Kapitel 1
Das Geheimnis gegenseitiger Anziehung
»Der Charakter des menschlichen Wesens,
zu dem wir uns hingezogen fühlen,
zeigt unseren eigenen Charakter.«
Ortega y Gasset
Kommen Paare zu mir in die Beratung, frage ich sie immer, wie sie sich kennengelernt haben. Maggie und Victor, ein Ehepaar Mitte der Fünfzig, die sich mit Scheidungsgedanken trugen, erzählten mir folgende Geschichte:
»Wir trafen uns an der Universität«, erinnerte sich Maggie. »Wir wohnten in einem großen Haus zur Miete, teilten uns eine Küche. Als ich eines Tages mein Frühstück zubereitete, erblickte ich diesen Mann - Victor -, der gerade in die Küche kam. Plötzlich überfielen mich die merkwürdigsten Empfindungen. Meine Füße wollten mich zu ihm bringen, doch gleichzeitig befahl mir mein Kopf, auf Distanz zu bleiben. Ich spürte diese Gefühle so stark, daß ich dachte, ich würde ohnmächtig, und ich setzte mich schnell auf einen Stuhl.«
Nachdem sich Maggie von diesem Schock erholt hatte, machte sie sich mit Victor bekannt, und beide verbrachten den halben Morgen im intensiven Gespräch. »Damit begann unsere Ge¬schichte«, sagte mir Victor, »in den nächsten zwei Monaten verbrachten wir jede freie Minute zusammen, um schließlich gemeinsam durchzubrennen.«
»Wäre es damals eine sexuell freiere Zeit gewesen«, fügte Maggie hinzu, »wären wir wohl gleich ein Liebespaar geworden. Noch nie zuvor habe ich mich so stark von einem anderen Menschen angezogen gefühlt.«
Nicht jede erste Begegnung bringt derartig seismische Schwin¬gungen hervor. Rayna und Mark, beide zehn Jahre jünger, erlebten eher eine länger andauernde und viel gemäßigtere Phase des Kennenlernens. Sie trafen sich bei einer gemeinsamen Freundin. Rayna hatte ihre Freundin gefragt, ob diese nicht interessante unverheiratete Männer kenne. Die Freundin erwähnte Mark, einen attraktiven, gerade geschiedenen Mann. Doch sie zögerte, beide bekanntzumachen, weil sie glaubte, sie würden nicht zueinander passen. »Er ist sehr groß und du bist eher klein«, fügte sie zur Erklärung hinzu, »er ist Protestant und du bist Jüdin.« Doch Rayna erklärte alle angeführten Gründe für bedeutungslos und meinte: »Für ein Treffen ist es doch nicht so wichtig, wie verschieden wir sind!«
Trotz ihrer Bedenken lud diese Freundin beide 1972 zu einer Wahlparty ein. »Mark gefiel mir auf Anhieb gut«, sagte Rayna. »Auf seine ruhige Art wirkte er sehr interessant. Den ganzen Abend haben wir uns in der Küche unterhalten.« Rayna lachte auf, als sie sich erinnerte: »Ich denke, ich werde wohl den Hauptteil der Unterhaltung bestritten haben!«
Rayna war sich sicher, daß Mark sie auch attraktiv fand, und erwartete seinen Anruf für den nächsten Tag. Doch nach drei Wochen hatte sie immer noch nichts von ihm gehört. Schließlich bat sie ihre Freundin, doch einmal nachzuforschen, ob Mark auch an ihr interessiert sei. Auf Drängen der Freundin lud Mark sie zu einem Kinobesuch ein. Damit begann ihre Beziehung, die sich jedoch nie zu einer leidenschaftlichen Romanze entwickelte. »Wir trafen uns eine Zeitlang, dann sahen wir uns wieder mehrere Wochen nicht. Anschließend trafen wir uns wieder, um dann 1975 zu heiraten.«
»Nur als Nebenbemerkung«, fügte Rayna hinzu, »Mark und ich sind noch verheiratet, die Freundin jedoch schon lange nicht mehr.«
Diese unterschiedlichen Geschichten werfen wichtige Fragen auf. Warum verlieben sich einige Menschen mit so großer Inten¬sität, fast auf den ersten Blick? Warum gleiten andere eher leicht von einer Freundschaft in die Ehe hinein? Warum haben so viele Paare, wie im Fall von Rayna und Mark, fast gegensätzliche Eigen¬schaften? Können wir diese Fragen beantworten, stehen uns auch die ersten, wichtigen Erkenntnisse zur Verfügung, die jeder Ehe zugrundeliegenden, unbewußten Wünsche erkennen zu können.
