Cover

Leseprobe

Orpheustränen

Zsóka Schwab

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für meinen Vater, der Humor, Weisheit und Güte in einer Person vereint. Es ist wundervoll, deine Tochter zu sein.

 

 

1

 

 

An einem Mittwochnachmittag bemerkte ich den Mann zum ersten Mal. Er stand zwischen zwei blühenden Kastanien neben der Straße, fast verdeckt von dem Flügel eines Grabengels: ein kleiner, stämmiger Typ mit Halbglatze. Er trug eine khakifarbene Trekkingjacke und nestelte mit den Fingern, als versuchte er, sie sauber zu rubbeln. Sonst war nichts Besonderes an ihm – außer, dass er den Kopf wegdrehte, als unsere Blicke sich trafen. Er sah eindeutig ertappt aus. Aber warum? Hatte er mich schon länger beobachtet? Wäre mir das nicht aufgefallen?

Nein, schoss es mir in den Sinn. Er hätte sogar noch näherkommen können. Er hätte mich stundenlang anstarren können, denn ich war einfach nicht da gewesen. Nicht wirklich. Wie so oft.

Aber warum sollte er sich gerade für mich interessieren? Auf der Hauptstraße des Friedhofs, unweit von ihm, flanierten noch zwei andere junge Frauen herum: eine rothaarige und eine blonde, beide schlank mit locker hochgesteckten Haaren, die eine im grünen, die andere im rot-gelb geblümten Frühlingskleid. Obwohl von Gräbern umgeben, lachten und schwatzten sie miteinander, genossen die milde Aprilsonne und das Gezwitscher der Spatzen in der Kastanienallee. Sie wirkten hundertmal anziehender als ich, deren gesamte Erscheinung sich mit einem Wort zusammenfassen ließ: grau. Dennoch schien der Mann sie gar nicht wahrzunehmen.

Seine eng beieinanderstehenden Glupschaugen wanderten erneut zu mir. Als er merkte, dass ich ihn immer noch musterte, zog er sich zwischen die Baumstämme zurück. Komischer Kauz

Während ich nachdenklich auf die Stelle starrte, wo er verschwunden war, brummte plötzlich das Handy in meiner Schultertasche.

»Wo bist du?«, meldete sich eine drängende Frauenstimme, als ich ranging.

»Mit wem spreche ich denn?«, fragte ich gespielt doof, um Lulu zu foppen.

»Lass den Unsinn!«, schimpfte meine Mitbewohnerin. »Sag schon, wo steckst du?«

»Äh, im Park«, schwindelte ich. Wo ich wirklich war und was ich hier tat, ging sie nichts an. Ehrlich, ich mochte Lulu, aber sie war die größte Nervensäge der Welt. Man musste sich ganz genau überlegen, was man ihr erzählte, und davon noch die Hälfte verschweigen.

»Wie schnell kannst du in der Bibliothek sein? Fünf Minuten?«

»Schwierig«, murmelte ich und wurde misstrauisch. Lulu war keine große Leserin. »Was hast du ausgeheckt?«

»Ich?«, fragte sie wie die personifizierte Unschuld, und ich sah geradezu vor mir, wie sie ihre topasblauen Kulleraugen aufriss. »Nessie, du kränkst mich! Ich habe mich bloß von meinem Onkel herschleppen lassen, der mich seit zwanzig Minuten ignoriert, weil hier offenbar alles interessanter ist als ich. Nun hocke ich aber auf der Toilette wie ein angestochenes Schwein, wenn du verstehst, und habe nichts dabei. Mein Onkel ist in einem Schwarzen Loch zwischen zwei Buchdeckeln verschwunden, und selbst wenn es ihn wieder ausspuckt, ich kann ihn nicht bitten, zur nächsten Drogerie zu laufen und dort für mich … Oh, wenn ich das tun muss, sterbe ich!«

Gut, das war nachvollziehbar.

