Anmerkung der Übersetzerin 11
Einleitung 13
Teil I Verbundenheit 21
1. Eine Welt der Verbundenheit 23
2. Die Familie - Ursprung unserer Imago 41
Teil II Der Verlust der Verbundenheit 65
3. Unbewusste Eltern 67
4. Von unseren Kindern lernen 97
Teil III Die Verbundenheit wieder finden 131
5. Der Imago-Dialog 133
6. Bewusste Eltern 161
7. Über unsere Kindheit hinauswachsen 191
Teil IV Mein Kind auf neue Weise wahrnehmen 221
8. Die Bindungsphase - Von der Geburt bis zum Alter
von 18 Monaten 238
9. Die Entdeckerphase - Alter: 18 Monate bis 3 Jahre 251
10. Die Identitätsphase - Alter: 3 bis 4 Jahre 263
11. Die Kompetenzphase - Alter: 4 bis 7 Jahre 278
12. Die Phase der sozialen Verantwortung - Alter: 7 bis 12 Jahre . . . . 294
13. Die Phase der Nähe- Alter: 12 bis 18 Jahre 310
Teil V Ein neues Erbe für unsere Kinder 327
14. Mögliche Wege für eine bewusste Zukunft 329
Teil VI Werkzeuge für bewusste Eltern - 18 Übungen 341
15. Von der Theorie zur praktischen Umsetzung 343
Teil 1 Mich selbst als Mutter/Vater kennenlernen 346
Übung 1 Fragebogen über meine Eigenschaften
als Mutter/Vater 346
Übung 2 Mein energetisches Reaktionsmuster als Mutter/Vater 348
Übung 3 Grenzen setzen 351
Übung 4 Meine persönlichen Herausforderungen
als Mutter/Vater 352
Übung 5 Mein persönlicher nächster Wachstumsschritt als
Mutter/Vater 354
Teil 2 Wie meine Eltern sich mir als Kind gegenüber verhalten haben . . 360
Übung 6 Meine persönlichen Glaubenssätze 360
Übung 7 Meine Gefühle, Ängste und Schutzmuster 363
Übung 8 Wie meine Eltern sich in mein Leben als Kind
eingebracht haben 366
Übung 9 Wie meine Eltern Grenzen gesetzt haben 367
Teil 3 Meine Partnerschaft besser verstehen 369
Übung10 Überblick über meine Partnerschaft 369
Übung11 Glaubenssätze über mich selbst in Beziehung zu
meinem Partner 371
Übung12 Meine Beziehungsängste 373
Übung13 Das Kernthema meiner Partnerschaft 374
Übung14 Wachstumschancen in meiner Partnerschaft 376
Übung15 Der Imago-Dialog 377
Übung16 Wiederverlieben in der Partnerschaft -
Ein neues Bild meines Partners 378
Teil 4 Plan für Heilung und Wachstum 380
Übung17 Nützen wir, was wir bereits wissen 380
Übung18 Plan für Heilung und Wachstum 382
Danksagungen 384
Anmerkungen 386
Bibliographie 398
Wir widmen dieses Buch unseren sechs Kindern, die unsere besten LehrerInnen sind - jedes auf seine ganz persönliche Art!
Hunter, Leah, Kimberly, Kathryn, Mara und Josh
Anmerkung der Übersetzerin
Eines der Schlüsselworte dieses Buches ist »conscious parenting«. In Anbe¬tracht der Tatsache, dass abgesehen von einigen wissenschaftlichen Arbeiten bisher weder »das Beeltern« noch »die Beelterung« nachhaltig Eingang in die deutsche Sprache gefunden haben, haben wir es vorgezogen, für den Begriff »conscious parenting« die Umschreibungen »bewusste Eltern-Kind-Beziehun- g(en)« und »bewusstes elterliches Verhalten« zu wählen. Das Verb »beeltern« hingegen, das durch seine Ähnlichkeit zum Verb »bemuttern« noch am ehesten Aufnahme in die deutsche Sprache finden könnte bzw. sollte, haben wir in ho¬möopathischer Dosis verwendet. (Interessanterweise existiert das Wort »beva- tern« bisher ebenfalls nicht im deutschen Sprachgebrauch).
Durchgängig gendergerechte Sprache zu verwenden hätte den Text oft un¬übersichtlich und langwierig gestaltet. So haben wir uns dem Prinzip »pars pro toto« verschrieben und nur an einigen Stellen, an denen es uns angemessen er¬schien, sowohl die männliche als auch die weibliche Form verwendet (z. B. der/die Jugendliche).
Auch den Autoren ist es wichtig zu betonen, dass Väter stets in gleicher Weise angesprochen sind wie Mütter (vgl. Kapitel 1, Fußnote 13), obwohl aus Gründen der Lesbarkeit stellenweise nur Mutter und nicht immer Mutter/ Vater verwendet werden konnte. An einigen Stellen dieses Buches wiederum bitten wir Sie, »der Erwachsene«, »der Elternteil« und »der Partner« jeweils in seiner weiblichen und seiner männlichen Bedeutung zu interpretieren.
Der Begriff »Imago« (von lat. imago, das Bild) findet sich bereits bei Sigmund Freud. In der analytischen Psychologie ist die Imago das unbewusst im Kind ent¬stehende erste Bild seiner Bezugspersonen, in der Regel Vater und Mutter. Im deutschen Sprachraum, insbesondere im Kontext der Imago-Beziehungstheorie, hat sich jedoch weitgehend die grammatikalisch nicht korrekte, aber durch die Konnotation Bild naheliegende sächliche Form »das Imago« eingebürgert. In der deutschen Ausgabe der Bücher So viel Liebe wie Du brauchst sowie Ohne Wenn und Aber von Harville Hendrix sowie im vorliegenden Buch So viel Liebe wie mein Kind braucht haben wir uns für die Verwendung des grammatikalisch kor¬rekten Artikels »die« entschieden und hoffen, unsere Leser mit dem Begriff »die Imago« nicht zu irritieren.