Das Geheimnis des Sich-Verliebens
In den letzten Jahren haben die Ergebnisse verschiedener Wissen¬schaften dazu beigetragen, unser Verständnis des Sich-Verliebens zu vertiefen, und wichtige Erkenntnisse sind aus den verschiedenen Untersuchungsgebieten zusammengetragen worden. Biolo¬gen gehen davon aus, daß eine spezifische »Bio-Logik« vorhanden ist, die den Prozeß gegenseitiger Anziehung steuert. Nach dieser eher weitgefaßten, evolutionären Sichtweise suchen wir fast instinktiv die Partner aus, die die Überlebensfähigkeit der Art optimal sichern. Männer fühlen sich zu klassisch schönen Frauen hingezogen - klarer Teint, große Augen, schimmerndes Haar, gutes Knochengerüst, rote Lippen und rosige Wangen -, nicht als Marotte oder aus modischen Gründen allein, sondern weil diese Anzeichen gleichbedeutend sind mit guter Gesundheit und Jugend, also den Merkmalen dafür, daß sich eine Frau auf der Höhe ihrer Gebärfähigkeit befindet.
Frauen suchen Männer aus anderen biologischen Gründen aus. Da Jugendlichkeit und Gesundheit für die männliche Frucht¬bar¬keit nicht in gleichem Maße von Bedeutung ist, sehen Frauen eher auf die sogenannten »alpha«-Eigenschaften, d. h. die Fähigkeit, andere Männer zu dominieren, um mehr als den ihnen eigentlich zustehenden Anteil der Beute nach Hause zu bringen. Der zu¬grun¬de¬liegende Gedanke ist, daß dieses Dominanzverhalten das Überleben der Familie eher sicherstellt als Jugend oder Schönheit. Aus diesem Grund wirkt auch ein fünfzigjähriges Aufsichtsrats¬mitglied - das menschliche Pendant zu dem männlichen Gorilla mit silberner Mähne - auf Frauen genauso attraktiv wie der junge, nette, attraktive, doch nicht besonders erfolgreiche Mann.
Gelingt es uns, für einen Augenblick unser Befremden angesichts dieser Reduktion unserer Anziehung zum anderen Ge¬schlecht auf reine Fortpflanzung und das Essen-/Geldversor¬gungspotential zu vergessen, erklärt diese Theorie doch manche Aspekte des menschlichen Verhaltens. Ob es uns gefällt oder nicht, die Jugendlichkeit und physische Attraktivität einer Frau spielt bei der Partnerwahl eine ebenso große Rolle wie der Einfluß und soziale Status eines Mannes, wie auch ein nur flüchtiger Blick in die Heiratsannoncen einer beliebigen Zeitung deutlich macht. »Erfolgreicher, 45jähriger, dynamischer Mann mit eigenem Flugzeug sucht attraktive, schlanke und sehr weibliche Zwanzig¬jährige« usw. Doch wenn auch biologische Faktoren eine gewisse Rolle spielen, gehört zum Entstehen einer Liebe noch mehr.
Nehmen wir ein anderes Gebiet, das der Sozialpsychologie, und wenden uns der sogenannten »Austauschtheorie« der Partnerwahl zu. Die Grundannahme dieser Theorie besagt, daß wir mehr oder weniger die Partner aussuchen, die uns ähneln. Befinden wir uns auf einer dieser Partnersuchmissionen, nehmen wir kühl Maß und analysieren fast geschäftsmäßig, wie Kaufleute bei einer beabsichtigten Fusion, die physischen Merkmale, den finanziellen und sozialen Status, Charaktereigenschaften wie Freundlichkeit, Krea¬tivität oder Sinn für Humor. Mit der Geschwindigkeit von Com¬putern überprüfen wir diese Angaben. Stimmt die Rechnung, klin¬geln die Glocken, und das Ersteigern beginnt.
