Endlich öffnete er die Tür, lächelte vorsichtig. Blonde Haare, grüne Augen. Er war bleicher als sonst, doch insgesamt machte er einen zufriedenen Eindruck.
„Andre!", rief sie begrüßend. Sie flog ihm um den Hals und hauchte Küsse auf seine Wangen. Er schien nicht erfreut sie zu sehen, blickte verlegen zu Boden.
„Komm doch herein, Melanie", sagte er geziert und sie wusste, dass er sie am liebsten wieder vor die Tür gesetzt hätte. Das fand sie schade. Sie hatte sich in den letzten Monaten nach ihm gesehnt. „Du hast nicht mehr angerufen", bemerkte sie nebenbei und stolzierte in die Küche. Sie warf einen schnellen Blick herum und ging weiter ins Wohnzimmer.
„Ich hatte keine Zeit. Und dann war ich lange im Krankenhaus. Ich bin seit einer Woche wieder zu Hause."
Sie reagierte nicht. Entweder sie hatte ihm wieder einmal nicht zugehört, oder ihr fiel kein belangloser Kommentar dazu ein. Sie blieb kurz stehen, um einen Blick in den Spiegel zu werfen, der an der Wand hing. Ihre Haare glänzten, ebenso die Zähne, die zwischen ihren Lippen hervor strahlten.
Ihr Lächeln verschwand jedoch, und kurz stellte er sich vor, dass es angenehm wäre, wenn sie sich Sorgen machen würde.
„Ich habe erst gestern erfahren, wo du jetzt wohnst. Himmel, das hier ist vielleicht eine Provinz." Sie wollte
noch weiterplappern, doch dann hielt sie inne. Sie starrte die Wand an. Andre sah, was sie sah.
Melanie wurde von dem Bild, das hier hing, um einige Schritte näher gezogen. Sie erkannte sofort, mit wie viel Liebe er dieses Bild gemalt hatte. Im nächsten Moment hatte sie sich wieder gefangen. Sie setzte sich auf die Couch und schlug einen seiner Skizzenblöcke auf, die im ganzen Haus verstreut lagen. Da war sie wieder. Immer wieder dieses Mädchen.
„Hast du noch mehr dieser Bilder?" Ihr Gesicht hatte einen geschäftsmäßigen Ausdruck.
„Fertige? Nur ein paar Hundert. Weiß noch nicht, ob ich sie dir geben will."
„Bist du verrückt? Du fängst nicht dieses Mädchen ein, du hältst Gefühle fest. Leute lieben so etwas. Sie werden nicht wissen, wieso, aber sie werden dieses Bild lieben. Das ist die Mona Lisa von Morgen." Sie blätterte hektisch die Seiten um.
„Sie ist etwas Besonderes, das stimmt."
„Ja. Oh, ja. Und das müssen wir ausnützen. Musen kommen und Musen gehen, aber das ist toll. Bau keinen Scheiß, Andre, vergraul sie nicht. Das Bild ist toll, die Skizzen einigermaßen, aber du musst da weitermachen."
„Sie bleibt mir auf ewig erhalten", murmelte Andre glücklich.
Melanie verdrehte die Augen. „Ja, ja natürlich! Wir beide wissen genau, was du kannst, und was du nicht kannst. Mädchen zeichnen kannst du. Alles andere nicht."
Sie war sauer. Er hätte es wissen müssen.
„Sie bleibt für immer bei mir." Bevor Melanie wieder etwas sagen konnte, hob er ungeduldig die Hand und sah fest in ihre Augen. „Sie ist tot."
Aristoteles - Die Poetik
Mein grünes Buch hat A4-Format. Es ist etwa dreihundert Seiten stark, also ist es viel zu dick und zu groß, um in eine normale Handtasche zu passen. Es hat einen Papiereinband, grün und gelb, verwaschen, vermischt- aber nicht gebatikt oder gar marmoriert.
Die Wahrheit ist, ich habe keine Ahnung, wie die Farben auf den Einband gebracht wurden. Aber es sieht toll aus.
In mein grünes Buch schreibe ich alles. Wirklich alles. Es ist kein Tagebuch. Ich schreibe nicht über meine Erlebnisse. Ich schreibe nur das auf, was ich mir denke. Jahre später lese ich das dann durch und frage mich: Mein Gott, wie konnte ich nur so etwas denken?
