Inhalt
Anmerkung der Übersetzerin 6
Danksagungen 7
Einleitung 10
Teil I Das Problem verstehen 23
1 Nichts ist jemals gut genug 25
2 Drei problematische Ehen 39
3 Die unbewusste Partnerschaft 60
4 Fehlende Selbstannahme wurzelt in der Kindheit 80
5 Sich selbst ablehnen - Liebe ablehnen 112
Teil II Die Lösung 137
6 Partnerschaft - wissenschaftlich betrachtet 139
7 Liebe annehmen lernen 154
8 Kontakt, Beziehung und Verbundenheit herstellen 172
9 Eine neue Wende in unserem Leben 190
Teil III Übungen 217
Übung 1 Das Geschenk-Tagebuch 220
Übung 2 Der Imago-Dialog 224
Übung 3 Verschiedene Arten des Wahrnehmens
und Wissens erlernen 228
Übung 4 Das Annehmen und das Geben üben 234
Übung 5 Positives Überfluten 238
Übung 6 Ihr „Liebe-Annehmen"-Quotient Ein Test 240
Übung 7 Ihr „Liebe-Geben"-Quotient Ein Test 244
Übung 8 Ihre Imago 247
Übung 9 Nähe und Intimität 254
Übung 10 Unsere innere Ganzheit zurückgewinnen 266
Übung 11 Entdecken Sie das Potenzial, das in Ihnen schlummert . 275
Nachwort 283
IGÖ - Imago Gesellschaft Österreich 289
Anhang - Fußnoten 290
Hinweis: Die Arbeitsblätter zu allen Übungen finden Sie auch im DIN A4- Format als PDF-Download unter der Webadresse:
www.rgverlag.com/HH4AB
Anmerkung der Übersetzerin
Das Wort Partner zählt zu den am häufigsten verwendeten Ausdrücken dieses Buches. Selbstverständlich bezieht es sich stets auf beide Geschlechter.
Gerne hätten wir für viele Passagen auch die weibliche Form „Partnerin" ge¬wählt, um eine Ausgewogenheit zu erreichen. Da diese Form jedoch die männ¬lichen Partner ausschließt, hätte das unter Umständen den Eindruck vermittelt, dass manche Textstellen nur für Frauen gedacht seien.
So haben wir zur Vermeidung jeglicher Missverständnisse und im Sinne einer guten Lesbarkeit meistens den Ausdruck „der Partner" verwendet. Es liegt uns daher besonders am Herzen, noch einmal zu betonen, dass wir dabei stets weib¬liche wie männliche Partner gleichermaßen im Blick hatten.
In exemplarischer Weise haben wir an manchen Stellen, wo dies möglich war und keine Verwirrung zu stiften schien, nur die weibliche Form „Partnerin" ge¬wählt.
Den beiden Formulierungen „separate knowing" und „connectedknowing" ha¬ben wir uns sowohl durch die Worte „punktuelles" und „vernetzendes Wahrneh¬men" als auch gegebenenfalls durch unterstützendes Beiziehen der Ausdrücke „Sachebene" und „Beziehungsebene" angenähert. Was den Begriff „relational knowing" angeht, so haben wir ihn nach reiflicher Überlegung nicht durch einen singulären Ausdruck übersetzt, sondern durch die Umschreibung „ausgewogene Balance durch Integrieren von punktuellem und vernetzendem Wahrnehmen".
Danksagungen
Jedes Buch entsteht in gewisser Hinsicht aus unzähligen Partnerschaften mit anderen Menschen und mit anderen Denkansätzen.
In besonderer Weise möchten wir den zahlreichen Paaren danken, deren Leben und deren Entwicklung sich in den Seiten dieses Buches widerspiegeln. Hätten sie nicht den Mut gehabt, sich zu öffnen und ihre Verletzlichkeit einzuge¬stehen, hätten wir dieses Buch weder planen noch schreiben können. Einerseits durften wir viele Paare in der Therapie ein Stück ihres Lebensweges begleiten, andererseits teilten viele Menschen uns ihre persönlichen Erfahrungen im Hei- lungs- und Entwicklungsprozess im Rahmen unserer wissenschaftlichen Doku¬mentationen schriftlich oder am Telefon mit.
Wir möchten auch den vielen Imago-Paartherapeuten herzlich danken, die uns an ihren Erfahrungen rund um den Themenbereich „Liebe annehmen" teilhaben ließen, ihre diesbezüglichen Erfahrungen und Erkenntnisse beisteuerten und uns in unserem Bemühen um wissenschaftliche Auswertungen unterstützten.
Unserer Assistentin Sanam Hoon gebührt besondere Anerkennung für die un¬ermüdliche und großartige Leitung unseres wissenschaftlichen Forschungspro¬jekts über Paare und dafür, dass sie aus all den Interviews verwertbare Informa¬tionen zusammentrug.
Unser herzlichster Dank geht weiters an unsere BüromitarbeiterInnen, die uns enorm viel abgenommen haben, damit wir ausreichend Zeit zur Fertigstellung dieses Buches finden konnten: Michell, Sally, Rich, Nedra und unsere Haushäl¬terin Eileen.
Darüber hinaus möchten wir uns bei jenen Menschen in unserem Leben be¬danken, die uns ganz persönlich geholfen haben zu lernen, wie man Liebe an¬nehmen kann. Erfahrene und einfühlsame Imago-Therapeuten der Imago Com¬munity erkannten, dass wir beide zwar Liebe schenken konnten, aber erst lernen mussten, das Annehmen von Liebe auf neuen Ebenen zu erlernen - wobei sie uns geduldig und liebevoll begleiteten. Wir schätzen euch sehr und danken jedem und jeder einzelnen von euch!
Unser großer Dank gilt Barney Karpfinger, unserem Agenten und Freund, der unsere Stütze und unser Manager in diesem gesamten Buchprojekt war.
Weiters möchten wir Tracy Behar danken, unserer Herausgeberin bei Atria Books, sowie ihren Kolleginnen Suzanne O'Neill, Judith Curr und Wendy Walker, die immer für uns da waren und uns unterstützten. Ohne sie hätten wir es nie geschafft, dieses Buchprojekt fertig zu stellen.