Die Austauschtheorie erklärt menschliches Verhalten in einer angemesseneren Form als die rein biologische Auffassung. Nicht nur Jugend, Schönheit oder die soziale Stellung interessieren uns, so die Psychologen, sondern die ganze Person wird überprüft. So kann zum Beispiel die Tatsache, daß eine Frau die Blüte ihrer Jahre schon überschritten hat oder ein Mann einen wenig pres¬tige¬trächtigen Job besitzt, wettgemacht werden dadurch, daß beide besonders charmante, intelligente und einfühlsame Menschen sind.
Eine dritte Vorstellung, die »Persona«-Theorie, geht davon aus, daß das entscheidende Auswahlkriterium die perzipierte Wahr¬neh¬mung ist, in welchem Maße der andere unseren Selbstwert steigern kann. Die wichtige Frage hierbei lautet: »Welchen Einfluß hat es auf mein Selbstwertgefühl, wenn ich mit dieser Person zu¬sammen auftrete?« Diese Theorie scheint valide zu sein. Wir alle kennen das Gefühl des Stolzes oder vielleicht auch der Be¬schä¬mung, denken wir daran, wie andere unsere Partner wahrnehmen könnten. Es betrifft uns in der Tat, wie andere von ihnen denken.
Wenngleich alle drei Theorien manche Aspekte des Sichver¬liebens erklären können, bleiben doch noch Teilaspekte unserer ursprünglichen Fragestellung offen. Wie entstehen etwa - im Fall von Maggie und Victor - diese intensiven Gefühle, die so überwältigend wirken können? Warum weisen so viele Paare - wie in der Geschichte von Rayna und Mark - so gegensätzliche Eigen¬schaf¬ten auf, die sogar fast komplementär sein können?
In der Tat, je intensiver wir uns mit dem Phänomen des Sich¬verliebens beschäftigen, desto unvollständiger erscheinen uns die¬se Theorien. Wie erklärt sich zum Beispiel die emotionale Er¬schüt¬terung, die nach dem Scheitern einer Beziehung zurück¬bleibt, erklären sich die lähmenden Gefühle, die uns in Angst und Selbstmitleid befangen lassen? Einer meiner Klienten sagte mir: »Meine Freundin hat mich verlassen. Ich kann weder essen noch schlafen. In meiner Brust herrscht ein Druck, als müsse sie platzen. Ich weine fast immer und weiß nicht mehr, was ich tun soll.« Nach der Logik der vorher angesprochenen Theorien müßte er sich nach einer fehlgeschlagenen Beziehung einfach ungerührt auf eine neue Suchrunde nach einem geeigneteren Partner begeben können.
Es gibt nicht nur den einen ausschlaggebenden Faktor, der den Prozeß des Sichverliebens erklären kann: Wir scheinen differenziertere, vielschichtigere Auswahlkriterien zu benutzen, als uns diese Theorien nahelegen wollen. Vielleicht denken Sie einmal über Ihre eigenen Bekanntschaften nach. Wahrscheinlich haben Sie im Laufe Ihres Lebens Tausende von Menschen getroffen, vorsichtig geschätzt. Lassen Sie uns einmal annehmen, daß einige hundert davon auch physisch auf Sie anziehend wirkten, zumindest ausreichend, um Ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Verengen wir dieses Feld, indem wir die Austausch-Theorie zu Rate ziehen, bleiben vielleicht noch fünfzig oder hundert Menschen dieser ausgewählten Gruppe übrig, die mit Ihrem »Punkt-Wert« auf gleichem Niveau stünden. Aus diesem Grunde hätten Sie mit einer Fülle von Menschen eine engere Liebesbeziehung anfangen müssen. Doch eigentlich fühlen wir uns eher selten von einem anderen Menschen wirklich angezogen. Im Gegenteil, aus meinen Beratungsgesprächen mit Singles kenne ich die sich ständig wiederholende Klage: »Es gibt einfach nicht genug Männer (oder Frauen)!« Dabei ist die Welt regelrecht zugemüllt mit denen, die sie abgelehnt und ausgesondert haben.
Darüber hinaus scheinen sich die wenigen Menschen, die uns besonders sympathisch sind, auffällig zu ähneln. Überlegen Sie bitte einen Augenblick lang, welche Charaktereigenschaften die Menschen gemeinsam hatten, die Sie als Partner in die engere Wahl gezogen hatten. Wenn Sie eine Aufstellung über deren besonders auffällige Charaktermerkmale anfertigen sollten, würden Sie erstaunlich viele Ähnlichkeiten feststellen können, die negativen Eigenschaften eingeschlossen.