Margit Schröer, Juni 2008
Einleitung
In meiner jahrzehntelangen Tätigkeit als Psychotherapeut und Lehrer genieße ich das Privileg miterleben zu dürfen, wie Menschen an ihren wichtigsten persön¬lichen Beziehungen arbeiten. Viele Jahre davon widmete ich mich vorrangig der Ehe und der Frage, wie Menschen ausgehend vom ersten Zauber ihrer romanti¬schen Anziehung eine dauerhafte Partnerschaft voll Liebe und tiefer Freund¬schaft aufbauen könnten. Diese Frage interessierte mich in beruflicher, aber auch in persönlicher Hinsicht. Viele Jahre meines Lebens habe ich mich der herausfordernden Aufgabe gewidmet Rahmenbedingungen zu entwickeln, wie man (Ehe-)Partner darin unterstützen kann leidenschaftliche Freunde zu werden.
Als ich den Eindruck hatte, es wäre nun an der Zeit, mein Wissen auch in Buchform weiterzugeben, schrieb ich So viel Liebe wie Du brauchst - Der Weg¬begleiter für eine erfüllte Beziehung. Meine Frau Helen inspirierte und unterstütz¬te mich dabei. Helen und ich arbeiteten mit der Zeit immer intensiver zusammen und begannen auch gemeinsam zu schreiben - was sich darin zeigt, dass auf dem Cover dieses Buches nicht nur mein Name, sondern auch Helens Name zu finden ist.
Als Autoren dieses Buches möchten wir die wichtigste und herausforderndste aller Beziehungen in den Mittelpunkt stellen: die Elternschaft. Es wäre unnatür¬lich oder unglaubwürdig gewesen, hätten entweder Helen oder ich allein dieses Buch verfasst. Wir haben es gemeinsam geschrieben und verwenden deshalb auch bewusst das Wort »wir«. Bei Erfahrungen, die einen von uns beiden ganz persönlich betreffen, wird das erkennbar sein.
Wir freuen uns sehr über die Möglichkeit, unsere Gedanken zum Thema »Eltern-Sein« nun der Allgemeinheit und interessierten Berufsgruppen vorstellen zu können. Es ist beeindruckend, hier ein rasch wachsendes Interesse erkennen zu können. Wir spüren und erleben, welch großes Potenzial an Wachstum und Spiritualität in dauerhaften Partnerschaften steckt. Es wird uns eine Freude sein, uns mit diesem Thema weiterhin zu beschäftigen und neue Erkenntnisse dazu zu gewinnen.
Unsere eigene Familie
Es ist gut nachvollziehbar, dass sich unser persönliches Interesse an Fragen zum Themenkreis »Eltern-Sein« aus unserem Privatleben und der Beziehung zu unseren eigenen Kindern ableitet. Deshalb möchten wir zu Beginn ein wenig über uns selbst und unsere Kinder erzählen. Wenn wir uns im Folgenden ge¬meinsam so persönlichen Themen wie Elternschaft und bewusste Eltern-Kind-
Beziehung nähern, scheint es sinnvoll, einige Aspekte unseres Privatlebens ein¬zubringen.
Wir sind eine Patchwork-Familie und haben sechs Kinder. Jeder von uns bei¬den brachte zwei Kinder mit in die Ehe und miteinander bekamen wir noch eine Tochter und einen Sohn. Wir haben beide ein Universitätsstudium in Psycholo¬gie abgeschlossen. Harville begann seine berufliche Laufbahn als Prediger einer Baptistengemeinde und in der pastoralen Beratung. Mittlerweile kann er auf jahr¬zehntelange Erfahrung als Psychotherapeut zurückblicken. Sein besonderer Schwerpunkt liegt in der Arbeit mit Paaren. Helen engagierte sich in dieser Zeit aktiv in ihrer Gemeinde und ihr besonderes Anliegen war es, benachteiligte Men¬schen, besonders Mädchen und Frauen, auf ihrem Weg zu begleiten.
Bei unserem Bemühen, aus acht verschiedenen Persönlichkeiten eine ge¬meinsame, funktionierende Patchwork-Familie zu machen, merkten wir, wie drin¬gend und wichtig unsere Suche nach neuen Erkenntnissen über das Eltern-Sein war. Wir wollten herausfinden, was Familien helfen kann. Wir hatten sechs sehr gute Gründe, warum wir lernen wollten, wie es funktionieren könnte. Genauer betrachtet waren es sogar acht gute Gründe, wenn wir uns selbst dazuzählten. Eines der größten Geschenke aus unserer Lehrzeit als Eltern ist die Einsicht, dass jede Anstrengung, die wir unseren Kindern zuliebe tätigen, als doppelter Segen zu uns zurückkommt. Einerseits ist es ein Segen erleben zu dürfen, wenn unsere Kinder sich gut entwickeln. Das schenkt tiefe Zufriedenheit. Und anderer¬seits ist es wirklich ein Segen, seine eigene Mitte zu finden und authentischer zu werden - durch jeden Rückschlag, von dem wir uns wieder erholen, durch jeden Konflikt, den wir miteinander lösen und durch jede Schwierigkeit, die wir bewusst meistern. Das, was wir unseren Kindern geben, schenken wir uns im Grunde selbst.
Das heißt nun nicht, dass es ein leichter Weg wäre. Nicht immer hatten wir selbst den Eindruck »gesegnet« zu sein. Eltern zu sein erschien uns oft als har¬te Arbeit und es wurde nicht gerade leichter dadurch, dass unsere Erziehungs¬stile zeitweise nicht übereinstimmten. Wir waren kein harmonisches Ganzes, kein kunstvoller Wandteppich, sondern eher ein paar bunte Wollknäuel in einem gemeinsamen Strickkörbchen.