Zum Schluss möchten wir auch Reverend Dr. James Forbes, dem Pastor der Riverside Church in New York City, sehr herzlich danken. Er war nicht nur Zele- brant unserer persönlichen Feier zur Erneuerung des Eheversprechens, sondern
organisierte auch mehrere Imago-Paarworkshops in seiner Kirchengemeinde. Wir finden es sehr passend, zum Abschluss unserer Danksagungen ein Gedicht vorzustellen, das Dr. Forbes persönlich verfasst hat. Es berührt sehr treffend jenes Dilemma, welches das Herzensanliegen unseres Buches darstellt.
Liebe annehmen und schenken
Ich bin noch ein Neuling im Nehmen. Das Geben war immer mein Drang. Doch Geben so ganz ohne Nehmen, Macht bald, viel zu bald, sterbenskrank.
Ist das Einlassventil geschlossen,
Man keinerlei Nachschub mehr kriegt.
Und so kommt im Leben schlussendlich der Punkt,
Wo der Auslass für immer versiegt.
Dem Vakuum kann man keine Liebe entzieh'n, Noch eher fließt Wasser aus Stein. Vergebliches Mühen, nach fruchtlosem Tun Sind frustriert wir, erschöpft und allein.
„Geben ist seliger denn Nehmen!" Dieser Satz hat schon viele begeistert. Doch hat nur die Seele, die annehmen kann, Die Hochkunst des Gebens gemeistert.
Reverend Dr. James A. Forbes Junior Senior Pastor, The Riverside Church, New York City Copyright 1995, New York City
Unser besonderer Dank gilt
Jean Coppock Staeheli, unserer Co-Autorin und Freundin seit vielen Jahren. Wir möchten ihr unseren besonderen Dank aussprechen für ihr unermüdliches En¬gagement, dieses Projekt zur Vollendung zu bringen. Mit ihrer beeindruckenden schriftstellerischen Begabung gelang es ihr, zahllose nebenbei entstandene No¬tizen, Gespräche und Fallbeispiele zu integrieren und Ordnung in unser Chaos zu bringen. Wir sind ihr überaus dankbar für ihr Durchhaltevermögen während dieser intensiven Monate - und für ihre Geduld bei unserem gemeinsamen Be¬mühen, aus all unseren Unterlagen das Wesentliche herauszufiltern und in Buch¬form zu bringen. Herzlichen Dank dafür!
Widmung
Es ist uns ein Anliegen, dieses Buch dem Vorstand von Imago Relationships International Inc. zu widmen - Sara Boxnboim, Ronald Clark, Dan Glaser, Suzette Loh, Michael Borash, Maureen Brine, Bruce Crapuchettes, April Lorenzen, Karl Leitner, Robert Patterson, Kay Schwarzberg, Virginia Thomas, Pam Monday, Wendy Patterson, Eugene Shelly, Maryrita Wieners.
Imago Relationships International Inc. ist eine Non-Profit-Organisation, die von Imago-Therapeuten geleitet wird. Ihr Ziel ist die Unterstützung aller Imago- TherapeutInnen und Imago-Educators weltweit. Wir widmen unser Buch ihrer großen Vision: „Wenn wir einzelne Paare verändern, verändern wir die Welt."
Einleitung
Vor 26 Jahren begann unsere Partnerschaft mit einer leidenschaftlichen Diskus¬sion über den Stellenwert von „Beziehung". Eine gute Stunde unseres ersten Treffens verbrachten wir damit, darüber zu rätseln, was Dostojewski eigentlich meinte, als er in Die Brüder Karamasow den Gedanken formulierte, dass Gott weitaus leichter in menschlicher Liebe als im menschlichen Intellekt zu finden sei.1 Da wir uns ja eben erst kennen gelernt hatten, war dies mehr eine philoso¬phische Frage als eine der persönlichen Erfahrung, aber es war von Beginn an schön zu sehen, dass wir ein relativ ungewöhnliches Interesse teilten. Zwischen Passagen über unsere jeweilige Vorehe und unsere vier Kinder gestanden wir ei¬nander, wie fasziniert wir von der Erkenntnis waren, wie viel die alltäglichen Erfahrungen von Verliebtheit, Liebe und Bindung darüber aussagen, was es im Tiefsten bedeutet Mensch zu sein.
Und nun, 26 Jahre später, sind wir von diesem Thema genauso fasziniert wie damals. Wir haben unsere Karriere der Aufgabe gewidmet, die Überraschungen und Paradoxa in Liebesbeziehungen zu erforschen. Zwei Menschen, die beide mit deutlichen Defiziten behaftet sind, können manchmal die wunderbarste Be¬ziehung führen, während zwei andere, die scheinbar die besten Voraussetzun¬gen haben, vielleicht eine belastende Partnerschaft haben. Wie kommt das? Dieser und vielen ähnlichen Fragen gehen wir seit 1991 in einer Reihe von Bü¬chern nach, die eine Therapieform beschreiben, die wir „Imago-Beziehungs- theorie" getauft haben. Unser erstes Buch, So viel Liebe wie Du brauchst (orig. Getting the Love You Want)2, zeigt Paaren, welche versteckten Kräfte in allen Be¬ziehungen wirksam sind, und offeriert Strategien, mit deren Hilfe negative Inter¬aktionen zu Chancen für liebevolle Verbundenheit werden können. Harville schrieb 1992 das Buch Ohne Wenn und Aber (orig. Keeping the Love You Find)3, das gleichermaßen höchst interessant für Partner ist, sich aber auch besonders an Singles wendet, die sich wünschen, durch Beziehungen oder Partnerschaften außerhalb einer Ehe als Persönlichkeiten zu reifen. Und später, 1998, veröffent¬lichten wir So viel Liebe wie mein Kind braucht (orig. Giving the Love that Heals)4 für Eltern, die zu ihren Kindern eine bewusste, respektvolle und fördernde Bezie¬hung aufbauen wollen. Und während unsere damaligen Ansichten über die Ge¬setzmäßigkeiten von gegenseitiger Anziehung und Glück in Beziehungen auch noch heute volle Gültigkeit haben, wissen wir heute wesentlich mehr über all die verborgenen Stolpersteine, welche auch die besten Absichten zum Scheitern bringen können.
Dieses Buch hat uns wieder zurückgeführt zu unserer ursprünglichen Faszi¬nation über die Möglichkeiten, die die Ehe bietet. Trotz des Anstiegs der Schei¬dungsrate in den USA auf über 50 Prozent glauben wir fest an das gewaltige Potenzial, das die Ehe unverändert in sich birgt. Wir konnten in den letzten Jahren beobachten, wie sich die Institution der Ehe gewandelt hat. Früher stand die Frage im Mittelpunkt, was am besten für die beiden Individuen ist, nun ist es die Frage: „Was ist am besten für die Beziehung selbst?"5 Wir glauben keines¬wegs, dass das Konzept der Ehe an sich nicht funktioniert; was scheitert, ist unsere gegenwärtige, eigensüchtige Form der Ehe.