Von meinem etwas distanzierten Bezugspunkt als Therapeut kann ich immer wieder ganz deutliche Muster bei der Partnerwahl meiner Klienten entdecken. Während einer Gruppensitzung hörte ich dem Bericht eines Mannes zu, der gerade drei Monate zum zweiten Mal verheiratet war. Als seine erste Ehe zerbrach, hatte er der Gruppe geschworen, er würde nie wieder eine Frau wie seine erste heiraten. An diesem Abend nun gab er zu, daß er die Stimme seiner ersten Frau »gehört« hatte - nur aus dem Mund seiner neuen Frau. Voller Panik spürte er, daß beide Frauen fast identische Persönlichkeitsmerkmale zeigten. Scheinbar sucht jeder von uns einen Partner, der ein ganz spezielles Muster von positiven und negativen Persönlichkeitsmerkmalen aufweist.
Die Tiefen des Unbewußten
Um diesen hohen Grad an Selektivität verstehen zu können, der bei der Partnerwahl eine so bestimmende Rolle zu spielen scheint, müssen wir die Rolle berücksichtigen, die das Unbewußte spielt. In unserer heutigen Zeit, der postfreudianischen Ära, sind wir daran gewöhnt, allerlei alltägliche Ereignisse mit unbewußten Faktoren erklären zu wollen. Wir sprechen voller Kenntnis von »Freudschen Fehlleistungen«, analysieren unsere Träume und versuchen zu verstehen, wie unser Unbewußtes unser tägliches Leben prägt. Dennoch unterschätzen die meisten von uns die Kraft unserer unbewußten Anteile. Es gibt eine Analogie, die den großen Einfluß unbewußter Kräfte gut verdeutlichen kann. Tagsüber können wir die Sterne nicht sehen. Wir reden, als würden sie abends »aufgehen«, wenngleich sie doch die ganze Zeit über eigentlich vorhanden sind. Auch unterschätzen wir in der Regel die Anzahl der Sterne. Wir blicken zum Himmel hinauf, sehen das matte Schimmern einiger Sterne und nehmen an, wir hätten alle gesehen. Reisen wir einmal in eine Gegend, die nicht durch Straßenbeleuchtung erhellt ist, außerhalb unserer Städte, sehen wir plötzlich einen Himmel, der mit Sternen geradezu übersät ist, und erstaunen über diese überwältigende Fülle. Doch nur wenn wir uns ernsthaft mit der Astronomie beschäftigen, werden wir die ganze Wahrheit herausfinden können: Die hunderttausend Sterne, die wir vielleicht in einer klaren, mondlosen Nacht sehen können, stellen nur einen Bruchteil der Sterne des Universums dar, und viele der Lichtpunkte, die wir für Sterne halten, sind eigentlich ganze Galaxien. Ebenso verhält es sich mit dem Unbewußten: Die gut geordneten, logischen Gedanken unseres bewußten Verstandes sind nur ein dünner Schleier über dem Unbewußten, das ständig aktiv an unserem Leben teilnimmt.
Lassen Sie uns einen kurzen Blick auf die Struktur des Gehirns werfen, dieses geheimnisvolle und komplexe Organ mit seinen vielen Unterteilungen. Um die Dinge zu vereinfachen, greife ich auf das Modell von Paul McLean zurück und unterteile das Gehirn in drei konzentrische Schichten.
Das Stammhirn, der ganz innen gelegene, primitivste Teil des Gehirns, ist verantwortlich für die Reproduktion, den Selbsterhalt und die vitalen Funktionen wie den Blutkreislauf, Atmen, Schlafen und die Muskelkontraktionen als Reflex auf äußere Reize. Ganz am unteren Rand des Gehirns plaziert, wird dieser Gehirnanteil manchmal auch das »Reptiliengehirn« genannt, da alle Wirbeltiere von den Reptilien bis zu den Säugetieren diesen Teil der Anatomie aufweisen. Für unser hier anliegendes Problem lassen Sie uns einmal dieses Stammhirn als Quelle physischer Aktion ansehen.