»Ich bin da, so schnell ich kann«, versprach ich und eilte los. »Halte durch!«

Der Weg vom Friedhof zur Bibliothek betrug eine halbe Stunde Fußmarsch. Ich schaffte es in der Hälfte der Zeit, weil ich praktisch durchsprintete – nur, damit Lulu nicht merkte, dass ich sie angelogen hatte. Keuchend warf ich mich durch die Drehtür des stattlichen Art-Déco-Gebäudes, das zwischen dem Handwerksmuseum und dem Stadtpark im Kulturviertel trutzte.

Die große, lichtdurchflutete Bibliothekshalle war dicht bevölkert. Leise Schritte hallten vom gefliesten Boden, begleitet von gedämpften Stimmen und dem Geräusch umgeblätterter Seiten. Ich schloss meine Tasche im Spindraum ein und schleppte mich in den ersten Stock hinauf. Diese Etage war als breite Galerie gebaut, sodass man über ein gläsernes Geländer in die Halle im Erdgeschoss blicken konnte.

Ich komme viel zu selten hierher, dachte ich, während ich den warmen Geruch nach altem Papier und Druckerschwärze einsog. Noch immer schmerzte meine Lunge bei jedem Atemzug. Dafür schuldest du mir was, Lorelai!

Leise schlich ich über den kaffeebraunen Teppichboden zur Damentoilette in der Etagenecke und betrat den weiß gekachelten Raum.

»Lulu?«, fragte ich, und meine Stimme hallte hohl von den Wänden wider. Sonst hörte ich nichts. Dreimal rief ich nach meiner Mitbewohnerin, doch sie war offensichtlich nicht mehr da. Wenn sie überhaupt je hier gewesen war.

Mit aufwallendem Ärger stampfte ich in den Flur zurück. Toll, Lulu. Unglaublich lustig. Wahrscheinlich versteckte sie sich irgendwo zwischen den Regalen und pinkelte sich vor Lachen in die Hose. Als wären wir neunjährige Schulgören und keine Studentinnen. Wenn ich die in die Finger kriege!

»Entschuldigung«, sprach mich eine tiefe Stimme von der Seite an. »Sind Sie zufällig Agnes Moor?«

Ich wandte mich ihr zu und fand mich einem jungen Mann gegenüber, der mich durch eine schmal umrandete Brille musterte. Leicht gewellte, hellbraune Haare fielen ihm in die Stirn, etwas zerzaust, als hätte er öfter hineingegriffen. Er war etwa einen Kopf größer als ich, hatte ein klar geschnittenes, freundliches Gesicht sowie eine schlanke Statur, die in einem blaugrünen Langarmshirt und Jeanshosen steckte. Dazu trug er schlichte Lederschnürschuhe.

Ich war mir sicher, ihn noch nie gesehen zu haben.

»Woher wissen Sie, wie ich heiße?«, fragte ich folgerichtig, und zwar so laut, dass eine ältere Dame neben uns rügend mit der Zunge schnalzte. Der Mann blinzelte unsicher.

»Nun ja. Schulterlange braune Haare, dunkelgrüne Augen, Sommersprossen, gekleidet in diversen Grautönen … Die Beschreibung passt.«

»Beschreibung? Wessen Beschreibung?«

»Die meiner Nichte«, erklärte er geduldig. »Sie sagte, eine Agnes würde herkommen und sie suchen. Ich soll sie entschuldigen, weil sie dringend irgendwohin musste … In ein Modegeschäft, glaube ich, vielleicht aber auch ins Schwimmbad, um sich vor Langeweile zu ertränken, den Teil habe ich nicht ganz verstanden … Jedenfalls soll ich ausrichten, dass sie bald wiederkommt.«

Ich starrte ihn an, während zwei Gedanken durch meinen Kopf schossen. Der erste war, dass es keinen Boten gebraucht hätte, um mir diese Nachricht zu überbringen. Dafür hatten wir Handys. Der zweite purzelte direkt über meine Zunge: »Sie sind Lulus Onkel? Aber … Sie sind doch höchstens …«

»Siebenundzwanzig.« Der Mann lächelte verlegen. »Etwas ungewöhnlich, zugegeben, aber nicht kompliziert. Mein Vater – Lorelais Opa – war sechzig, als ich geboren wurde. Meine Mutter war seine zweite Frau.«

»War?«, hakte ich automatisch nach.