Es besteht immer Hoffnung, eine Beziehung zwischen zwei isolierten Indivi¬duen in eine echte, funktionierende Partnerschaft zu verwandeln. In jeder Union zweier Menschen gibt es das Potenzial, dass zwei verwundete Seelen heilen und sich allein durch die Tiefe ihrer Beziehung entwickeln können. Die dauerhafte Beschäftigung mit einem langfristigen Beziehungspartner kann eine persönliche Verwandlung ungeahnten Ausmaßes bewirken. Mehr noch, wir glauben, dies ist sogar die deutlichste Form einer solchen Verwandlung. Ehe mag zwar manch¬mal wie ein Glücksspiel erscheinen, aber der mögliche Haupttreffer - nämlich geistige und spirituelle Vollkommenheit - ist jeden Einsatz wert. Unser Ziel ist lediglich herauszufinden, wie wir den Einfluss des Zufalls minimieren und die Chancen auf den Haupttreffer maximieren können.
Mehr als je zuvor sind wir davon überzeugt, dass eine Partnerschaft die Kraft hat, unsere Identität zu erschaffen und neu zu erschaffen. Vom Moment der Geburt an lernen Kleinkinder und ihre Eltern, wie sie in einem faszinierenden System von gegenseitigem Austausch das Überleben des Kindes gewährleisten können. Das Kind speichert diese frühen Beziehungserfahrungen und zieht sie im späteren Leben als Bauplan für neue persönliche Bindungen heran. Obwohl es letztendlich möglich ist, diese grundlegenden Beziehungsmuster noch zu ver¬ändern, ist es freilich sehr aufwendig, diese ersten Eindrücke auszulöschen und vorsichtig neue Richtlinien zu entwickeln. Glücklicherweise liegt es in unser aller Macht, diese Muster, wenn nötig, umzuprogrammieren, um dadurch bessere Partner und Wegbegleiter zu werden - wir müssen es nur aus tiefstem Herzen wollen.
Neben der enormen Bedeutung dieser familienbezogenen Beziehungsmuster werden Partnerschaften mit anderen auch stark geprägt von der Beziehung, in der man zu sich selbst steht. Ob ein Kind lernt, sich selbst zu akzeptieren oder sich ständig abzulehnen, wird alle späteren Beziehungen, speziell zu Liebespart¬nern, bis ins letzte Detail beeinflussen. Je nachdem, wie man sich selbst betrach¬tet, wird man auch dem Partner mit Anerkennung oder Ablehnung entgegentre¬ten. Schafft man es, seine Beziehung als einen Weg zu mehr Selbstachtung und Selbstvertrauen zu nützen, dann wird man auch ein besserer Partner sein. Posi¬tive Veränderungen in der Beziehung werden immer auch positive Veränderun¬gen im eigenen Leben zur Folge haben.
Im Mittelpunkt unserer bisherigen Bücher stand das Bestreben, die Eigen¬heiten der menschlichen Natur in Beziehungen und Partnerschaften zu verste¬hen und zu erklären. Und dieses Interesse an der menschlichen Natur führte uns schließlich zu einer wesentlich größeren und tief gehenderen Frage: „Wie muss ein Universum beschaffen sein, in dem sich die Dynamik von intimen Partner¬schaften so verhält, wie wir es tagtäglich beobachten?" Unser übergeordnetes Interesse galt dem Versuch, besser zu verstehen, wie wir uns als menschliche Lebewesen in das kosmische Gewebe unseres Seins einordnen. Die Frage nach der Beschaffenheit unserer Realität, dessen, was ist, ist im Kern eine ontologi- sche Frage.6 Unser Zugang zu dieser „Gretchenfrage" war jedoch einer, der sich an einer alltäglichen Beobachtung orientierte: es ist eine Tatsache, dass Paare streiten. Wir wollten genau herausfinden, warum Paare streiten, und entwickel¬ten schließlich eine Theorie, welche die grundlegenden Gesetze von Anziehung und Abstoßung zwischen Ehepartnern beschreibt. Als Konsequenz dessen be¬gann es uns extrem zu interessieren, wie Menschen psychologische Konzepte nutzen können, um ihr eigenes Verhalten nicht nur verstehen, sondern auch ver¬ändern zu können.
Im vorliegenden Buch setzen wir diesen Leitfaden unserer psychologischen Forschung fort und erweitern ihn um die Frage, warum viele Menschen solche Schwierigkeiten haben, Komplimente und positives Feedback von ihren Partnern aber auch von anderen Menschen annehmen zu können. Allerdings erweitern wir die praktische Diskussion über die Wichtigkeit des Annehmen-Könnens in Liebesbeziehungen um eine weitere philosophische Frage: „Wie wissen wir, was wir wissen?" Dies ist die zentrale Frage der Epistemologie, eines der Philosophie untergeordneten Wissenschaftszweigs, der sich mit der Herkunft, der Beschaffen¬heit, den Methoden und den Grenzen des menschlichen Wissens beschäftigt.7 Im vorliegenden Buch werden wir genau beobachten, wie wir alles, was wir wahrneh¬men und „wissen" in der Folge aufnehmen, einordnen und anwenden. Obwohl Fragen über fundamentale Gesetze menschlichen Verhaltens genaugenommen in den Bereich der Psychologie, und jene über das „Wissen" an sich in den der Epistemologie fallen, werden wir diese Diskussionen so „benutzerfreundlich" wie möglich führen, um schließlich Strategien zu schaffen, mit deren Hilfe wir besser mit unserem Partner umgehen und unser eigenes Verhalten positiv verändern können.