Wie ein Gabelbein um das Stammhirn herumgezogen, liegt das limbische System, dessen Funktion in erster Linie darin zu bestehen scheint, lebhafte Emotionen zu erzeugen. Wissenschaftlern gelang es, diesen Hirnanteil bei Versuchstieren künstlich zu stimulieren und so spontane Angst- und Aggressionsausbrüche zu provozieren. In diesem Buch benutze ich den Begriff »Altes Gehirn«, um diese beiden Teile, Stammhirn und limbisches System, zu umschreiben. Stellen Sie sich unter dem Alten Gehirn eine eng verschaltete Einheit vor, die die meisten unserer automatischen Reaktionen steuert.
Der letzte Teil des Gehirns ist der Neocortex, eine große Ausdehnung an Gehirnmasse, der die beiden inneren Sektionen umhüllt und selbst in vier Bereiche oder Ausbuchtungen aufgeteilt ist. Dieser besonders beim Homo sapiens sehr hochent¬wickel¬te Gehirnteil beherbergt die meisten unserer bewußten Emo¬tionen und Empfindungen. Diesen Neocortex möchte ich als das »Neue Gehirn« bezeichnen, da es in der Evolutions¬ge¬schichte den jüngsten Anteil darstellt. Das Neue Gehirn ist der Teil von uns, der bewußt und offen ist und im Kontakt mit der täglichen Umgebung steht. Dieser Teil denkt, trifft Entschei¬dun¬gen, beobachtet, plant, sieht voraus, antwortet, organisiert Infor¬mationen und ist kreativ. Das Neue Gehirn ist in erster Linie lo¬gisch orientiert und sucht immer wieder die Ursache für beobachtbare Wirkungen. Bis zu einem gewissen Grade können einige instinktmäßig ablaufende Reaktionen des Alten Gehirns durch seinen Einfluß moderiert werden. Im großen und ganzen könnte man sagen, daß dieser analytische, ausprobierende, fragende Teil unseres Gehirns von uns als unsere Persönlichkeit empfunden wird.
Die Logik des Alten Gehirns
Im deutlichen Gegensatz zu dem Neuen Gehirn spielt sich der weitaus größte Teil der Aktivitäten des Alten Gehirns unbewußt ab. Der Versuch, diesen Anteil verstehen zu wollen, ist eine Aufgabe, die uns fast verrückt machen kann, da wir unser bewußtes Wahrnehmen herumdrehen müssen, um seine Unterseite entdecken zu können. Wissenschaftler, die sich sehr genau mit der Funktionsweise dieses Alten Gehirns beschäftigt haben, kamen zu dem Ergebnis, daß die Hauptfunktion des Alten Gehirns die Selbsterhaltung sei. Ein besonders interessantes Ergebnis dieser Studien ist, daß sich dieser alte Gehirnteil, im Gegensatz zum neuen, offenbar nur verschwommen der Außenwelt bewußt ist. Im Gegensatz zum Neuen Gehirn, das ständig die Umwelt¬ein¬flüsse analysiert, greift das Alte Gehirn nur auf die Bilder, Sym¬bole und Gedanken zurück, die vom Neuen Gehirn zur Verfü¬gung gestellt werden. Damit werden diese Daten in eher breite, relativ undifferenzierte Schemata gepreßt. Zum Beispiel differenziert unser Neues Gehirn leicht zwischen John und Suzy und Margaret, während unser Altes Gehirn diese drei Menschen unter sechs einfachen Gesichtspunkten untersucht. Das Alte Gehirn interessiert sich nur dafür, ob ein Mensch 1. umsorgt werden muß, 2. selber fürsorglich ist, 3. jemand ist, mit dem man sexuell verkehren kann, 4. vor dem man fliehen muß, 5. dem man sich unterwerfen sollte, 6. den man angreifen muß. Feinheiten, wie das ist »mein Nachbar«, »mein Cousin«, »meine Mutter« oder »meine Frau«, bleiben unberücksichtigt. Obwohl beide Gehirnteile so verschieden voneinander sind, tauschen sie doch ständig Infor¬ma¬tionen aus. Dieser Prozeß funktioniert folgendermaßen: Lassen Sie uns einmal annehmen, Sie seien allein im Haus und plötzlich spaziert Person A durch die Tür. Ihr Neues Gehirn ruft augenblicklich das Bild dieser Person hervor und vergleicht es mit anderen gespeicherten Informationen, schickt dieses Bild dem Alten Gehirn zur Sicherheitsüberprüfung und vergleicht es mit allen vorher gespeicherten Daten. Sofort kommt es zu einer ersten Feststellung: »Dieser Mensch ist kein Fremder.