Mein grünes Buch habe ich in Wien am Christkindlmarkt beim Karlsplatz gekauft. Dieser Weihnachtsmarkt hat mehrere Vorteile. Erstens, ist nie so gut besucht, wie der am Rathausplatz. Man muss also keine Ellbogentechnik anwenden, um etwas sehen zu können und es gibt schönere Dinge. Wertvolle Dinge, Kunsthandwerk heißt das wohl.
Wenn ich nicht schreibe, dann lese ich.
Verrückte Sachen, gute Romane, kitschige Liebesgeschichten, erotische Gedichte oder verwirrende Sachbücher. Im Grunde ist es mir vollkommen egal, was ich lese. Hauptsache, ich darf es lesen und darüber nachdenken.
Kurz nach der vorletzten Klasse legte ich auch meine Abneigung gegen knallbuntes, winzig klein Gedrucktes aus den Reclamheftln ab. So war ich ziemlich gut gebildet, als ich starb.
Dass ausgerechnet ich zuerst den Löffel abgeben sollte, klingt bei zwei Urgroßmüttern, vier Großeltern und drei Urgroßtanten doch recht unwahrscheinlich. Ich habe mich niemals näher mit dem Tod beschäftigt, niemals über meinen eigenen Tod nachgedacht. Mit zwölf wollte ich einmal sterben, aber das ist eine andere Geschichte.
Grundsätzlich ist der Tod auf jeden Fall etwas, über das ich nicht nachdenke.
Also, jetzt natürlich schon, gezwungenermaßen.
An meinem Todestag hatte ich den ganzen Nachmittag hinten im Garten zwischen den lästigen Ameisen im Gras gelegen und gelesen. Ich weiß es noch genau, ich las „Aristoteles: Die Poetik".
Ich weiß nicht, wieso. Ich hätte ja auch etwas Schönes lesen können. Oder zumindest etwas Interessantes. Doch es schien mir ein stinknormaler Tag zu sein. Ich konnte ja morgen etwas anderes lesen. Aber ich las ja alles, was mir in die Hände fiel.
Nicht immer holte ich mir die Bücher, die für mich geeignet waren. Als ich Isabel Allendes Geisterhaus las, war ich noch keine elf. Natürlich nahm ich mir aus Büchern nur das heraus, was zu diesem Zeitpunkt wichtig für mich war. Die Geschichte an sich, oder die verschiedenen Figuren. Diese Art zu leben und zu lesen zauberte die verrücktesten - und interessantesten - Dinge, Gedanken und Menschen in meinen Kopf.
Gedanken, die ich während dem Lesen hatte, schrieb ich höchst sorgfältig in mein grünes Buch.
Zuerst dachte ich: Himmel, wer Die Poetik liest und dann auch noch ernst nimmtr der hat schon verloren. Ich hatte wirklich keine hohe Meinung von Aristoteles, als ich so vor mich hin schmökerte. Ich dachte: „Rational über Kreatives Schreiben schreiben? Als o, echt nicht! Der hat sie ja nicht mehr alle!"
Beim Schreiben gibt es für mich keine Regeln. Man schreibt nicht für die Leute, die es lesen, man schreibt für einen selbst. Das kann den Leuten doch egal sein, welche Regeln man beachtet.
Dann rundete ich meine Gedanken insoweit ab, dass man sich vorstellen konnte, was ich meinte. Na ja, das kam dabei heraus:
„Ich bezeichne die Sprache als anziehend geformt, die Rhythmus und Melodie besitzt."
Wie Aristoteles in seiner „Poetik" schreibt, braucht eine Tragödie sechs Dinge, um eine echte Tragödie zu sein. Diese wären: 1. Mythos, 2. Charaktere, 3. Erkenntnisfähigkeit (wobei ich das noch nie so richtig verstanden habe: was soll das da jetzt?), 4. Sprache, 5. Inszenierung und 6. die Melodik.
Wobei Mythos bei Aristoteles nichts anderes als Handlung bedeutet.