Alle unsere Kinder waren uns wirklich gute LehrerInnen und jene beiden, die noch daheim wohnen, zeigen uns weiterhin, wohin unser Weg gehen kann. Wir haben das wichtigste Werkzeug für bewusste Eltern-Kind-Beziehungen, den Imago-Dialog, mit ihnen gemeinsam erarbeitet. Es war nicht so, dass wir diese Methode entwickelt hätten und danach unsere Kinder überredet, sie uns zuliebe auszuprobieren. Sie waren echte Partner, als wir austesteten, in welcher Form der Imago-Dialog und die Theorien der Imago-Methode in einer realen Familie mit realen Kindern und Eltern angewendet werden können. Unsere ganz persön¬lichen Unzulänglichkeiten, Missverständnisse und Fehler schwingen in diesem Buch ebenfalls mit. Manchmal schienen unsere Enttäuschungen und Erschöp¬fung überhand zu nehmen und unser einziger Trost war in solchen Momenten die Überzeugung, dass manchmal zwar keine großen Veränderungen möglich sind, aber jeder kleine Schritt zu mehr Selbstreflexion und Bewusstheit schon ei¬ne entscheidende Veränderung darstellt.
Unser beruflicher Werdegang
Man kann unsere Ehe als »Learning by Doing« definieren und sie ist geprägt durch sehr gute, auch berufliche Zusammenarbeit. So entwickelten wir unsere Theorien über Liebesbeziehungen, die wir Imago-Therapie bzw. Imago-Paar- therapie genannt haben. Die wesentlichsten Inhalte dieser Methode betreffen die Ehe bzw. Partnerschaft, aber wir haben erkannt, dass alle Erkenntnisse über Partnerschaft für Elternschaft gleichermaßen relevant sind.
Wir haben beobachtet, dass jedes Bemühen um persönliche Veränderung sich positiv auf unsere Kinder auswirkt, weil sie dann unbelasteter aufwachsen und einen Großteil ihrer veranlagten Spiritualität bewahren können. Sie können so ein gesünderes und glücklicheres Leben führen - und sie müssen nicht zeit¬lebens versuchen ihre Kindheit zu verarbeiten. Die entscheidenden Hinweise, wo unsere tiefsten Verwundungen liegen, verdanken wir unseren Kindern. Sie durchschauen uns ganz besonders in Momenten, wo sich starke und unkontrol¬lierte Gefühle in uns melden. Aufbauend auf dem, wofür unsere Kinder uns die Augen öffnen - was manchmal nicht angenehm für uns ist - können wir an einer bewussten Partnerschaft arbeiten. So wird es uns gelingen, zu seelisch gesun¬den und integrierten Persönlichkeiten zu werden und das auch unseren Kindern ermöglichen. So kann Eltern-Sein zu einem spirituellen Weg werden.
Wenn wir zurückblicken auf das, was uns in all diesen Jahren am meisten fas¬ziniert hat, ist es keineswegs verwunderlich, dass unser starkes Interesse an Ehe und Partnerschaft sich auf das Thema Elternschaft und »bewusste Eltern-Kind¬Beziehung« ausgeweitet hat. 1988 veröffentlichten wir das Buch So viel Liebe wie Du brauchst - Der Wegbegleiter für eine erfüllte Beziehung. 1992 folgte ein wei¬teres Buch mit dem Titel Ohne Wenn und Aber - Zur Liebe fürs Leben - für Singles und Paare, das sich besonders an Menschen wendet, die eine gute Partner¬schaft aufbauen möchten. Weiters waren wir Ko-Autoren für zwei Arbeitsbücher, nämlich The Couples' Companion und The Personal Companion. Sie enthalten viele konkrete Übungen und Anleitungen, durch welche die Grundgedanken un¬serer beiden ersten Bücher im Alltag geübt und gut umgesetzt werden können. Um unsere Gedanken und das vielfältige Arbeitsmaterial möglichst vielen Men¬schen zugänglich zu machen, entwickelten wir die Ausbildung zum zertifizierten
Imago-Therapeuten sowie Workshops für Paare und Singles. Die Imago-Aus- bildung und die Imago-Workshops werden inzwischen in vielen Ländern der Welt angeboten und Tausende von Paaren, die daran teilgenommen haben, berich¬ten von unglaublichen Veränderungen in ihrer Beziehung.
Da wir immer wieder betonten, wie sehr sich die eigene Kindheit auf die spä¬tere Ehe oder Partnerschaft auswirkt, gab es vermehrt Stimmen, die uns ermun¬terten, ein Buch über Elternschaft und eine bewusste Eltern-Kind-Beziehung zu schreiben. Zuerst zögerten wir noch. Wir mussten uns selbst nach Kräften bemü¬hen, unsere Patchwork-Familie unter einen Hut zu bringen. Besonders mit unse¬ren älteren Kindern gab es so manche Probleme - die Theorien über bewusste Elternschaft standen uns noch nicht zur Verfügung. Wir hatten selbst so viel zu lernen, dass wir uns noch nicht dazu imstande sahen, ein Buch darüber zu schreiben. Wir spürten, dass wir zuerst selbst »studieren« mussten, um später an andere etwas weitergeben zu können. Das taten wir auch. Und nun möchten wir unsere Erkenntnisse sehr gerne weitergeben, wenn wir uns auch weiterhin selbst als Studierende empfinden. Wir haben erkannt, dass es keine Experten auf dem Gebiet der Elternschaft gibt - es gibt nur Kinder und Eltern, die auf einem guten Weg sind. Unsere Beziehungen zu unseren vier älteren Kindern, die bereits auf eigenen Beinen stehen, sind nun deutlich besser, weil wir viel dazulernen konn¬ten; und die Beziehungen zu unseren beiden jüngeren Kindern sind ausgespro¬chen gut. Trotz allem sehen wir uns selbst als Lernbeispiel und nicht als »leuch¬tendes Vorbild«.
