zurück. Und auch an die anderen, die gerne verhängt wurden, wenn eine Elevin nicht tat, was man von ihr verlangte. Dabei war der Rohrstock noch sehr harmlos und durchaus steigerungsfähig.
Während Shanaya Wanja durch die zahlreichen Gänge bis zur großen Halle folgte, schweiften ihre Gedanken ab. Der Tag ihres zwanzigsten Geburtstages rückte immer näher und somit auch der Tag, an dem man sie einem fremden Mann übergeben würde – einem hochstehenden Mann, der der Kriegerkaste angehörte. Sie würde seinem Haushalt vorstehen, sein Lager teilen und seine Kinder gebären. Sie selbst besaß kein Mitspracherecht, kein gebärfähiges Mädchen tat das.
Nach dem großen Schrecken, bei dem mehr als die Hälfte aller Menschen starb und ein weiteres Viertel sich in namenlose Schrecken wandelte, waren viele Frauen unfruchtbar geblieben. Es hatte Jahre gedauert, bis man herausfand, dass nur noch ganz bestimmte Frauen fruchtbar waren und diese Frauen waren dazu bestimmt, ihre Art zu erhalten. Bis zu ihrem zwanzigsten Geburtstag wurden sie in Tempeln erzogen. Man schirmte sie von allen Männern ab und brachte ihnen bei, was in ihrem späteren Leben von ihnen erwartet wurde. Sie waren nicht viel mehr als Gebärmaschinen und mussten sich fügen. Taten sie es nicht, war ihnen der Tod gewiss.
Shanaya stieß einen leisen Seufzer aus. Sie wäre viel lieber ein Mann geworden – ein Wissenschaftler, der nach Altertümern suchte und sie entschlüsselte. Das war es, was ihr gefallen würde. Shanaya konnte sich nicht vorstellen, dass ihr neuer Herr ihre Forschungen dulden würde. Er würde sie belächeln und sie zwingen, sich anderen Dingen zuzuwenden. Auf keinen Fall würde er es dulden, dass sie forschte und ihre Sprachstudien weiter vorantrieb. Dabei stand sie ganz kurz davor den endgültigen Übersetzungsschlüssel zu den alten Büchern zu finden, die in den Kellergewölben des Tempels luftdicht lagerten.
Schon sehr früh hatten die Servants ihr unglaubliches Talent für Sprachen entdeckt und es war Moira, die sie bei ihren Forschungen unterstützen durfte. Die ältliche Dienerin hatte das Glück, zu den unfruchtbaren Frauen zu gehören und so hatte man sie gemäß ihren Anlagen unterrichtet. Sie gehörte dem erlauchten Kreis der Wissenschaftler an. Zu gerne wäre Shanaya diesem Weg gefolgt, doch leider würde sie andere Pflichten haben. Pflichten, die keinesfalls ihren Intellekt forderten, sondern nur ihren Körper.
„Jetzt trödele nicht so rum, Shan! Wir haben nur noch zwei Minuten und ich höre bereits die Glocken. Sie läuten die alte Bell, also muss es sich um etwas Wichtiges handeln. Etwas …“
Shanaya erschrak zutiefst. Das letzte Mal hatte man im Tempel die große Glocke geläutet, als ein Todesurteil verkündet wurde und da war Shanaya noch sehr klein gewesen. Sieben Sommer hatte sie gezählt und auch damals musste sie anwesend sein. Sie konnte sich noch genau daran erinnern, wie sehr sie geweint hatte, wie viel Angst sie hatte, als man ihnen die Verfehlungen vorlas und das Urteil mitteilte. Noch schlimmer war es am Tag der Hinrichtung gewesen, denn egal wie alt die Einwohner von Panaluna waren, … bei einer öffentlichen Tötung mussten alle anwesend sein. Ebenso, wenn man der Delinquentin das Gedächtnis nahm. Es diente zur Abschreckung und sollte allen zeigen, dass es für böse Taten kein Mitleid gab. Dass die Krieger bereit waren, das Gesetz von Panaluna mit eiserner Hand zu verteidigen. Seltsamerweise waren es immer nur Frauen, die bestraft wurden – niemals Männer. Anscheinend waren die frei von Fehlern und begingen keine bösen Taten. So genau konnte Shanaya das nicht sagen, denn bisher kannte sie keine Männer. Im Tempel wurden die Mädchen von weiblichen Servants ausgebildet. Männer hatten dort keinen Zutritt und bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen Shanaya einem Krieger begegnet war, hatte sie sittsam den Kopf gesenkt und war schnell an ihnen vorbeigehuscht. Was wohl auch daran lag, dass Shanaya die riesigen, finster aussehenden Kerle nicht geheuer waren und sie sich sehr unwohl in deren Nähe fühlte.