Die meisten griechischen Tragödien setzen ja voraus, dass man sich sowohl mit Göttern als auch mit Heldensagen auskennt. Heute kann man ja nicht einmal mehr voraussetzen, dass die Leute wissen, dass zu Weihnachten Jesu
Geburt gefeiert wird. Schade, wie schnell die Welt vor die Hunde geht, nicht wahr?
Was Aristoteles aber noch unentbehrlich findet, ist Schauererregendes und Jammervolles. Klingt das nicht schön?
Jammervolles soll man übrigens nicht planen. Es soll die Folge von etwas sein, also etwas Unvermeidbares. Oder auch etwas, dass die Handlung erst ins Rollen bringt, wie zum Beispiel: Ödipus tötet seinen Vater, ohne es zu wissen.
Das ist tragisch. Oder so.
Es dämmerte bereits und ich überlegte, ob ich ins Haus gehen sollte. Ich beschloss, noch spazieren zu gehen. Aber das waren die letzten Sätze, die ich in mein grünes Buch geschrieben habe, bevor ich starb.
Ich hatte ja keine Ahnung, dass ich selbst in einer Riesentragödie drinsteckte. Oder bald drinstecken würde. Oder gleich sterben würde. Sonst hätte ich bestimmt nicht mit „Oder so" geendet. Sondern mit irgendetwas Grandiosem, dass sich in die Hirne der Menschheit einbrennt und mich berühmt macht.
Wenn wir in einer bösen Großstadt gewohnt hätten, wäre ich wohl nicht auf den Gedanken gekommen, im Fast-dunkeln spazieren zu gehen.
Man liest ja alles Mögliche in der Zeitung. Dass man wegen zwei Euro schon zusammengeschlagen wird, oder dass man von betrunkenen Zwölfjährigen aufgeschlitzt wird, weil sie keine Eltern haben und deshalb kein Taschengeld bekommen.
Jedenfalls passiert so etwas bei uns nicht.
Wir sind ja auch keine Großstadt. Das hier ist nicht einmal eine Kleinstadt. Es ist ein Dorf. Niemand wäre auf die Idee gekommen, dass irgendjemandem irgendetwas Schlimmes passieren könnte.
Wenn es tatsächlich einmal ein Duell zwischen einem Kraftfahrzeug und einem Lebewesen gab, dann war besagtes Lebewesen ein Reh oder ein Igel oder im schlimmsten Fall des Nachbars Katze. Traurig, aber tragödienlos.
Isabel Allende - Das Geisterhaus
Der Tag war heiß gewesen, viel zu heiß und sehr schwül.
Jetzt, wo es dunkel wird, kühlt es soweit ab, dass es angenehm ist. Als ich den Waldweg zurück nach Hause einschlage, ist es bereits stockdunkel. Aber noch macht mir das nichts aus. Erst später sollte ich Angst vorm Dunkeln bekommen.
Ich habe schwarze Jeans an, aber ein weiß und lilafarbenes T-Shirt, mit dem man mich eigentlich gut sieht.
Natürlich bemerke ich das Auto. Es ist hinter mir und kommt sehr schnell näher. Ich drehe mich kurz um, gehe dann aber weiter. Ich schlurfe ganz am Rand des Weges und nehme an, dass der Fahrer mich entweder gar nicht bemerkt, oder aber einfach weiterfährt.
Was ich natürlich nicht sehe, ist, dass der betrunkene Trottel gerade seine brennende Zigarette fallen lässt.
Er fingert mit einer Hand danach, schafft es nicht, sie zu erwischen, nimmt die andere Hand und rutscht vom Lenkrad ab.
Normalerweise fährt das Auto einfach ein Stück ins Feld, die kleine Böschung hinunter, und nichts passiert. Aber diesmal stehe ich zwischen Auto und Feld. Ich bemerke zu spät, dass das Fahrzeug mir gefährlich nahe kommt und spüre nur den Schmerz, als es mich niederstößt. Schließlich steht das Fahrzeug wieder still und ich bleibe halb unter dem Auto liegen.
Der Fahrer bemerkt mich nicht. Er flucht und ist sauer, weil er im Feld steht. Betrunkenen passiert oft nichts. Betrunkene haben meistens Glück.
Er steigt nicht aus, um zu Fuß weiter zu gehen.