Und schließlich sind wir auch froh, dieses Buch genau zu einem Zeitpunkt schreiben zu können, wo neueste Erkenntnisse aus dem Bereich der Neurobio¬logie mehr und mehr die biologischen Mechanismen zu beschreiben beginnen, welche allen psychologischen Erkenntnissen und Beobachtungen zu Grunde liegen. Viele Wissenschafter sind sich nun einig, dass der menschliche Verstand alle Grenzen unseres heutigen Wissens sprengt. Es ist ungemein spannend, den jeweils neuesten Erkenntnissen der Gehirnforschung zu folgen. Obwohl dies eine relativ junge Disziplin darstellt, ist es erstaunlich, was wir jetzt schon alles lernen können über den starken Einfluss, den wichtige partnerschaftliche Bezie¬hungen auf die Entstehung von Sinneswahrnehmungen, Gedanken, Gefühlen und Verhaltensweisen ausüben, und auch, wie diese verschiedenen Aspekte sich in Geist und Körper wechselseitig beeinflussen. Im Detail waren wir beson¬ders fasziniert davon, dass enge Beziehungen sogar den wesentlichen Faktor innerhalb der neuropsychologischen Entwicklung darstellen.8 Wir werden Infor¬mationen vom letzten Stand der Neurowissenschaften immer dann einfließen lassen, wenn wir das Gefühl haben, sie können Ihnen beim Verständnis der Mechanismen von Liebesbeziehungen helfen.
Wir teilen außerdem die Ansicht vieler antiker Kulturen, die der heute weit ver¬breiteten Sichtweise entspricht, dass alles, was ist, miteinander in ständiger Ver¬bindung steht. Wir mögen es vielleicht nicht immer wissen oder fühlen, aber es ist gar nicht möglich, nicht verbunden sein. Es ist unser innerstes Wesen. Wir sind eins mit dem Universum. Beim Schreiben dieses Buches ist uns das große, komplexe Netzwerk von Verbindungen innerhalb einer Ehe noch bewusster ge¬worden. Auf der allereinfachsten Ebene gehen zwei Menschen eine Verbindung ein, wenn sie sich entschließen, ihr Leben nunmehr gemeinsam zu verbringen; jedoch bringt jeder Partner bereits nicht nur seine Verbindung mit dem ganzen Universum mit sich, sondern auch die Verbindung mit seinen vorangegangenen Beziehungen und Erfahrungen; und somit schaffen beide zusammen ein System des Gebens und Annehmens von Liebe, welches sie zudem noch mit ihren Kin¬dern teilen, falls sie welche haben. Und dies ist erst der Anfang. Wir werden noch weitaus mehr Wechselwirkungen, Feedback-Kreise und untereinander verbun¬dene Systeme entdecken auf unserer Suche nach der wahrhaft erfüllenden, bewussten Beziehung, in der beide Partner in gleicher Weise geben wie anneh¬men können.
Einführung in die Imago-Beziehungstheorie
Gleichgültig, ob Sie bereits viel über die Imago-Beziehungstheorie wissen oder diese gerade neu entdeckt haben, wird es hilfreich sein, ihre wichtigsten Prin¬zipien kurz in Erinnerung zu rufen.
Unsere Partnerwahl ist keineswegs eine zufällige. Ohne uns dessen bewusst zu sein, suchen wir uns einen Partner, der gewisse Charakterzüge mit einem oder beiden unserer Elternteile gemeinsam hat. Die meisten Menschen zeigen sich über diese Einsicht zunächst sehr erstaunt: „Sie meinen, ich fühlte mich zu meinem Mann hingezogen, weil er meinem Vater ähnlich ist?" Das kann manch¬mal etwas schockierend klingen, besonders wenn die Beziehung zum eigenen Vater nicht unbedingt die beste ist. Wenn Sie jedoch in Ruhe darüber nachden¬ken, können Sie vermutlich die Ähnlichkeit zwischen Ihrem Partner und einem oder beiden Elternteilen (wahrscheinlich dem problematischeren der beiden) deutlich erkennen. Und Sie werden feststellen, dass Ihre Beziehung Ihnen die einmalige Chance bietet, sich mit den Problemen Ihrer Kindheit nochmals aus¬einanderzusetzen - allerdings diesmal mit einer guten Lösung!
Diese Einsicht - eine fundamentale für die Imago-Therapie - führte zu einem tie¬feren Verständnis des komplexen Systems von Anziehung und Verbundenheit. In jeder Beziehung weicht früher oder später die anfängliche Verliebtheit einem Machtkampf, in dem die Partner sich mit genau jenen Eigenheiten ihres Partners konfrontiert sehen, die sie schon bei ihren Eltern „in den Wahnsinn getrieben" haben. Wenn diese Beziehung sich jemals von der romantischen Anfangsphase und dem späteren Machtkampf zu einer reifen, glücklichen Liebesbeziehung entwickeln soll, komme ich nicht daran vorbei, auch die schwierigen Seiten des Partners lieben zu lernen, speziell jene, die eigene - abgelehnte, versteckte oder ins Unbewusste abgewanderte - Charakterzüge widerspiegeln. Und wenn ich versuche, meinen Partner umfassender zu lieben, beginnt dadurch auch ein Heilungsprozess für alle meine eigenen Verwundungen, die aus der Beziehung zu meinen primären Bezugspersonen herrühren.
Obwohl der Prozess, die irritierenden Seiten des Partners lieben zu lernen, sicher nicht einfach ist, kann er auch von den zerstrittendsten Paaren bewältigt werden. Nach zwölf Jahren Therapiearbeit und der gebündelten Erfahrung von mehr als zweitausend Imago-TherapeutInnen können wir mit Sicherheit sagen, dass zwei Menschen, die sich bereitwillig mit ihrer Vergangenheit auseinander¬setzen und bereit sind, neue Wege im Umgang mit ihren Gefühlen und deren Ausdruck zu lernen, ihre Beziehung auf eine neue, bessere Ebene bringen kön¬nen. Menschen, die zu diesem Aufwand bereit sind, entdecken bald folgendes „Geheimnis": Die aufrichtige Liebe zum Partner ist der beste Garant für das eige¬ne persönliche und spirituelle Wachstum.
Die meisten Beziehungen blühen unter dem Einfluss dieser Gedanken - und der damit verbundenen therapeutischen Konzepte - richtiggehend auf. Paare, die diese Erkenntnisse verinnerlicht haben und die von uns angebotenen Übun¬gen anwenden, erleben zumeist eine verblüffende Renaissance ihrer Liebe. Aber es wurde uns auch vermehrt bewusst, dass das Modell der Imago-Beziehungs- theorie immer noch erweitert werden musste. Denn selbst wenn manche Men¬schen gelernt hatten, ihren Partner mit allen seinen Unzulänglichkeiten zu lieben, konnte ihr Partner diese Liebe nicht annehmen. Ihre Beziehung war festgefahren, wenn einer oder beide Partner die positiven Annäherungsversuche des anderen blockierten. Solange nicht eine gesunde Balance zwischen Geben und Anneh¬men gefunden oder wiedergefunden wird, kommt jeder Fortschritt in der Part¬nerschaft zum Stillstand. Und das nicht, weil Menschen nicht bereit sind, ihren Beitrag zum Funktionieren der Beziehung zu leisten, sondern weil das bloße Befolgen unserer Therapieanleitungen nicht immer zu einer positiven Transfor¬mation führt.