Ehe und Eltern-Kind-Beziehung
Als wir das Buch So viel Liebe wie Du brauchst veröffentlichten, gab es bereits unzählige Publikationen zu diesem Thema. Dasselbe trifft auch auf die Themen¬bereiche »Eltern«, »Kind«, »Beziehung« und »Eltern-Sein« zu. Es gibt zahllose Bücher, Zeitschriften und Workshops, wo Eltern sich Anleitung holen können, wie sie besser mit ihren Kindern umgehen und das Leben mit ihnen mehr genie¬ßen können. Und dennoch sind wir überzeugt, dass wir in diesem Buch einige Punkte von zentraler Wichtigkeit für eine gute Eltern-Kind-Beziehung zu sagen haben, die in dieser Weise bisher noch nicht gesagt bzw. niedergeschrieben wurden.
Im Lauf der Zeit haben Pädagogen, Kinderpsychologen und andere Experten eine Menge über Kinder in Erfahrung gebracht. Dennoch beschäftigte man sich mehr mit den Kindern selbst als mit der Eltern-Kind-Beziehung. Wir wissen mehr über das Kind als Individuum, als darüber, wie Eltern und Kinder in jenem Rah¬men der Verbundenheit funktionieren, der sie beide umgibt. Es gibt jede Menge an wissenschaftlichem Material darüber, wie man das »Überleben« seines Kin¬des sichern kann, aber wir wissen nicht viel darüber, wie man die Verbundenheit zu seinem Kind sichern kann. Dies ist nur im besonderen Rahmen der Eltern¬Kind-Beziehung möglich.1
Als wir uns mehr und mehr mit der Beziehung zwischen Eltern und Kindern be¬schäftigten, kamen wir zu einer erstaunlichen Erkenntnis: jene Menschen, die die meisten Erfolgserlebnisse in ihrer Partnerschaft hatten, hatten auch die meisten Erfolgserlebnisse in ihrer Eltern-Kind-Beziehung. Es gibt zahlreiche Parallelen zwischen Ehe und Elternschaft. Beiden liegt ein Entwicklungsprozess zugrunde, in dessen Rahmen man verschiedene Phasen beobachten kann. Beide begin¬nen mit romantischer gegenseitiger Anziehung, entwickeln sich zu einem Macht¬kampf und können sich schließlich, wenn wir unsere Sache gut machen und Glück haben, zu einer gesunden und stabilen wechselseitigen Beziehung ent¬wickeln. Und unsere Imago, das internalisierte Bild von unseren Eltern, ist so¬wohl für unsere Partnerschaft als auch für unsere Eltern-Kind-Beziehung von grundlegender Bedeutung. Die Wahl unseres Ehepartners wird durch das unbe¬wusste innere Bild beeinflusst, das wir von unseren eigenen Eltern übernommen haben und in uns tragen. Auch unser persönliches Verhalten als Eltern wird sehr stark von den verinnerlichten Erfahrungen beeinflusst, die wir mit unseren Eltern in unserer Kindheit hatten.
Andererseits gibt es aber auch deutliche Unterschiede zwischen Ehe (Part¬nerschaft) und Elternschaft. Wir dürfen nie von unseren Kindern erwarten, dass sie unsere Bedürfnisse in einem ähnlichen Ausmaß erfüllen, wie wir es von un¬serem Lebenspartner erhoffen. Die Verpflichtungen und Verantwortlichkeit Ihren Kindern gegenüber unterscheiden sich signifikant von den Verpflichtungen und der Verantwortlichkeit Ihrem (Ehe-)Partner gegenüber.
Das Wesentliche ist die Bewusst-Werdung
Das Wesentliche für das Gelingen einer Paarbeziehung und in gleicher Weise ei¬ner Eltern-Kind-Beziehung ist das echte Bemühen mehr Bewusstheit zu erlan¬gen: das bedeutet, sich selbst, sein Gegenüber und seine persönliche Imago zu erkennen, die all unsere Entscheidungen und Verhaltensweisen beeinflusst. Menschen, die sowohl eine »gute« Ehe als auch eine »gute« Eltern-Kind-Bezie¬hung haben, sind Menschen, die sich dazu bereit erklärt haben, sich mit vielem bewusst auseinanderzusetzen. Sie sind dazu entschlossen zu entdecken, was sich in ihnen verbirgt. Sie möchten vorurteilsfrei die Verbindungslinie zwischen den Verwundungen ihrer Vergangenheit und ihren Verhaltensweisen in der Ge¬genwart ziehen. Es sind Menschen, denen es gelingt, ihre Verteidigungsmuster zu überwinden und neue Arten des Reagierens zu erlernen, die weniger auf das eigene Ich bezogen, sondern mehr auf die Beziehung ausgerichtet sind.
Es kostet einiges an Mühe, das zu erlernen. Für die meisten Menschen ist es sehr ungewohnt und bereitet ihnen deshalb anfangs Schwierigkeiten. Aber es lohnt sich - denn es erfüllt unser Leben mit tiefem Sinn und neuem Glück. Gute zwischenmenschliche Beziehungen bereichern unser Leben in jeder Hinsicht. Sie schenken uns unter anderem das Gefühl der Harmonie in uns selbst und ein Gefühl der Lebendigkeit und tiefen Verbundenheit mit der Welt und den Men¬schen rund um uns. Tiefe Bewusstheit zu haben bedeutet, mit dem Universum in Einklang zu leben und zu schwingen ... zu einer überirdisch schönen Melodie.
Wenn Sie sich selbst zugestehen, das Profil Ihrer eigenen emotionalen Ge¬schichte und somit die Hintergründe für Ihre heutigen Interaktionen in der Fami¬lie wahrzunehmen, dann werden Sie bald neue Energie verspüren. Sie können erkennen, wie Sie wirklich sind, und Sie können auch Ihre Kinder erkennen, wie sie wirklich sind. Bereits eine größere Bewusstheit hilft, viele Fehler zu vermeiden und jener Vision näherzukommen, die Sie für sich und die Kinder, die Sie lieben, haben.