An all das dachte Shan, als sie keuchend die letzte Säule umrundete und mit Schlag des letzten Glockenklangs in den Saal huschte, bevor die großen Türen sich auf geheimnisvollem Weg hinter ihr schlossen. Wanja und sie waren bemüht, keinen Laut zu verursachen, während sie sich auf ihre Plätze begaben. Sie waren die Letzten und fielen alleine schon dadurch auf, dass sie sich keine Mühe gegeben hatten, vor der Zeit zu erscheinen. Shan spürte förmlich, wie sich die Blicke der Tempelvorsteherin in ihren Rücken bohrten. Ein mehr als unangenehmes Brennen machte sich zwischen ihren Schulterblättern breit und ihr Magen flatterte nervös. Von einer Elevin, die in den nächsten Wochen ihrem Mann übergeben wurde, erwartete man ein tadelloses Verhalten. Während man bei den jüngeren Mädchen noch alle Augen zudrückte und gewisse Dinge übersah, ahnte Shan, dass sie sich gerade zumindest einen Tadel eingehandelt hatte, wenn nicht Schlimmeres.
„Oh, … bei Pandora! Siehst du das?“ Wanja stupste Shan unsanft den Ellbogen in die Rippen. Schau nur! Es ist Neva! Sie führen Neva auf die Bühne.“ Die letzten Worte schluchzte Wanja bereits, denn dort oben auf der großen Empore erschienen zwei bullig aussehende Kerle aus der Wächterkaste, die eine junge Frau in Ketten hinter sich her schleiften. Shanaya kniff die Augen zusammen, denn es war ihr kaum möglich, in der geschundenen Gestalt Neva zu erkennen. Neva, deren goldglänzendes, langes Haar normalerweise bis auf die Hüften reichte und die das Gesicht einer Göttin hatte. Die Kreatur, die dort oben auf der Bühne stand, konnte unmöglich ihre beste Freundin sein. Nie und nimmer.
Man hatte der jungen Frau eine Glatze geschoren, die Wangen zeigten sich so verschmutzt, dass man kaum noch die helle Haut erkennen konnte und ein Auge war vollkommen zugeschwollen. Die Lippen waren aufgeplatzt und schorfig und die vor Schmutz starrende Kutte schlotterte um eine Gestalt, die mehr Ähnlichkeit mit einem Skelett hatte, als mit der strahlenden Schönheit, die Shanaya kannte. Schlagartig wurde ihr übel. An der Art wie die Gestalt sich bewegte, erkannte sie …
„Neva, …“, hauchte sie entsetzt, während ein Raunen durch den Saal strich – wie ein Windhauch so leise. Anscheinend hatte nicht nur sie Neva erkannt.
Neva war unter den Elevinnen sehr beliebt gewesen, bis sie im letzten Jahr den Tempel verlasse hatte, um ihrem Krieger übergeben zu werden. Keine Elevin wusste, bei wem sie am Ende landen würde. Die Gebote wurden geheim abgegeben, die Spenden, die der Tempel für das jeweilige Mädchen erhielten, unterlagen der Geheimhaltung. Shanaya konnte sich daran erinnern, dass Neva einem besonders gutaussehenden Krieger überantwortet wurde. Einem Mann mit braunen Haaren, wundervollen smaragdfarbenen Augen, aber einem harten Zug um den Mund. Shan erinnerte sich auch daran, dass ihr in diesem Moment ein Schauer über den Rücken gelaufen war. Neva war ein Mädchen, das gerne lachte und Frohsinn verbreitete, wohin sie auch ging. Der Krieger, der sie erwählte, sah leider nicht so aus, als ob er diese Charaktereigenschaften zu schätzen wissen würde. Und jetzt waren sie hier. Wie das Urteil lauten würde, war Shanaya bereits in diesem Augenblick klar. Jede anwesende Elevin wusste, was dieser Auftritt hier zu bedeuten hatte. Die große Göttin würde die Strafe festlegen und was auch immer Neva verbrochen hatte, es würde entweder damit enden, dass sie starb, oder man ihr ihre Erinnerungen nahm – an alles.
Das Licht im großen Versammlungssaal begann zu flackern und Shanaya hielt automatisch die Luft an. Gleich würde sie erscheinen – die Göttin, der sie alle ihr Leben geweiht hatten und die über jedes Lebewesen zu Gericht saß. Niemand wusste wer sie war. In uralten Schriften hieß es nur, dass die Göttin in den dunkelsten Stunden der Menschheit auftauchte und ihnen einen neuen Weg wies – einen Weg, wie sie überleben konnten.
