Ach säßest du noch hier
auf deinem Stein
auf unsrem Stein
auf dem gedankenschweren Fels
und tränkte uns die Flut
mit Salz
und über uns läg’ sanft
der Duft von hellen Dünen
Luna Jannik hockte in Mantel und Stiefeln auf der Holztreppe im Windfang
und schaute ohne Eile zu, wie Tante Evi den Reißverschluss ihres taubenblauen
Anoraks einfädelte und dabei Amazing Grace summte, ihr Anziehlied.
Häschen, der grau getigerte Kater, kam durch die Katzenklappe in der
Haustür herein und brachte den Wetterbericht mit: nasse Fellspitzen und
dreckige Pfoten. Er rieb seinen Kopf an Lunas Hosenbeinen und schnurrte
sich warm.
Evi unterbrach ihr Summen. „Dein Futter steht schon bereit“, sagte sie zu
Häschen, der daraufhin in die Küche lief. Sie fuhr fort, sich anzuziehen. Jetzt
waren die Druckknöpfe dran, einer nach dem anderen, bedächtig und konzentriert.
Mit ähnlicher Geduld, wie Luna sie jetzt zeigte, hatte Evi früher Morgen für
Morgen gewartet, während die Zwillinge Luna und Stella sich für den Kindergarten
fertigmachten. Sie hatte ihnen die Taschen mit den Pausenbroten umgehängt
und ihnen viel Spaß gewünscht. Dann hatte sie ihnen nachgewinkt,
bis sie um die Straßenecke verschwunden waren.
Luna, die stille Momente gern zum Nachdenken nutzte, überlegte, dass Geduld
keine große Anstrengung erforderte, da man ja genau wusste, was vor
einem lag. Man musste bloß darauf warten. Ganz anders verhielt es sich,
wenn man nicht wusste, was die Zukunft brachte; wenn man bangte, während
die Zeit immer langsamer zu vergehen schien, so wie an dem entsetzlichen
Tag, als Stella operiert worden war.
„Kennst du den Unterschied zwischen Geduld und Hoffnung?“, fragte
Luna, als Evi den letzten Knopf geschlossen hatte und wieder aufnahmefähig
war.
Evi schüttelte langsam den Kopf. „Nein, ich glaube nicht.“
„Geduld beruht auf Gewissheit“, sagte Luna. „Hoffnung auf Ungewissheit.“
Evi sagte „Aha“ und ließ die Worte auf sich wirken. Luna liebte es, dabei
zuzusehen, wie Evi in ihren Gedanken aufging. Sie fand Evi wunderschön mit
ihrem Gesicht, das an eine Sonnenblume erinnerte: offen und warm. Ihr langer,
blonder Zopf, den sie jeden Morgen so oft neu flocht, bis er symmetrisch
war, hing bis zur Rückenmitte, von einer ordentlichen Samtschleife gehalten.
Viele Menschen fanden, dass man Evi ihre geistige Behinderung ansah,
aber Luna konnte keinerlei Anzeichen dafür entdecken. Nur wenn sie redete,
mit einer Stimme, die jedes Wort durch nassen Sand zu schleifen schien,
wurde ihr Problem offenbar. Doch selbst diese Eigenart war Luna so vertraut,
dass sie sie nur noch selten bewusst registrierte. Sie kannte Evi schließlich,
seit sie denken konnte. Dass sie anders tickte als die meisten Menschen, war
Luna erst recht spät bewusst geworden, als sie sich einmal darüber gewundert
hatte, dass Evi immer nur in Begleitung eines Erwachsenen das Haus
verließ.
Vor knapp zwei Jahren, nach ihrem vierzehnten Geburtstag, war Luna von
ihrer Mutter Vera für verantwortungsbewusst genug befunden worden, diese
Aufgabe zu übernehmen. Wohl auch aus schierer Not, denn seit Stellas Tod
war Vera dem Alltag kaum noch gewachsen und vollauf damit beschäftigt,
nicht vor Trauer ganz in sich selbst zu verschwinden.
Evi holte den rechten Fingerhandschuh aus der rechten Anoraktasche und
streifte ihn über. Nun war der linke Handschuh aus der linken Tasche dran. Bei
Evi hatte alles seinen festen Platz und seine feste Zeit. Jeden Freitagnachmittag
um drei Uhr gingen sie gemeinsam zum Friedhof, weil Evi Stellas Grab mit
derselben Hingabe in Ordnung hielt wie das Haus.
Vera und Urban waren nie dabei, wenn Evi und Luna das Grab besuchten.
Sie kamen immer alleine her, jeder für sich.
Nur ein einziges Mal, bei der Beerdigung, war die ganze Familie dort versammelt
gewesen. Es hatte geschneit und die aufgeworfene Erde war eine
klaffende Wunde in der Schneedecke gewesen.
Trotz dieser bitteren Erinnerung liebte Luna den Schnee nach wie vor. Übermorgen
war bereits der erste Advent und immer noch war keine einzige
Schneeflocke gefallen. Luna sehnte sich nach Schnee. Dann verschwand die
Welt unter einer behutsamen Decke und die Zeit verging langsamer, sodass
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die kurzen Wintertage sich in aller Ruhe auf die Nächte vorbereiten konnten.
„Ich bin fertig“, sagte Evi, nachdem sie ihre Mütze aufgesetzt und gerade
gerückt hatte.
Luna stand von der Treppe auf, nahm den größten Schirm aus dem Ständer
und ging mit Evi in den Regen hinaus. Es war ein wütender Regen, von eiligen
Wolken auf der Flucht vor dem Wind abgeworfen wie Ballast.