« Vorherige Treffen mit diesem Menschen sind gespeichert. Eine tausendstel Sekunde später kommen weitere Informationen: »Mit diesem Menschen sind keine gefährlichen Situationen gespeichert.« Bei allen gespeicherten Interaktionen, die mit diesem Besucher stattgefunden haben, verlief keine lebensgefährdend. Anschließend kommt noch eine dritte Beobachtung: »Mit diesem Bild sind viele vergnügliche Situationen verbunden.« Im Endergebnis scheint A als eher liebenswerte Person bewertet worden zu sein. Mit dieser Schlußfolgerung sendet das Alte Gehirn ein Entwarnungssignal, und Sie können sich selbst beobachten, wie Sie diesen Besucher mit offenen Armen empfangen. Aus Ihrem Neuen Gehirn heraus rufen Sie aus: »Liebe Tante Mary, wie schön, dich wiederzusehen!«
Dieser gesamte Prozeß lief außerhalb des Bewußtseins ab, im Bruchteil einer Sekunde. Dem bewußten Verstand wurde nur deutlich, daß gerade Tante Mary zur Tür hereinkam. Während des Besuchs der Tante setzt sich der Datensammelprozeß fort. Auch dieses neue Treffen läßt Gedanken, Emotionen und Bilder entstehen, die ins limbische System zur Speicherung übertragen werden, unter dem Stichwort »Tante Mary«. Diese neuen Daten werden so zu einem Teil des Gesamtbildes »Tante Mary«, das beim nächsten Besuch vom Alten Gehirn wieder abgerufen wird.
Sehen wir uns einmal eine etwas veränderte Situation an. Vielleicht ist die Person, die gerade zur Tür herein kam, nicht Tante Mary, sondern ihre Schwester, Tante Carol. Statt sie mit offenen Armen zu empfangen, beobachten Sie bei sich selbst, daß Sie über diese Unterbrechung eher ärgerlich sind. Warum gibt es so unterschiedliche Reaktionen auf die Besuche der beiden Schwestern? Nehmen wir einmal an, als Sie achtzehn Monate alt waren, verbrachten Sie eine Woche bei Tante Carol, während Ihre Mutter im Krankenhaus das neue Baby bekam. Ihre Eltern, die diesen Besuch vorbereiten wollten, erklärten Ihnen, daß »Mami jetzt auf Wiedersehen sagen wird, ins Krankenhaus gehen und von dort einen kleinen Bruder oder eine kleine Schwester mitbringen wird«. Die Worte »Krankenhaus«, »Bruder« oder »Schwester« blieben für Sie ohne Bedeutung. Aber »Mami«, »Auf Wieder¬se¬hen¬sagen« bedeuteten sicher etwas. Immer, wenn diese beiden Worte zusammen ausgesprochen wurden, fühlten Sie sich ängstlich und steckten Ihren Daumen in den Mund. Wochen später, als die Wehen bei Ihrer Mutter einsetzten, nahm man Sie vielleicht aus Ihrem Kinderbettchen, während Sie fest schliefen, und brachte Sie zu Tante Carols Haus. Plötzlich erwachten Sie alleine in einem fremden Raum, und die Person, die zu Ihnen kam, als Sie zu weinen begannen, war nicht Ihre Mutter oder Ihr Vater, sondern Tante Carol.
Während der nächsten Tage waren Sie ängstlich und unruhig. Auch wenn Tante Carol liebevoll und freundlich zu Ihnen war, fühlten Sie sich doch verlassen. Diese Urangst wurde mit der Tante verbunden, und noch Jahre später ließ Sie ihr Anblick oder der Duft ihres Parfüms aus dem Zimmer laufen. In den späteren Jahren erlebten Sie auch viele schöne oder eher neutrale Erleb¬nisse mit dieser Tante. Dennoch, dreißig Jahre später, betritt sie den Raum, und Sie empfinden das Bedürfnis, wegzulaufen. Nur unter großer Selbstbeherrschung gelingt es Ihnen, ihr freundlich entgegenzugehen.
Tag der Veröffentlichung: 03.05.2011
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