»Ja, er ist vor drei Jahren gestorben.«

»Oh, tut mir leid.«

Verdammt, Lulu! Hätte sie mich nicht vorwarnen können? Nein, denn dann wäre ich nicht hergekommen.

»Mein Name ist übrigens Oliver Lorey.« Der jugendliche Onkel reichte mir die Hand. Sein Griff war weich und fest zugleich. »Und du siehst wütend aus.«

Er betrachtete mich interessiert. Der Arme hatte es noch nicht kapiert … Wie um meine düstere Ahnung zu bestätigen, piepste in diesem Moment das Handy in meiner Hosentasche – eine SMS von der Übeltäterin.

›Hallo Nessie, sorry wegen der Planänderung, das Problem hat sich erledigt. Würdest du mir den Gefallen tun und Onkel Olli etwas bespaßen? Er ist ein ziemlicher Langeweiler, aber ansonsten ganz nett und genauso ein Trauerkloß wie du.

P.S.: Fass ihn nicht an, das mag er nicht.‹

»Ist die von Lorelai?«, wollte der Onkel wissen. Ich nickte und vergrub die Augen hinter der Hand. Mein Gegenüber ließ ein Kichern vernehmen. »Mir hat sie gesagt, sie hätte kein Handy dabei.« Er schüttelte den Kopf. »Lass mich raten: Du sollst mir hier Gesellschaft leisten, bis sie zurückkommt.«

»Die kommt nicht zurück.«

»Natürlich nicht. Wahrscheinlich hockt sie hinter einem Regal und beobachtet uns durch eine Bücherlücke. Darf ich fragen, was sie geschrieben hat?«

Ich biss mir auf die Lippen.

»Schon gut«, meinte er, meine unglückliche Miene richtig deutend. »Ich kann es mir auch so denken. Sicher kommt der Beiname ›Langeweiler‹ darin vor, vielleicht sogar ›Trauerkloß‹. Meine Nichte versteht es immer, mich ins rechte Licht zu rücken.«

Er verzog das Gesicht, und auch mir entschlüpfte ein Kichern.

»Alte Kupplerin! Seit wann versucht sie es bei dir?«

»Seit etwa zwei Monaten. Da sind wir aneinandergeraten, und sie will wohl Wiedergutmachung leisten. Auch wenn es sich mehr nach Vergeltung anfühlt … Und bei dir?«

»Ein ganzes Jahr!« Gequält fuhr ich mir durch das Haar. »Seit ich bei ihr eingezogen bin. Keine Ahnung, was mich da geritten hat.«

»Klingt fast, als würdest du es bereuen.« Seine Augen hinter der Brille blitzten lustig. »Auf jeden Fall Hochachtung, dass du so lange widerstanden hast. Verrätst du mir, der wievielte ich bin?«

»Puh, da muss ich überlegen.« Ich trat an die Wand und stützte mich rücklings dagegen. »Nach Michi, dem Informatiker, Paul, dem Fitnesstrainer, Klaus, dem Hausmeistergehilfen, Sergio, dem Salsalehrer, und Georg, dem Zoofachverkäufer … Der sechste. Und das waren nur die ernsten Versuche.«

»Du meine Güte!« Auch er lehnte sich an die Wand, als hätte ihm diese Zahl einen Schlag versetzt.

»Tut mir leid«, murmelte ich mit echtem Bedauern. »Wenigstens vor Familienmitgliedern sollte sie Halt machen.«

»Und vor der einzigen Mitbewohnerin.« Er schenkte mir einen mitfühlenden Blick. »Auf jeden Fall ist ihr Plan nicht aufgegangen. Sie wollte bestimmt nicht, dass wir so miteinander reden. Das passiert mir auch zum ersten Mal, muss ich sagen. Die anderen Opfer kannten Lorelai zu wenig, um ihr so etwas zuzutrauen. Wenn der Groschen dann fällt, ergreifen sie entweder die Flucht oder …«

Er verstummte abrupt, doch ich wusste, was er hatte sagen wollen.