Wie kann man nun eine größere Bewusstheit erreichen?2 Wir hoffen, dass das vorliegende Buch Ihnen dabei eine gute Hilfe und Anregung sein wird. Dieses Buch soll aber kein Anleitungskatalog sein, obwohl es so manche konkrete Empfehlung für Eltern enthält. Um dem Bedürfnis nach konkreten Theorien und praktischen Anleitungen für bewusste Eltern-Kind-Beziehungen zu entsprechen, haben wir das Arbeitsbuch Parents' Manual geschrieben. Es hilft zu erkennen, wie unsere Eltern mit uns umgegangen sind und wie sich das auf unser eigenes elterliches Verhalten auswirkt.
Weiters wurde 1998 das Buch Parents' Companion: Meditations andExercises for Giving the Love that heals (passend zum Originaltitel des vorliegenden Bu¬ches) veröffentlicht. Dieses Buch ist eine Sammlung von Impulsen, Übungen und praktischen Anleitungen, die Eltern helfen können, die Gedanken und Theo¬rien des vorliegenden Buches in sehr praktischer und konkreter Form umzuset¬zen. Aufgebaut wie ein Begleitkalender schenkt es uns auf 365 Seiten für jeden Tag des Jahres einen konkreten Tipp für bewusste Elternschaft.
Unser Schwerpunkt in diesem Buch liegt darin Eltern neue Kraft zu schenken, und zwar durch die große Vision dessen, was für Eltern und Kinder möglich ist. Wir möchten zeigen, dass bewusstes Eltern-Sein eine heilende Kraft hat und dass ganz alltägliche Aufgaben und Gespräche eine Chance für geistiges und emotionales Wachstum sind. Wenn Eltern ihrem Kind geben können, was es braucht, so geben sie dadurch auch sich selbst jene Liebe und Zuwendung, die sie brauchen, um die eigenen Wunden zu heilen. So zeichnen sie einen Kreis der Liebe, der nicht nur sie und ihr Kind einschließt, sondern einen weitaus größeren Radius hat.
Der Weg, der uns offensteht
Jeder Elternteil ist einzigartig, jedes Kind ist einzigartig, und die Beziehung zwi¬schen ihnen ist tiefer und komplexer, als wir uns je vorstellen können. Wir wollen die Vielschichtigkeit der menschlichen Erfahrungen nicht trivialisieren und vorge¬ben, dass die Interaktion mit Ihrem Kind einfach und vorhersagbar sei. Unser Ziel ist vielmehr, Ihnen herausfinden zu helfen, wer Sie sind, wer Ihr Kind ist, und Ihre Kompetenzen als Eltern zu stärken, indem Sie Informationen erhalten und ein waches Bewusstsein dafür bekommen, wie Kinder sich normalerweise entwi¬ckeln.
Sollte das für Sie nun utopisch klingen, dann seien Sie versichert, dass man keine besonderen Begabungen oder Fähigkeiten dazu braucht. Alle Eltern kön¬nen bewusster werden, wenn sie sich dafür entscheiden. Bewusstheit ist ein na¬türlicher Zustand, der für jede(n) möglich und zugänglich ist. Es sind nur zwei Voraussetzungen dafür nötig: das Erkennen, dass man nicht so bewusst ist, wie man gerne sein möchte, und die Bereitschaft, ehrlich zu reflektieren.
Ein erster Schritt dazu wäre, dass Sie uns nun Ihr Vertrauen schenken, wenn wir behaupten, eine bewusste Eltern-Kind-Beziehung sei besser als eine unbe- wusste.3 Beim Lesen dieses Buches nehmen Sie sich bitte auch Zeit, darüber zu reflektieren und nachzuprüfen, ob diese Aussage auch für Ihr persönliches Le¬ben gilt. Wenden Sie die Methoden, die wir vorstellen, probeweise bei Ihren ei¬genen Kindern an, und sehen Sie, was geschieht. Wenn es sich bewährt und Sie sich für bewusstes Eltern-Sein entscheiden, können Sie am Ende dieses Buch schließen und voll Selbstvertrauen und Eigenständigkeit auf diesem Weg weiter¬gehen.
Wir glauben, dass alle Eltern der Welt lernen könnten bessere Eltern zu sein. Aus dieser Überzeugung heraus veröffentlichen wir unsere Erkenntnisse und Vorschläge. Wenn Sie das Buch So viel Liebe wie Du brauchst bereits gelesen und sich für eine bewusste Partnerschaft entschieden haben, dann werden Sie mit manchen dieser Gedanken unter Umständen bereits vertraut sein und kaum Schwierigkeiten damit haben. Es ist aber keineswegs Vorbedingung für das Lesen dieses Buches, sich bereits mit dem Konzept bewusster Ehe und bewuss¬ter Elternschaft auseinandergesetzt zu haben.
Dieses Buch ist AlleinerzieherInnen genauso gewidmet wie Elternpaaren und Patchwork-Familien. Es wird das Interesse von Eltern wecken, die bereits Thera¬pieerfahrung haben, unter Umständen in Imago-Paartherapie; das Interesse von Eltern, für die das noch völliges Neuland ist; von Eltern, bei denen es ganz gut läuft und von solchen, die noch einen langen Weg vor sich haben. Ganz sicher ist es nicht unsere Absicht, Eltern Schuld zuzuweisen, wenn es Schwierigkeiten mit ihren Kindern gibt. Wir wollen vielmehr zeigen, dass unsere Welt nicht per¬fekt ist - bereits unsere Entwicklung und unsere Eltern waren nicht perfekt, und nun sind wir selbst keine perfekten Eltern -, damit wir unsere Rolle als Eltern ana¬lysieren, verstehen und folglich auch verändern können. Beschuldigungen sind hier fehl am Platz. Wir möchten die Dinge so sehen, wie sie sind und auch so an¬nehmen, wie sie sind. Mit der richtigen Unterstützung lässt sich erkennen, was wir verändern können.