Am Ende der Sackgasse, in der die Janniks wohnten, stand in einem parkähnlichen
Garten mit Laubengängen und Hochbeeten die architektonische
Sensation des Dorfes - ein Haus mit rundem Grundriss, einem Kuppeldach
und zwei Türmchen. Die Besitzer waren vor einem halben Jahr in ein Seniorenstift
gezogen. Seitdem stand das Rundhaus zum Verkauf. Luna, die es zu
gern besichtigt hätte, hatte mehrfach vergeblich versucht, den Makler zu
überreden, sie einmal bei einer Hausführung teilnehmen zu lassen.
Obwohl der Wind ihr fast den Schirm aus den Händen riss, blieb Luna auch
heute stehen und ließ den Blick einen Moment lang auf dem Haus verweilen.
Es war so rund wie der Mond ihrer Träume. Wie sah dieser Mond von innen
aus?
Sie wollte sich gerade abwenden, als die Haustür geöffnet wurde und eine
untersetzte Gestalt den langen Weg zum Gartentor hinuntereilte. Es war Trudi,
die ehemalige Haushälterin der Besitzer.
Evi, die vor Fremden immer etwas Angst hatte, wippte unruhig von einem
Fuß auf den anderen.
„Hallo“, rief Luna gegen das Wetter an, als Trudi die Gartenpforte hinter
sich geschlossen hatte. „Ist wieder jemand eingezogen?“
„Die Drostenhagens kommen morgen an“, gab Trudi bereitwillig Auskunft.
„Ich habe alles vorbereitet. Zum Glück brauchen sie eine Haushaltshilfe, so
kann ich wieder hier arbeiten.“
„Es muss für Sie so sein, als würde jemand in Ihr Haus einziehen.“
„Ja, es ist seltsam, wie man sein Herz an einen Ort hängen kann. Ich muss
weiter.“ Trudi winkte, stieg in ihren alten Polo und wendete.
Luna und Evi gingen den Fußweg hinunter, der zur Parallelstraße führte, und
dann weiter zur großen Dorfstraße, von der man zum Friedhof abbog. Als sie
zwischen den Grabreihen hindurchliefen, ließ der Regen endlich nach.
Stellas Grab lag am hinteren Ende, wo der Friedhof an den Wald grenzte.
Luna legte eine Hand auf den weißen Marmor. Wenn es nach Vera gegangen
wäre, stünde darauf: „Unser Stern hat für immer aufgehört zu leuchten.“
Doch Urban, Lunas Vater, hatte den Spruch zu endgültig gefunden, denn er
drückte nur das düstere Gefühl des Verlustes aus. Wo blieb die Dankbarkeit,
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dass es Stella überhaupt jemals gegeben hatte? Wo die Erinnerungen an dieses
sonnige Geschöpf?
Luna hatte ihm zugestimmt. In ihrem Herzen lebte Stella weiter. Und Evi
hatte etwas gesagt, das Luna bis heute verwirrte, aber auch mit Hoffnung
erfüllte: „Sie ist nicht fort. Sie ist immer noch da, nur heller als vorher, darum
können wir sie nicht sehen.“
Evi trat unter dem Schirm hervor und sah zu den grauen Wolken hoch, um
ihr Friedhofslied anzustimmen. Es war das einzige Lied, dessen Text sie auswendig
konnte, zumindest den Refrain. Stella hatte ihn ihr beigebracht.
„Über den Wolken“, sang sie mit leiser, klarer Stimme, aber undeutlicher
Aussprache, „muss die Freiheit wohl grenzenlos sein. Alle Ängste, alle Sorgen,
sagt man, blieben darunter verborgen, und dann, würde, was uns groß
und wichtig erscheint, plötzlich nichtig und klein.“
Als sie geendet hatte, wischte Evi sich den Regen aus dem Gesicht, bückte
sich, summte ihr Gartenlied und sammelte Laub auf.
Da sie sich dabei nicht helfen ließ, war Luna wieder mit ihren Gedanken
allein. Auf ihrem eigenen Grabstein würde einmal dasselbe Geburtsdatum
stehen, überlegte sie, aber ein anderer Todestag. Jede Stunde, die sie länger
lebte als ihre Schwester, war eine Stunde, die sie gern mit ihr geteilt hätte.
Während ihre Hand über den kalten, nassen Marmor strich, erinnerte sie
sich an eine Winternacht vor sieben oder acht Jahren, in der Urban mit ihr und
Stella auf die große Wiese gegangen war, die sich an das Wohngebiet
anschloss. Juchzend waren sie durch den frisch gefallenen Schnee gerannt
und hatten sich schließlich erschöpft fallen lassen. Über sich den Himmel,
unter sich den Schnee, hatte Luna sich völlig geborgen gefühlt. „Schau mal,
wie viele Spuren wir gemacht haben“, hatte Stella sich auf dem Heimweg
gefreut.
Einen Gedankensprung weiter fand Luna sich am Meer wieder. Über Dünen
waren sie gelaufen, wo man keine Spuren hinterlässt, sondern nur den Sand
neu mischt.
Dann waren sie im Herbstwald und fegten mit den Stiefelspitzen die Blätter
hin und her.
Zuletzt liefen sie barfuß durch Frühlingspfützen und hinterließen nasse
Abdrücke auf der Straße, die mit jedem klatschenden Schritt kleiner wurden.
Luna wartete, bis Eva die eingesammelten Blätter zum Komposthaufen
brachte, dann schloss sie den Schirm und sah zwischen den kahlen Ästen
einer Eiche zum Himmel hinauf.
„Meine Spuren“, sagte sie, „werden immer auch deine Spuren sein.“
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Tag der Veröffentlichung: 01.02.2011
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