Wir haben die enorme Bedeutung dieses letzten Schrittes - das Lernen, Liebe annehmen zu können - während der Arbeit an unserem Buch So viel Liebe wie du brauchst deutlich unterschätzt. Wir dachten, sobald wir unsere Klienten ange¬leitet haben, einander das zu geben, was der andere am meisten braucht (und allein dies ist schon schwierig genug!), können wir sie mit unserem Segen in ein Leben voll Glück und Zufriedenheit entlassen. Wer sollte denn Probleme damit haben, die freigebige Liebe seines Partners anzunehmen? Nicht im Traum dach¬ten wir an die Möglichkeit, dass manchen Menschen das Annehmen von Liebe so schwer fallen könnte.
Seitdem haben wir zwar immer wieder einige glückliche Seelen beobachtet, die sogleich aufblühen und heilen, wenn sie erhalten, was sie brauchen. Die mei¬sten von uns haben jedoch immer wieder Probleme mit dem Annehmen von Zuneigung, Lob, Unterstützung, Komplimenten oder Geschenken von anderen. Warum auch immer, wir können diese Seelennahrung manchmal nicht schlu¬cken, verdauen und verwerten. Wir können diese Liebesbissen schmecken, aber wir bringen sie „nicht hinunter". So wie vielen Menschen mit Nahrungsmittel¬allergien bleibt uns ein Heißhunger nach dem, was wir nicht verdauen können.
Obwohl die Unfähigkeit, Positives annehmen zu können, in Liebesbeziehun¬gen oft recht offensichtlich zutage tritt, ist sie keineswegs nur ein Beziehungs¬problem. Sie ist ein Persönlichkeitsproblem, das überall zum Vorschein kommen kann. Seien Sie bitte aufmerksam dafür, wann Sie das nächste Mal ein Kompli¬ment zurückweisen, ein Geschenk nicht annehmen können oder in Anbetracht eines großen Lobes peinlich berührt sind. Wenn Sie einen Impuls spüren, einem positiven „Input" auszuweichen, ist dies ein Zeichen, dass auch Sie mit dem „Annehmen" Ihre Probleme haben. Die folgenden Erläuterungen in diesem Buch werden Ihnen helfen, offener und aufnahmebereiter zu werden, egal, ob Sie in einer Beziehung oder gerade Single sind.
Sollten Sie sich aber in einer Langzeitbeziehung befinden, werden Sie nicht umhin kommen, sich mit diesem ultimativen Hindernis auseinanderzusetzen, um das volle Potenzial Ihrer Partnerschaft auszuschöpfen. Unsere bisherige Arbeit galt vor allem den sehr realen Schwierigkeiten beim Geben von Liebe. Nun ist es an der Zeit, den Kreis zu schließen und uns den überraschenden Problemen beim Annehmen von Liebe zu widmen.
Wenn Professionelles persönlich wird
Unsere Einsicht, dass Schwierigkeiten beim Annehmen von Liebe sich für viele Paare zu echten Beziehungsproblemen entwickeln, hat sich schrittweise sowohl in unserer beruflichen Arbeit mit Paaren als auch in unserem eigenen Eheleben eingestellt. In den letzten zehn Jahren gewannen wir sowohl durch Harvilles the¬rapeutische Praxis als auch durch Helens wissenschaftliche Studien neue Ein¬sichten im Hinblick auf viele Paare, die zwar anfangs große therapeutische Fort¬schritte machten, aber an irgendeinem Punkt stecken blieben. Sie hatten wohl gelernt, einander ihre Wünsche und Sehnsüchte mitzuteilen und auch zu erfül¬len, aber die Qualität ihrer Interaktion hatte sich nicht verändert. Sie erweckten den Eindruck, als hätten sie keinerlei neue Beziehungsfähigkeiten erlernt. An die¬sem Punkt halfen keine weiteren Impulse seitens der Therapeuten, um auch nur den kleinsten Fortschritt zu erzielen.
Auch andere Imago-Therapeuten berichteten uns von Paaren, die monatelang beste Fortschritte erzielten, und dann plötzlich - aus unerklärlichen Gründen - steckenblieben. Manche Klienten verschlossen sich beharrlich allen Versuchen seitens ihres Partners oder des Therapeuten, sie zu positiven Interaktionen in ihrer Beziehung zu bewegen. Langsam aber sicher setzten wir Puzzlestein um Puzzlestein zu einem aufschlussreichen Bild zusammen. Viele der hier angeführ¬ten Beispiele stammen aus der großen Sammlung von Interviews, die Imago- Therapeuten mit ihren Klienten auf der Suche nach einer Lösung dieses Pro¬blems durchgeführt haben.
In einem faszinierenden - wenn für uns auch schmerzhaften - Prozess von Synchronisation stellte sich weiters heraus, dass viele dieser neuen Erkenntnisse aus unserem eigenen Privatleben hervorgegangen waren. Während der vielen Jahre, in denen wir uns einen internationalen Ruf als „Beziehungsexperten" auf¬gebaut hatten, waren wir privat weiterhin in so manche Beziehungsprobleme ver¬wickelt geblieben. Unsere Bücher und Workshops waren für tausende Paare zum Rettungsanker geworden, aber unsere eigene Ehe war dem Ende nahe. All unser mühsam erworbenes Wissen über die Entfaltung einer bewussten Part¬nerschaft war nicht stark genug, um uns gegen die Kräfte zu verteidigen, die uns auseinanderzogen. Und dies war keineswegs nur schmerzhaft - es war vor allem peinlich.