Ihre Motivation, dieses Buch zu lesen, entspringt vermutlich dem Wunsch, ei¬ne bessere Mutter oder ein besserer Vater zu werden. Auch in vielen anderen Dingen unseres Lebens sind wir Lernende, selbst wenn wir bereits erwachsen sind. Wir möchten Sie nun einladen, uns gemeinsam mit einer neuen Vision der Eltern-Kind-Beziehung vertraut zu machen, die Ihre persönliche Ganzheit und die Ganzheit Ihres Kindes stärken und bewahren kann.
Harville Hendrix und Helen LaKelly Hunt, im Mai 1997
Teil I
Verbundenheit
i. Eine Welt der Verbundenheit
Sei selbst die Veränderung, die du in der Welt sehen willst.
Mahatma Ghandi
Unser Interesse gilt den Kindern
Mit Spannung und Erwartung hat die Menschheit ein neues Jahrtausend er¬reicht. Manches erscheint zunehmend in einem neuen Licht. Es gibt zahllose Hinweise darauf, dass wir Menschen unser Leben unter geänderten Voraus¬setzungen betrachten. Wir richten unseren Blick offensichtlich mehr als bisher auf das Verbindende als auf das Trennende.1 Eine interessante Definition ist das sogenannte »Dazwischen«2, die interaktive Energie zwischen unterschiedlichen Subjekten, die jedes einzelne prägt und definiert. Unsere Wahrnehmung tendiert eher zu Kreisen, die miteinander in Verbindung stehen, und zum Konzept des Kontinuums, als zu scharf abgegrenzten Punkten. Unsere Beobachtungen und unsere Vorstellungen entsprechen Modellen von Interaktion und Verbundenheit - dort fühlen wir unsere Wahrnehmung bestätigt.
Diese neue Weltsicht hat sich gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts im¬mer stärker durchgesetzt. Je mehr die Physik das Verhalten atomarer und sub¬atomarer Teilchen erforscht hat3, desto mehr haben ihre Theorien der Verbun¬denheit uns, die wir keine Physiker sind, geholfen, die dynamische Verbunden¬heit aller Dinge zu erkennen.
Diese relationale Perspektive war maßgeblich an der Entwicklung unserer per¬sönlichen Theorien über das Eltern-Sein beteiligt. Wir verstehen Elternschaft als eine dynamische Beziehung, in der Eltern und Kinder einander fortwährend be¬einflussen, sich weiterentwickeln und verändern. Unser persönlicher Schwer¬punkt liegt auf der tiefen Verbundenheit von Eltern und Kindern, und das erklärt, warum wir auch an Themen, die Kinder betreffen, nachhaltig interessiert sind.
In vielen Situationen unseres Alltags begegnen wir Kindern oder können einen Bezug zu ihrer Welt herstellen. Ob wir gesellschaftliche Probleme diskutieren, ob wir Menschen darin unterstützen, ihre Beziehung neu zu gestalten, ob wir Sinn und Tiefe für unser Leben suchen - wir gelangen über kurz oder lang an einen Punkt, wo Kinder und ihre Lebensrealität mit betroffen sind. Wenn wir Meldun¬gen über Gewaltverbrechen hören, fragen wir uns bestürzt, warum Jugendliche Zugriff zu Waffen haben. Wenn wir das Städtische Krankenhaus besuchen, ma¬chen wir uns Gedanken über jene Kinder, deren Eltern keine professionelle Be¬handlung bezahlen können. Wenn wir einen Artikel über das Waldsterben lesen, stellen wir uns die Frage, ob die Kinder späterer Generationen ohne Bäume auf¬wachsen müssen.
In unserer therapeutischen Arbeit haben wir uns auf den Bereich »Ehe und Partnerschaft« spezialisiert. Dieser Bereich inkludiert aber auch Erziehungsthe¬men, und von dort gelangen wir wiederum zur Lebenswelt der Kinder.
Bei uns selbst ist das nicht anders. Unser Leben dreht sich um unsere sechs Kinder, von denen vier bereits auf eigenen Beinen stehen, und zwei noch zu Hause wohnen. In Gedanken sind wir immer mit ihnen verbunden, selbst dann, wenn wir die Tür schließen und uns konzentriert unserer Arbeit zuwenden. Wenn wir uns mit Freunden treffen, ertappen wir uns nach kurzer Zeit dabei, Neuigkei¬ten über unsere Kinder auszutauschen. Auch wenn wir verreisen, bleiben unse¬re inneren Uhren gewissermaßen auf den Tagesablauf unserer Kinder eingestellt. Wenn wir Zukunftspläne schmieden, zeigt sich, dass unsere Kinder auch weiter¬hin eine wichtige Rolle in unserem Leben spielen werden.
Der Zusammenhang zwischen unserer eigenen Kindheit und unserem elterlichen Verhalten
In unserer jahrelangen intensiven Auseinandersetzung mit Ehe und Partner¬schaft konnten wir es gar nicht vermeiden, auch Einsichten in Erziehungsfragen zu gewinnen. Wir gelangten zu der Erkenntnis, dass wir eheliche Verhaltensmus¬ter nur dann entschlüsseln konnten, wenn wir den Kindheitserfahrungen beider Partner auf den Grund gingen.
Diese Einsichten bilden den konzeptuellen Rahmen des vorliegenden Buches. Wir gewannen einen Einblick in die Komplexität familiärer Beziehungen, und dar¬aus entwickelte sich das Konzept der bewussten Elternschaft. Wieder ein Hin¬weis darauf, dass alles miteinander in Verbindung steht. Wir möchten unsere Er¬kenntnisse hier in Form eines kurzen Überblicks anführen und im weiteren Ver¬lauf des Buches detaillierter auf sie eingehen.