»Also, meinetwegen musst du dir keine Sorgen machen«, beruhigte ich ihn. »Ich habe keinerlei Interesse, jemanden kennenzulernen. Nicht mit dieser Zielsetzung.«

Oliver nickte. »Gut. Ich nämlich auch nicht.«

»Und was machen wir jetzt?«

»Ich hätte große Lust, meiner lieben Nichte eine Lektion zu erteilen …«

»Oh ja!«, rief ich und erntete schon wieder einen schiefen Blick von der Dame von eben. »Vielleicht lässt sie uns dann in Ruhe«, fügte ich leise hinzu.

»Die Hoffnung stirbt zuletzt«, flüsterte Oliver, wobei er näher rückte und den Kopf in meine Richtung neigte. »Glaubst du, sie sieht uns jetzt zu?«

Ein zarter Duft nach Rasierwasser und Gewürznelke stieg mir in die Nase – gerade ein Hauch und keinesfalls unangenehm. Dennoch ließ es mich erstarren.

»K… keine Ahnung«, stammelte ich, erschrocken über die plötzliche Intimität. »Vielleicht … sollten wir uns voneinander fernhalten. Falls sie zusieht, würde sie das doch am meisten ärgern, oder?«

Ich trat zu einem der hölzernen Bücherregale gegenüber. Oliver betrachtete mich nachdenklich.

»Vermutlich hast du recht … Nun, ich habe noch Zeit und würde gern ein bisschen bleiben. Aber ich werde nur still für mich lesen, also lass dich bitte nicht vertreiben.«

Er lächelte freundlich, und obwohl ich gründlich suchte, fand ich keine Gekränktheit in seinem Blick. Sicher hätte ich jetzt gehen können, und es hätte ihm nichts ausgemacht. Trotzdem beschloss ich, zu bleiben, zumindest im Gebäude.

»Ich … schau mal bei den Romanen vorbei. Bis später.«

Ich erwiderte sein Lächeln kurz. Dann rettete ich mich in die nächste Regalreihe und schnaufte durch.

Du liebes bisschen, was für eine Begegnung!

Benommen ließ ich den Blick über die hellblauen Info-Schilder wandern, welche an Drähten über den Regalen hingen.

Hinter mir lag der naturwissenschaftliche Sachbuchbereich. Offenbar interessierte sich Oliver für irgendetwas dort. Ihn danach zu fragen, wäre deutlich unverfänglicher gewesen als unser viel zu vertrauliches Gespräch über die liebe Lorelai. Aber nun war es zu spät, und falls Lulu wirklich noch hier war und auf irgendetwas wartete, würde sie erfahren, was echte Langeweile bedeutete.

Die Belletristik-Ecke befand sich am anderen Ende der Etage. Hier waren wesentlich mehr Leute, doch keiner nahm Notiz von mir. Etwas beruhigt begann ich, in den abgegriffenen Bänden zu schmökern. Fantasy war mir meist zu wirklichkeitsfern und Krimis zu trocken, aber gute Romanzen und Abenteuergeschichten mochte ich. Seitdem ich Medizin studierte, hatte ich mir das exzessive Romanlesen abgewöhnt, doch als kleines Mädchen hätte ich ganze Tage damit verbringen können – und Nächte. Im Sommer hatte ich mich manchmal im Dunkeln rausgeschlichen, um auf einer Holzbank im Gemeinschaftsgarten meine Bücher zu verschlingen, mit einer ausgeleierten Stirnlampe auf dem Kopf und einer fusseligen Wolldecke über den Schultern. Begegnet war ich dabei stets nur einer Person. Ihr triumphierendes Lachen klang mir noch immer in den Ohren.

»Erwischt, Monsterbacke!«

»Hier bist du«, ertönte eine Stimme neben mir. Ich fuhr derart zusammen, dass Jane Eyre aus meinen Händen glitt und mit einem dumpfen Klappern zu Boden fiel.