Wir waren an der Kippe zur Scheidung. Mit großer Trauer mussten wir uns ein¬gestehen, dass wir nicht guten Gewissens anderen Leuten Beziehungstipps geben oder Imago-Therapeuten neues Material präsentieren konnten, wenn wir nicht imstande waren, unsere eigenen Probleme zu lösen. Auf der nächsten Imago-Konferenz gestanden wir offen ein, wie schlecht es um unsere Beziehung stand. Alle bewiesen ein großes Maß an Verständnis für unsere private Situation und wünschten uns von Herzen, dass wir vielleicht doch noch einen Weg finden könnten, unsere Ehe zu retten. Beim Abschied konnten wir all ihre Liebe und ihr Verständnis fühlen. Ihre Reaktion war einer der ausschlaggebenden Gründe dafür, unserer Beziehung noch eine einjährige, letzte Chance zu geben.
Wir versprachen einander, alles zu versuchen, um herauszufinden, was bei uns falsch gelaufen war, und wie es möglicherweise noch zu retten war. Unsere wichtigsten Vorsätze waren von Beginn an, Negativität in jeder Form aus unse¬rer Kommunikation zu verbannen und stattdessen das Positive herauszustrei¬chen, obwohl wir auch nicht immer wussten, wie das zu schaffen war. Wir wand¬ten uns den grundlegenden Imago-Übungen zu und beobachteten all unsere Interaktionen. Und wir lernten viel davon, zu untersuchen, wie wir mit unseren „Kindheitstraumen" und unseren Sehnsüchten umgingen. Aus dieser Phase unserer Ehe gibt es eine Begebenheit, die uns als besonders aufschlussreich im Hinblick auf das Hauptthema dieses Buches in Erinnerung blieb: eines Morgens, als wir gerade an einem ziemlichen Tiefpunkt angelangt waren, fragte ich, Helen, Harville: „Glaubst du eigentlich, dass ich dich liebe?"
Harville dachte kurz nach und antwortete dann: „Nein, ich glaube nicht, dass du mich liebst." Ich war verblüfft und konnte nichts anderes sagen als: „Nach allem, was ich für dich getan habe, und nach all unseren gemeinsamen Jahren, wie kannst du da nicht wissen, wie sehr ich dich liebe?"
Aber alles, was ich, Harville, in diesem Moment wusste, war, dass ich mich nicht geliebt fühlte.
Gleichzeitig jedoch sagte mir meine innere Stimme der Vernunft, dass meine Gefühle überhaupt keinen Sinn machten. Helen hatte meine Kinder geliebt, hatte unsere Kinder geliebt, sie hatte mich und meine Arbeit in allem unterstützt. Und „zum Dank" misstraute ich ihrer selbstlosen Liebe und suchte dahinter nach egoistischen Motiven. Ich wollte mir einreden, dass an alles, was Helen mir gab, Bedingungen und Erwartungen geknüpft waren, dass sie alles nur machte, um auch etwas dafür zu erhalten. Schweren Herzens musste ich mir eingestehen, wie sehr ich all ihre Geschenke entwertet hatte. Und nur langsam und mit viel persönlicher Reflexion wurde mir bewusst, dass ich wahre Liebe nicht so anneh¬men konnte, wie sie mir angeboten wurde.
Dieser Morgen war unser absoluter Tiefpunkt. Wie wir aus dieser Situation wie¬der herausfanden prägte die hoffnungsvollen und ermutigenden Passagen die¬ses Buches entscheidend.
Eine ganzheitlichere Art des Wahrnehmens
Als wir begannen, an unserer Ehe zu arbeiten, erkannten wir, dass es hilfreich wäre, über die Voraussetzungen und inneren Überzeugungen zu reflektieren, die jeder von uns in unsere Partnerschaft mitgebracht hatte. Bald gewannen wir den Eindruck, dass ein Teil der belastenden Dynamik, zu der wir beide beigetragen hatten, auf einen Umstand zurückzuführen war, an den wir bisher einfach nicht gedacht hatten. Er stand in Zusammenhang mit der Frage, wie wir uns auf die Imago-Beziehungstheorie und aufeinander als Partner einließen. Wir wussten eine Menge über die Arbeit mit Imago. Wir schrieben Bücher darüber, wir prä¬sentierten sie anderen Menschen, aber wir integrierten sie nicht zutiefst in unser eigenes Leben. Einiges blieb auf einer intellektuellen Ebene hängen und gelang¬te nicht bis in unser Herz. Da wir mit der Imago-Arbeit auf kognitiver Ebene sehr vertraut waren, hatten wir automatisch angenommen, dass wir sie auch im per¬sönlichen Leben umsetzten. Leider traf das nicht wirklich zu.
Bei ihrer Beschäftigung mit feministischer Psychologie stieß Helen auf einen neuen gedanklichen Ansatz, der sich sozusagen als neuer Durchbruch erwies. 9 Diese Theorie behandelte die verschiedenen Möglichkeiten, wie Menschen Dinge wahrnehmen können, und zwar einerseits das Konzept des Wahrnehmens auf der Sachebene und andererseits das Konzept des Wahrnehmens auf der Beziehungsebene.
Die Theorie besagt, dass es primär zwei Möglichkeiten gäbe, Dinge wahrzu¬nehmen und Neues zu lernen. Das Wahrnehmen auf der Sachebene hat in unse¬rer westlichen Kultur eine lange Geschichte und wurde schon von Sokrates philosophisch untermauert. Diese Art des Wahrnehmens ist linear, zielorientiert und wird oft mit wissenschaftlichen und empirischen Methoden gleichgesetzt. Ein Mensch, der auf der Sachebene wahrnimmt, ist demzufolge unabhängig und steht nicht in Beziehung zu jenem Objekt, das wahrgenommen wird. Er betrach¬tet dieses Objekt kritisch, um ein besseres Verständnis darüber zu erlangen. Seine innere Haltung lautet: „Nun gut, beweise es. Überzeuge mich." Wenn je¬mand primär auf der Sachebene wahrnimmt, ist sein Zugang zum Verstehen ein eher gegenüberstellender und von Konkurrenzdenken geprägter. Er basiert auf der Annahme, dass eine Gruppe willkürlich gewählter Teilnehmer dazu in der Lage sei, die Realität auf dieselbe und objektive Art zu verstehen und zu be¬schreiben. Anders ausgedrückt handelt es sich hier um die Behauptung, dass das, was real und wahr ist, unabhängig von jener Person existiert, die es wahr¬nimmt.