Das Flüstern im Saal schwoll an, als die ranghöchste Servant vortrat und salbungsvoll den Gruß an die Gottheit formulierte. Shanaya hatte ihn erst ein paar Mal vernommen, doch niemals hatte sie ihn scheußlicher gefunden, als an diesem Tag. Wanja schien ebenso zu empfinden, denn sie griff nach Shan’s Hand und drückte diese so fest, dass es schmerzte. Shanaya spürte, wie sich die Nägel der Freundin in ihre Haut gruben. Doch Shanaya konnte es ihr nicht verdenken. Nicht in Anbetracht der Tatsache, dass es Neva war, die sich heute dem göttlichen Urteil stellen musste.
Plötzlich erlosch das Licht ganz und es wurde stockfinster in der riesigen Halle. Es war auf einmal so leise, dass Shanaya glaubte, jeder der hier Anwesenden müsste ihr Herz hören, das hart gegen ihre Rippen trommelte. Und es wurde immer schlimmer, denn jetzt flimmerte es auf der großen Empore und über den Köpfen von Neva und ihren Bewachern erschien sie – die Göttin. Ein wunderschönes Frauengesicht, so durchscheinend, dass man die Säulen des Tempels hinter ihr erkennen konnte. Lange, braune Haare rahmten ihr Gesicht ein und ihre Augen glühten in einem feurigen Bernsteinton. Shanaya schaffte es einfach nicht, die mächtige Erscheinung lange anzuschauen. Der Blick der Göttin raste durch ihren Körper und versetzte sie in Angst und Schrecken – erst recht, als die melodische Stimme erklang.
„Ihr habt mich gerufen? Wieso stört ihr meine Ruhe?“
Es waren immer die gleichen Worte. Auch beim letzten Mal hatte Shanaya sie gehört, doch dieses Mal bekam sie eine Gänsehaut. Nur noch wenige Minuten, dann würde das Urteil gesprochen. Neva blieben nur noch wenige Minuten, bis …
Nevas Besitzer, der Krieger, der sie vor einem Jahr in seinen Haushalt aufgenommen hatte, trat vor und Shanaya spürte, wie ihr eine Träne über die Wangen tropfte. Vorsichtig wischte sie sie fort. Solche Emotionen wurden im Tempel nicht geduldet. Tränen gehörten der Göttin und nicht ihr.
„Ich klage diese Frau an, für die ich dem Tempel eine nicht unerhebliche Summe spendete und die ich in meiner Großmut in mein Haus holte. Sie ist überheblich, sie weigert sich, mir ein Kind zu gebären und zum guten Schluss hat sie einem Fremden beigelegen. Sie schenkte ihren Körper einem Verbrecher, der nicht den Gesetzen von Panaluna folgt und jetzt trägt sie sein Kind unter dem Herzen. Ich will, dass sie die härteste Strafe erhält.“
„Du hast nichts zu wollen, Bran. Du hast zu bitten und zu hoffen, dass die Göttin dein Anliegen prüft und eine Entscheidung fällt.“ Die Stimme der obersten Servant donnerte dem Mann entgegen und tatsächlich, … Shanaya erkannte, wie er vorsichtig einen Schritt zurücktrat und die Augen zu Boden schlug. Plötzlich wirkte er gar nicht mehr so angsteinflößend, wie zuvor. Viel schlimmer war die Anklage, die er vorgebracht hatte. Shan wusste genau, dass es darauf nur eine Antwort geben konnte. Dass nur ein Urteil infrage kam. Ganz kurz hatte sie gehofft, dass man Nevas Gedächtnis löschen würde und sie zu einem Bauern schickt. Sie würde sich dann zwar an nichts mehr erinnern können und ein beschwerliches Leben führen, doch zumindest würde sie leben. Doch auf diese Anklage gab es nur ein Urteil. Das war jeder anwesenden Elevin klar. Neva würde sterben – vor ihrer aller Augen. Man würde sie in die Arena schaffen und dort musste sie um ihr Leben kämpfen. Ein Gottesurteil, das bisher noch nie jemand überlebt hatte. Zumindest konnte sich Shanaya nicht an einen solchen Fall, an ein solches Wunder erinnern.