Wir erkannten, dass Verletzungen wie ein Erbe weitergegeben werden. Als wir Klienten über ihre frühkindlichen Erfahrungen befragten, begannen wir zu verste¬hen, wie negative Verhaltensmuster von einer Generation zur nächsten weiter¬vererbt werden.4 Hat ein Vater beispielsweise während einer bestimmten Ent¬wicklungsphase entweder zu viel oder zu wenig Aufmerksamkeit bekommen, wird es schwierig für ihn sein, das Wachstum seines eigenen Kindes in dersel¬ben Phase zu fördern. Nehmen wir an, seine Eltern haben ihn als 13-Jährigen nicht adäquat behandelt. Wenn sein eigenes Kind im selben Alter ist, wird er ver¬unsichert sein, dessen besondere Bedürfnisse innerhalb der jeweiligen Entwick¬lungsphase zu erfüllen. Und genauso wird wiederum sein Sohn vor der Heraus¬forderung stehen, seine Kinder in dieser Phase zu unterstützen ... Die Erkennt¬nis, dass Eltern ihre Kinder in der gleichen Entwicklungsphase verwunden, in der sie selbst verwundet wurden, eröffnete uns einen ganz neuen Blickwinkel für fa¬miliäre Probleme, die den Eltern selbst oft einfach rätselhaft erschienen.
Wir erkannten, dass Menschen heiraten und Kinder bekommen, weil das in ih¬rem inneren Wesen angelegt zu sein scheint. Es gibt aber keine »automatische Programmierung«, die ihnen hilft, diese Herausforderungen gut zu bewältigen. Wir fanden heraus, dass Menschen in der Hoffnung heiraten, dadurch ihr (seeli¬sches) Überleben zu gewährleisten. Sie hoffen unbewusst, dass der Partner ih¬re unerfüllt gebliebenen Kindheitsbedürfnisse stillen kann. Wie das konkret ge¬lingen könnte, wissen sie jedoch oft nicht. Menschen werden Eltern und haben die besten Absichten, die Überlebensbedürfnisse ihrer Kinder zu erfüllen und sie mit Freude großzuziehen. Wie das konkret gelingen könnte, wissen sie jedoch oft nicht. Sowohl für ihre Eltern-Kind-Beziehung als auch für ihre Partnerschaft nehmen viele Leute gerne Anleitung und Unterstützung in Anspruch, um ihre Ziele besser erreichen zu können.
Wir erkannten, dass genau jener Punkt, an dem Eltern im Umgang mit ihren Kin¬dern »nicht mehr weiter wissen«, ein Hinweis darauf ist, wo sie selbst in ihrer Ent¬wicklung »blockiert« wurden. Menschen zeigen dieselben Verhaltensmuster und Schwierigkeiten sowohl in ihrer Ehe als auch in ihrer Rolle als Eltern, weil diese Schwierigkeiten dieselben psychologischen Wurzeln haben. Wenn eine Frau ein bestimmtes Bedürfnis ihres Mannes nicht erfüllen kann, wird sie es mit großer Wahrscheinlichkeit auch ihrem Kind gegenüber nicht erfüllen können. Was sie ihrem Mann nicht geben kann, kann sie auch ihrem Kind nicht geben. Für uns war es ganz besonders interessant, den Grund dafür herauszuarbeiten. Die Tat¬sache, dass eine Frau ein konkretes Bedürfnis nicht erfüllen kann, hat mehr mit ihr selbst und mit ihrer Kindheitsgeschichte zu tun, als mit ihrem Mann, ihrem Kind oder damit, was die beiden von ihr brauchen. Sie kann nicht geben, was sie selbst nicht bekommen hat. Damit sie die legitimen Bedürfnisse ihres Kindes (und ihres Partners) sehen und erfüllen kann, muss sie zuerst erkennen, was sie selbst von ihren Eltern nicht bekommen hat. Dann muss sie für sich einen Weg finden, dieses Defizit auszugleichen. Wenn sie sich auf einen Heilungsprozess einlässt, kann sie sich von dem Zwang befreien, ständig eine Verteidigungshal¬tung einzunehmen. Das wiederum macht sie frei dafür, die Menschen in ihrem Umfeld wirklich wahrnehmen und ihnen »antworten« zu können.
Wir erkannten eine verblüffende Parallele zwischen den Zielen, ein bewusster
Ehepartner bzw. ein bewusster Elternteil zu werden. Wir waren erstaunt, dass bei¬de Ziele ganz ähnliche Fähigkeiten und Verhaltensweisen voraussetzen. Eine Frau, die eine bewusste Partnerin werden möchte, muss einiges an sich verän¬dern: ihre Tendenz negativ zu reagieren, zu kritisieren, zu urteilen und sich de¬fensiv zu verhalten. Es ist wichtig für sie, den Imago-Dialog anzuwenden; es ist wichtig, über sich hinauszuwachsen, sich sozusagen »zu dehnen«, um die Be¬dürfnisse ihres Partners erfüllen zu können, auch wenn sie sich dabei unbehag¬lich fühlt. Es ist wichtig, zu lernen, eine Atmosphäre emotionaler und physischer Sicherheit zu schaffen. Es ist wichtig, Grenzen zu setzen und einzuhalten, die so¬wohl Verbundenheit als auch Eigenständigkeit ermöglichen. Paare stehen hier vor genau denselben Herausforderungen wie Eltern, denen bewusstes Eltern¬Sein ein Anliegen ist. In beiden Fällen lernen Elternteile bzw. Partner, wie sie Si¬cherheit, Unterstützung und Struktur in ihr Leben integrieren können, um eine gute seelische und geistige Verbundenheit mit den Menschen zu pflegen, die sie lieben.
Wir erkannten, dass zwischen Elternschaft und Ehe ein entscheidender Unter¬schied besteht und zu berücksichtigen ist. In einer bewussten Beziehung wach¬sen die Partner über sich hinaus, indem sie »sich dehnen«, um den Bedürfnissen ihres Partners entgegenzukommen. Sie finden selbst Heilung, indem sie lernen, die Bedürfnisse ihres Partners zu erfüllen. Dieser Prozess ist ein wechselseitiger. Innerhalb einer Ehe bzw. Paarbeziehung ist es daher völlig in Ordnung, wenn wir uns nach Kräften um unser seelisches Wachstum bemühen, um die Bedürfnisse des anderen erfüllen zu können. Es ist aber nicht in Ordnung, wenn ein Erwach¬sener erwartet, dass sein Kind seine Bedürfnisse erfüllt. In der Beziehung zwi¬schen Eltern und Kindern sind die Rollen nicht austauschbar. Eltern müssen ih¬re eigenen Kindheitsverletzungen in einer Erwachsenenbeziehung heilen - das kann nie die Aufgabe ihres Kindes sein.