Mit Wahrnehmen auf der Beziehungsebene haben wir es zu tun, wenn eine Person ihre Intuition, ihre Emotionen und ihr Einfühlungsvermögen heranzieht, um Dinge wahrzunehmen. Sie ist nicht unabhängig und sie ist nicht bezugslos. Wer auf der Beziehungsebene wahrnimmt, muss jene Person aktiv bestätigen, die er zu verstehen versucht. Diese Bestätigung ist mehr als der Versuch einfühl¬samen Verstehens oder die Unterlassung einer negativen Bewertung. Es ist ein positiver und herausfordernder Akt, wenn wir versuchen, eine andere Person und ihren Standpunkt so umfassend wie nur möglich aufzunehmen und nachzu- vollziehen. Die Haltung desjenigen, der auf der Beziehungsebene wahrnimmt, lautet: „Nun gut, ich möchte meine eigenen Bewertungen für eine Minute beisei¬te schieben und versuchen, deine Welt zu betreten und die persönliche Wahrheit deiner Aussagen nachzuvollziehen." Würde man das Konzept der Beziehungs¬ebene nur unvollständig verstehen, könnte man zu der Schlussfolgerung kom¬men, dass das Wahrnehmen auf der Beziehungsebene die Wahrheit nicht ent¬hüllen kann, weil das Wasser durch persönliche Gefühle, Erinnerungen und Wahrnehmungen getrübt sein müsse. Aber das trifft nicht zu. Im guten Sinne nützt jemand, der auf der Beziehungsebene wahrnimmt, seine Intuition, seine Gefühle und sein Einfühlungsvermögen für einen Erkenntnisprozess, der eben¬falls zu vernünftigen und unabhängigen Bewertungen führt. Anstatt die Welt von einem distanzierten und objektiven Standpunkt aus zu betrachten und zu glau¬ben, dass nur dieser Standpunkt zu einer vorurteilsfreien Sicht der Wahrheit führt, sieht das Wahrnehmen auf der Beziehungsebene die Wahrheit als Prozess an, der sich entwickelt und durch jene Menschen geschaffen wird, die an diesem Prozess beteiligt sind.
In unserer Kultur werden wir vorrangig das Denken auf der Sachebene gelehrt. Die Sprache des objektiven und rationalen Bewertens und logischen Denkens war ausschlaggebend für die Entwicklung der modernen Gesellschaft. Wissen¬schaft und Technologie stützen sich darauf. Bisher hatten wir keine wirklich adä¬quate Sprache, um auszudrücken, wie das, was wir spüren, fühlen und als intu¬itive Einsicht erlangen können, zu unserer Reife und zu unserer Weisheit beitra¬gen. Das Wissen auf der Beziehungsebene hat zwar ebenfalls schon immer exi¬stiert und war von wesentlicher Bedeutung, wurde jedoch bisher oft als arme kleine Schwester des rationalen und logischen Denkens angesehen. Glück¬licherweise überwinden wir nun endlich diese abwertende Sichtweise und gelan¬gen langsam zu der Ansicht, dass intuitives, vernetzendes und integrierendes Denken eine gleichermaßen gültige Möglichkeit des Wahrnehmens ist.
Ohne Zweifel braucht jeder Mensch beide Arten des Wahrnehmens. Men¬schen, die sich auf beide Wahrnehmungsweisen stützen, sind offen für neue Perspektiven und fähig dazu, eine neue Art des Verstehens zu erreichen. Sie sind dazu in der Lage auszuwerten, was sie verstanden haben, es in Bezug zu anderen Dingen zu setzen, Probleme zu lösen und in der Folge auch Handlungs¬schritte zu setzen sowie Lösungen zu finden. Die Fähigkeit, das Wahrnehmen auf der Sachebene und der Beziehungsebene miteinander zu verbinden, steht in direktem Zusammenhang mit der Fähigkeit Liebe anzunehmen. Um Liebe an¬nehmen zu können, müssen Menschen in kognitiver Hinsicht erkennen, dass sie geliebt werden (Sachebene), sowie in ihrem Kopf, Herz und ganzen Körper füh¬len, dass sie geliebt werden (Beziehungsebene). Es zu erkennen und zu wissen ist zu wenig.
Den meisten Menschen gelingt es kaum, die Sachebene und die Beziehungs¬ebene in ihrer Wahrnehmung miteinander zu verbinden. Sie stützen sich einsei¬tig auf eine der beiden Arten, ähnlich wie Helen und ich das getan haben. Ihre Fähigkeit, etwas von außen aufzunehmen, das ihnen mehr Ganzheit schenken könnte, ist beschränkt, und so bleiben sie zersplittert, anstatt ihrer Ganzheit nä¬her zu kommen. Menschen, die vorwiegend auf der Sachebene wahrnehmen und sich kaum auf der Beziehungsebene bewegen, sind meist objektiv, distan¬ziert und kaum dazu in der Lage, an den Erfahrungen anderer Menschen teilzu¬haben. Sie haben strikte Grenzen. Menschen, die primär auf der Beziehungs¬ebene wahrnehmen und selten auf der Sachebene, haben diffuse Grenzen und verschmelzen mit der Erfahrung von anderen. Sie können ihre eigenen Erfah¬rungen nicht von jenen anderer Individuen unterscheiden und es fällt ihnen sehr schwer, einen Schritt zurückzutreten und über eine Situation zu reflektieren. Menschen, die auf der Sachebene wahrnehmen, und Menschen, die auf der Be¬ziehungsebene wahrnehmen, fühlen sich zueinander hingezogen. Wenn sie in Beziehung zueinander treten, ist es allerdings, als würde man zwei Kabel zusam¬menschließen, während die Hälfte aller Verbindungsstücke fehlt. Es sprühen die Funken, aber es entsteht keine Verbindung.
Für uns beide traf das sicherlich zu. Helen erkannte, dass sie vorwiegend auf der Beziehungsebene wahrnahm, ganz besonders, was unsere Ehe betraf. Sie war so in ihre Gefühle verstrickt, dass sie nicht dazu in der Lage war, unser Pro¬blem klar zu sehen, genug Abstand davon zu bekommen, effektiv handeln zu können und die Probleme anzusprechen. Ich hingegen bevorzugte die Sach¬ebene, ging auf Distanz und analysierte und stand daher nicht in Bezug zu dem, was in meiner eigenen Partnerschaft vor sich ging. Jedes Mal, wenn Helen auf der Beziehungsebene auf mich zugehen wollte, versteckte ich mich hinter mei¬nen Fähigkeiten auf der Sachebene. Die Mauer zwischen einem übermäßig emotionalen und nicht-analytischen Partner auf der einen Seite und einem emo¬tional abwesenden, bewertenden Partner auf der anderen Seite schien unüber- windbar.