Wisst ihr, dann wäre mir vielleicht gar nichts passiert. Ich wäre irgendwann schwer verletzt unter einem Auto gefunden worden.
Der Fahrer legt den Rückwärtsgang ein und fährt noch einmal über meinen Körper. Ich spüre Schmerzen, alles schwarz.
Auszug aus meinem grünen Buch, geschrieben vor einigen Jahren:
„Nachdem Ferula ihre Schwägerin geküsst hatte, ging sie an ihr vorbei und
verließ den Raum. [...] Clara öffnete die Augen. [...] „Ferula ist gestorben",
verkündete sie."
Isabel Allendes „Geisterhaus" las ich das erste Mal, als ich zehn oder elf Jahre alt war. Es faszinierte mich bis in mein Innerstes.
In dem Roman geht es um eine Familie, und die Geschichte wird von den 1920er Jahren bis ins diktatorische Chile der 70er weitererzählt. Es heißt immer, Isabel Allendes Bücher gehören dem Magischen Realismus an. Ich habe noch niemals etwas Ehrlicheres, Wirklicheres gelesen. Trotz der für mich als Kind komplizierten Vorfälle, der vielen verschiedenen Figuren und der breiten Weite der Adjektive, kam ich von Allende nicht mehr los.
Realität und Fantasie verschmelzen einfach. Du glaubst während dem Lesen nicht nur, dass es wahr ist, du weißt ganz genau, dass es so geschehen könnte. Dass Geister kommen, um sich zu verabschieden. Dass man ganz genau weiß, wie man stirbt. Es wäre schön und schrecklich. Man könnte sich darauf vorbereiten und würde an dem Tag sofort aufgeben, auch wenn man vielleicht noch gar nicht bereit ist, die Welt zu verlassen.
Meine Mutter hat ein spezielles Gefühl. Ihren sechsten Sinn, nennt das mein Vater. Wenn jemand gestorben war, und das Telefon klingelte wegen der Nachricht, dann wusste sie schon, was der Anrufer sagen würde. Ich finde das noch immer gruselig und bin froh, dass ich überrascht werde. So etwas muss man echt nicht im Vorhinein wissen.
Meine Mutter hat also ein seltsames Gefühl wegen mir. Da sie mich im Haus nicht finden kann, ruft sie die Polizei und schickt meinen Vater und den Nachbarn los, um mich zu suchen. Sie spürt nicht meinen Tod, sie spürt meinen Schmerz und dass ich Hilfe brauche. Alle sagen immer, dass die Polizei nicht sucht. Alle sagen immer, dass erst ein oder zwei Tage vergehen müssen, bis irgendetwas passiert. Ich weiß nicht, ob sie meiner Mutter einfach glauben, aber sie kommen sofort.
Die Polizisten finden mich nach etwa vier Stunden. Ich bin wach, und ich höre, wie sie es sagen. Ich danke allen
höheren Mächten, dass mein Vater mich nicht so finden muss und mich so sehen kann. Ich will nicht sterben.
Als der Krankenwagen kommt, bin ich noch immer bei Bewusstsein. Sie sehen mich, wundern sich, warum ich noch lebe. Die Ärzte wissen es und ich weiß es auch.
Ich sollte schon längst tot sein.
Das nächste Krankenhaus ist etwa eine dreiviertel Stunde von uns entfernt, auch im Krankenwagen. Die
Rettungssanitäter haben keine Hoffnung, dass ich überleben könnte. Sie versuchen natürlich, mich am Leben zu halten. Alles andere wäre ja auch gegen das Gesetz.
Doch sie lassen meine Mutter zu mir.
Während der Fahrt beugt sich meine Mutter über mich. Sie weint so sehr, dass sie mich kaum sieht. Sie kann nicht richtig atmen, keucht flach und schnell, als hätte sie meine Schmerzen. Sie streichelt meine Wangen. Verzweifelt blinzelt sie die Tränen weg, um in meine Augen sehen zu können. Aber es kommen immer neue nach.
Ich will das nicht. Ich will leben. Ich will meinen Vater wiedersehen und meine Geschwister. Ich liege da, und sehe in die Augen meiner Mutter. Und da weiß ich es plötzlich.
Es ist soweit.
Tag der Veröffentlichung: 24.05.2011
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