Wir erkannten, dass Eltern dennoch in ihrer Elternrolle Heilung finden können. Das heilende Potenzial einer verbindlichen Partnerschaft liegt darin, dass die Partner zu ihrer »ganzen« Persönlichkeit zurückfinden, indem sie verlorene Selbstanteile neu integrieren. Sie können sich »dehnen« und über sich selbst hinauswachsen, indem sie lernen, dem Partner gerade das zu geben, was ihnen am schwersten fällt. Und dasselbe gilt für die bewusste Eltern-Kind-Beziehung: sie ist insofern heilend, als dass Eltern ihre persönliche Ganzheit wiedererlan¬gen, indem sie sich dehnen, um die Bedürfnisse ihres Kindes zu erfüllen. Eine besondere Herausforderung für Eltern ist das während jener Entwicklungspha¬sen, in denen ihre eigene Entwicklung defizitär war. In der Paarbeziehung eben¬so wie in der Elternrolle eröffnen sich gute Möglichkeiten, verloren gegangene Selbstanteile wieder zu integrieren. Partner oder Eltern zu sein eröffnet die Chance, für sich selbst genau das in Anspruch zu nehmen, was man seinem
Partner oder seinem Kind schenkt. Das, was man gibt, bekommt man auch selbst. So gesehen sind sowohl Partnerschaft als auch Elternschaft eine Chance für persönliche Verwandlung. Sie sind eine Chance, Heilung zu finden, und da¬durch unseren Charakter zu ändern.
Es macht uns betroffen, wenn wir sehen, wie viel Leid Menschen erleben, wäh¬rend sie versuchen, die »Schäden« ihrer Kindheit zu reparieren. In der Entste¬hungsphase dieses Buches haben wir uns diese Frage in ihrer globalen Dimen¬sion gestellt: Wie sähe das Leben von Erwachsenen aus, müssten sie nicht ei¬nen Großteil ihrer Zeit und Energie investieren, um über ihre Kindheit hinwegzu¬kommen? Wie sähe unsere Gesellschaft aus, gäbe es weniger verwundete Er¬wachsene? Umgekehrt betrachtet drängt sich die Frage auf, ob unsere Gesell¬schaft überhaupt einen Weg aus der Krise finden kann, ohne in den Bereichen »Partnerschaft« und »Elternschaft« eine neue Ebene der Bewusstheit zu errei¬chen.5
Unsere Sicht der Dinge
Aufbauend auf diesen Erkenntnissen haben wir ein Theoriemodell über bewuss¬te Elternschaft entwickelt, das sich auf eine philosophische Basis stützt: der gei¬stige Hintergrund unseres Verständnisses von Eltern-Kind-Interaktionen.
Die Verbundenheit von Eltern und ihren Kindern hat uns zu einer Vision inspi¬riert, die wir poetisch und metaphorisch zum Ausdruck bringen möchten. Eine Metapher kann eine tiefer liegende Wahrheit ans Licht bringen und einen guten Bezug zum eigentlichen Kern einer Fragestellung herstellen. Das bedeutet nicht, dass unsere Vision der realen Welt nicht standhalten kann. Im Gegenteil, sie kann unser Denken und unsere Intentionen als Eltern entscheidend beeinflus¬sen. Wir können versuchen, unser Handeln danach auszurichten und mit dieser Vision in Einklang zu bringen, um sie Realität werden zu lassen.
Unsere erste Metapher ist die gemeinsame »Lebenswelt« von Eltern und Kin¬dern. Manchmal ist diese »Welt« so groß, dass sie bis zum Horizont reicht, und manchmal so klein wie der Raum zwischen zwei Menschen, die einander fest umarmen. Die Anziehungskraft, das tiefe innere Band, das die beiden in einer Beziehung zusammenhält, ist grundsätzlich stark, wobei das Alter eines Kindes oder seine physische Entfernung keine Rolle spielt.
Eine zweite Metapher, mit der wir Ähnliches zum Ausdruck bringen möchten, ist das Bild eines Wandteppichs. Wir können die Interaktionen zwischen Eltern und ihren Kindern mit einem Wandteppich voll lebendiger Erfahrungen verglei¬chen, der aus unzähligen Fäden und Knoten geknüpft ist. Jeder ist Teil des Ge¬samtbildes. Man kann nicht genau erkennen, wo ein Faden anfängt, der andere aufhört, und wo sie einander kreuzen - sie sind untrennbar miteinander verwo¬ben. Und dennoch sind es einzelne, eigenständige Fäden, die man voneinander unterscheiden könnte. Es ist entscheidend, dass Eltern Grenzen respektieren und immer vor Augen haben, dass sie selbst und ihr Kind nicht dieselbe Identität haben. Dennoch sind ihre Lebensfäden miteinander verwoben. Das gilt sowohl für biologische Familien als auch für Familien, die erst im späteren Leben »zusammengefügt« werden.
Mit diesen beiden Metaphern wollen wir unserer festen Überzeugung Ausdruck verleihen, dass Eltern und Kinder zutiefst miteinander verbunden sind. Die Gedanken, Methoden und Anleitungen in diesem Buch beruhen durchwegs auf dieser Überzeugung. Sie und Ihr Kind sind in einer tiefen, »heiligen« Weise miteinander verbunden. Es gibt kaum eine tiefere Verbundenheit als jene zwischen Eltern und ihren Kindern. Seien Sie sich dessen bewusst und begegnen Sie einander mit Achtsamkeit und Respekt. Ihre Verbundenheit könnte auch verloren gehen.
Tag der Veröffentlichung: 24.05.2011
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