Glücklicherweise war unsere Zuneigung zueinander größer und stärker als die Mauer, die wir errichtet hatten. Die Thesen über die Sachebene und die Bezie¬hungsebene waren gleichsam ein neuer Durchbruch für uns. Sie schenkten uns jene Sprache, die uns half zu verstehen, was jeder von uns unterdrückt hatte. Es war die Einsicht, die wir brauchten, um die innere Stimme der Gefühle und die äußere Stimme von Logik und Verstand zu erkennen und zu integrieren. Inzwi¬schen glauben wir, dass wir für den Reichtum dieses Konzeptes so empfänglich waren, weil die Imago-Beziehungstheorie in vieler Hinsicht dieselben Erkennt¬nisse widerspiegelt. Besonders der Imago-Dialog hilft Partnern, sich zu „deh¬nen", neue Erfahrungen zu machen und ihre Fähigkeiten für das Wahrnehmen auf beiden Ebenen zu stärken.
Als wir diese Theorien kennen gelernt hatten, tauschten wir uns mit Hilfe des Imago-Dialogs aus, um herauszufinden, wie wir beide Ebenen in unserer Part¬nerschaft miteinander vereinen konnten. Wir arbeiteten daran, die Spannung zwischen den beiden Ebenen auszubalancieren und ihre Gegensätzlichkeiten miteinander zu vereinen. Nach mehr als 20 Jahren Ehe nahmen wir endlich Din¬ge voneinander wahr, die eine deutliche Veränderung unserer Verbundenheit und unseres Umgangs miteinander bewirkten. Wahrnehmen wurde zu einem Prozess, der Fühlen und Denken integrierte und uns ermöglichte, uns in der Mitte jener Skala zu treffen, die von „sehr emotional" bis „rein kognitiv" reichte. Wir halfen einander, von unserem Extrem wieder abzugehen. Ich, Helen, lernte Probleme zu lösen, und Harville wurde empfänglich für emotionale Inhalte. Es gelang uns, jene Fähigkeiten zurückzugewinnen und zu integrieren, die wir ver¬loren hatten. Unser inneres und unser äußeres Leben stimmten wieder besser überein und wir entwickelten uns Schritt für Schritt zu ganzen und integrierten Persönlichkeiten. Wir steuerten auf eine Versöhnung von Gedanken, Worten und Taten zu, die uns zu einer stärkeren Bewusstheit verhalf.
Bald erkannten wir auch, dass unsere persönlichen Kämpfe hinsichtlich des Gegensatzes zwischen der Sachebene und der Beziehungsebene sich auch in unserer Umgebung widerspiegelten. Wir versuchten herauszufinden, inwieweit unser privates „Aha-Erlebnis" auch für Imago-Therapeuten und Klienten, die sich abmühten, die Qualität ihrer Partnerschaft zu verbessern, wertvoll wäre. Die Imago-Therapeuten nahmen dieses effektive Werkzeug bereitwillig an. Sie erleb¬ten, wie sie ihre eigenen Impulse in Richtung Sachebene und Beziehungsebene besser steuern und auch ihren Klienten helfen konnten, deren Aufnahmebereit¬schaft zu steigern.10 Es wurde dadurch auch möglich, Klienten zu beraten, wie sie erkennen konnten, wenn sie aus der Balance geraten waren. Unsere Erkenntnisse im Zusammenhang mit diesen und anderen Anwendungen für das Wahrnehmen auf der Sachebene und auf der Beziehungsebene stehen noch am Anfang.
Der lange Weg zurück
Während dieses Jahres der Versöhnung und Heilung erfolgte unser Fortschritt nach dem Motto „Drei Schritte vorwärts - einer zurück". Wir konnten unser bis dahin stagnierendes spirituelles Leben wieder auffrischen, unsere Interaktionen wurden bewusster und sensibler und wir kommunizierten miteinander auf einer tieferen Ebene als je zuvor. Anstatt unser gesamtes Wissen über die Imago- Beziehungstheorie auf der kognitiven Ebene zu belassen, unternahmen wir den anstrengenden Versuch, es zu einem integralen Bestandteil unseres alltäglichen Lebens zu machen. Die von Liebe erfüllte Partnerschaft, die wir in allen unseren Imago-Büchern beschrieben hatten, war nun zur Wirklichkeit für uns geworden. Im Sinne von Gandhis berühmtem Zitat über Veränderung in der Welt waren wir selbst die Art von Partnerschaft geworden, die wir uns für die Welt wünschen.
Mit diesem Buch lösen wir nun unser Versprechen ein, alles offenzulegen, was wir einerseits auf unserer eigenen „Beziehungsodyssee" und andererseits durch unsere berufliche Arbeit mit Paaren in Krisensituationen gelernt haben. An man¬chen Stellen in diesem Buch werden wir ganz offenkundig von unseren eigenen Erfahrungen berichten. Aber noch öfter, wenn es um unsere eigene Beziehung geht, werden wir fiktive Namen verwenden, um unsere eigene Privatsphäre intakt zu halten (wie wir das immer tun, wenn wir biographische Details unserer Klienten verwenden). Tief unter allen unseren Erkenntnissen, Rückschlüssen und Empfehlungen liegt somit eine Überzeugung, die darauf beruht, alles selbst durchlebt zu haben.
Wir haben dieses Buch in drei Teile gegliedert: Teil I beschreibt das eigentliche Beziehungsproblem; Teil II ergründet dessen Lösung; und Teil III bietet Übungen, die es Paaren erleichtern sollen, ebendiesen Weg vom Problem zur Lösung zu beschreiten. Fortwährend werden Sie also mitverfolgen, welche Schwierigkeiten andere Paare - ähnlich wie Sie selbst - damit hatten, sich dem Geliebt-Werden zu öffnen. Und Sie werden auch lesen, wie sehr diese Paare sich belohnt und beschenkt fühlten, als es ihnen gelang, diese Schwierigkeiten zu überwinden.
Ein wichtiger Hinweis
Die Lebensgeschichten der Paare, von denen in diesem Buch die Rede sein wird, sind wie Collagen zusammengesetzt aus den Erfahrungen unterschied¬licher Menschen. Alle Zitate und die damit verbundene Psychodynamik entspre¬chen der Wirklichkeit, andere persönliche Details jedoch wurden geändert, um die Anonymität zu wahren.
Tag der Veröffentlichung: 10.06.2011
Alle Rechte vorbehalten