„Du erhebst schwere Anschuldigungen, Krieger!“ Die Stimme der Gottheit donnerte mit einer Kraft durch den Saal, dass Shanaya sich am liebsten die Ohren zugehalten hätte, doch das durfte sie nicht. Sie war gezwungen, den endgültigen Worten zu lauschen. Dem schrecklichen Ende ihrer besten Freundin beizuwohnen.
„Ich versichere dir, dass jedes meiner Worte die reine Wahrheit ist, Göttin. Diese Frau hat alle Dämonen der verbotenen Zone im Leib. Sie ist es nicht wert, meine Gefährtin zu sein. Ihr Verrat hat meine Ehre und mein Heim beschmutzt. Sie hat deinem Namen und dem Tempel Schande gemacht.“ Bran trat wieder vor, um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen. „Natürlich obliegt die Entscheidung dir, Göttin. Doch ich bezeuge hier vor allen Anwesenden, dass ich diese Frau verstoße. Sie ist in meinem Haus nicht länger willkommen.“ Dabei spuckte er Vor Nevas Füße, doch diese hatte nicht einmal mehr die Kraft, den Kopf anzuheben. Man hatte sie gefoltert, ihre Würde war ihr genommen worden und zum guten Schluss würde die Göttin ihr Leben einfordern. Jetzt war es Shanaya, die Wanjas Hand so heftig drückte, dass diese ein leises Keuchen von sich gab.
„Du hast Recht getan, Bran. Die Verfehlungen dieser Dienerin sind jenseits dessen, was ich dulde.“ Shanaya lief ein Schaudern über den Rücken und die Kälte, die sich in ihrem Inneren ausbreitete, war schlimmer als alles, was sie bisher gefühlt hatte. Die Stimme der Göttin hatte jetzt einen so stählernen Klang, dass kein Zweifel mehr an dem Urteil aufkommen konnte. Neva würde sterben.
„Hast du noch etwas zu sagen, bevor ich den Richtspruch über dir verhänge, Angeklagte?“ Shanaya beobachtete, dass Neva verzweifelt versuchte, den Kopf zu heben und wie Blut aus einer frischen Wunde an ihrer Lippe perlte. Dann jedoch straffte die Freundin die schmalen Schultern und richtete sich auf. Ihr Blick glitt über die Elevinnen und die Servants. Zuerst konnte Shan kaum verstehen, was sie sagte, doch dann wurde die geliebte Stimme immer lauter.
„Ich habe keinen Fehler gemacht! Wenn es ein Fehler ist zu lieben, dann bin ich schuldig, doch in meinen Augen ist der größte Fehler nicht die Liebe, sondern das Schweigen. Ich bin diesem Mann gegeben worden – gegen meinen Willen. Ich habe ihn nicht erwählt. Ich …“ Es klatschte laut und vernehmlich, als einer der Wächter Neva eine Ohrfeige versetzte. Der Kopf ihrer Freundin flog nach hinten und Shan wimmerte leise. Ihr war so, als hätte der Schlag sie selbst getroffen. Neva hatte Mut bewiesen, doch es war von vornherein klar gewesen, dass man sie nicht frei sprechen lassen würde. Niemand legte Wert darauf, dass sie im Tempel aufrührerische Reden hielt – erst recht nicht die Servants.
„Du bist rebellisch, du spottest den Regeln, die das Leben der Menschheit sichern und du bist nicht bereit, der Gemeinschaft zu dienen wie es dir bestimmt wurde. Du hast deinen Herren verraten und dein eigenes Wohl über das aller gestellt – für diese Verfehlungen kann es nur eine Strafe geben. Übermorgen wirst du die Arena betreten und um dein Leben kämpfen. Solltest du gewinnen, wirst du aus der Stadt verbannt und keine andere wird dich aufnehmen. So habe ich es beschlossen und so soll es geschehen.“ Das liebliche Frauengesicht flackerte kurz auf und verschwand. Beinahe zeitgleich ging das Licht in der Halle wieder an. Doch all das nahm Shanaya nicht mehr wahr. Sie schaute Neva an und versuchte sich ihr Gesicht einzuprägen. Bald würde ihre Freundin heimgehen und in Shans Brust nur Leere zurückbleiben.
Texte: Eyrisha Summers
Bildmaterialien: Pixabay
Cover: Eyrisha Summers
Tag der Veröffentlichung: 28.09.2020
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Ich widme dieses Buch allen Lesern, die das Phantastische lieben. Die gerne in fremde Welten eintauchen und dabei alles um sich herum vergessen können. Folgt mir in Shanayas Welt. Sie ist düster, sie ist gefährlich und doch strahlt am Ende das Licht der Liebe heller als jeder Stern.