»Oh, tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken.« Oliver hob das Buch auf und reichte es mir. Beim Bücken war seine Brille nach vorne gerutscht, und er schob sie mit dem Zeigefinger wieder an ihren Platz. Dann blickte er mir ins Gesicht. »Alles in Ordnung? Du wirkst etwas blass.«

»Alles bestens«, versicherte ich, doch mein Herz raste immer noch. Ich atmete durch und zwang mich, meine verkrampften Finger um das Buch zu lockern. Ganz ruhig, Nessie!

»Ich wollte dich nicht stören«, meinte Oliver, »nur erzählen, dass ich eine Nachricht von meiner Mutter bekommen habe.« Er klopfte auf seine Hosentasche, in der sich wahrscheinlich sein Handy befand. »Lorelai ist schon seit anderthalb Stunden bei ihr. Sie trinken einträchtig Tee und fragen sich, wo ich denn wohl so lange bleibe.« Er gluckste vergnügt.

»Ah, okay«, brachte ich hervor. »Dann musst du wohl gehen.«

»Ja, ich sollte.« Er lächelte mir zu. »Es war schön, dich kennenzulernen, Agnes, trotz der widrigen Umstände. Lass dir von Lorelai nicht zu sehr auf der Nase herumtanzen.«

»Du auch nicht.«

»Ich versuch’s.« Er zwinkerte gut gelaunt. Dann ging er.

 

2

 

 

Normalerweise kehrte ich gerne nach Hause zurück. Die Wohnung, die Lulu und ich uns teilten, war mit ihren vier Zimmern und knapp hundert Quadratmetern geradezu luxuriös geräumig. Sie befand sich im zweiten Stock eines älteren Reiheneckhauses, am Hang eines halb waldigen, halb wiesenbedeckten Hügels am Stadtrand. Eine struppige Ahornallee säumte die heraufführende Straße, doch mein Fenster öffnete zum Zentrum im Tal. So konnte ich nachts zwischen den buschigen Pappelkronen vor dem Haus die Lichter der Innenstadt bestaunen.

Die Wohnung selbst war dank hoher Sprossenfenster und des alten Stiftparketts hell und gemütlich. Lulu, welche höchstpersönlich die Eigentümerin war, hatte sie mit bunt zusammengewürfelten Holzmöbeln vom Sperrmüll ausgestattet. Dabei hätte sie sich locker eine Designeinrichtung samt Innenarchitekten leisten können. Sie war auch auf keine Mitbewohnerin angewiesen, die ihr Miete zahlte.

Doch sie hatte sich in den Kopf gesetzt, zu leben wie eine ›echte Studentin‹, und unterwarf sich dafür strengen Einschränkungen: Sie wohnte in einer WG, ging höchstens dreimal die Woche shoppen, dafür mindestens zweimal die Woche feiern und nahm öfter den Bus, um ihr Volvo-Cabrio zu schonen.

Wahrscheinlich verdankte ich meine Bleibe bei ihr hauptsächlich meiner authentischen Ärmlichkeit. Wäre es nach Lulu gegangen, hätte ich nicht einmal Miete gezahlt. Aber damit wollte ich gar nicht erst anfangen. Einige Wochen zuvor hatte ich sogar begonnen, mich nach einem Nebenjob umzusehen, um nicht mal meinen Eltern auf der Tasche zu liegen. Nun, da die gefürchteten ›Siebsemester‹ rum waren, hatte ich sowieso mehr Zeit zur Verfügung, als mir lieb war – oder guttat.

Lulu, die selbst Journalismus studierte, war das natürlich nicht entgangen. Früher hatte sie es akzeptiert, wenn ich mich stundenlang zum Lernen in mein Zimmer einschloss. Doch nun ließ sie sich nicht mehr so leicht abspeisen.

Sicher hatte sie sich auch jetzt beeilt, nach Hause zu kommen, um mir dort wie eine hungrige Höhlenspinne aufzulauern. Sie würde mich mit Fragen zu meiner Begegnung mit ihrem Onkel bombardieren und nicht ruhen, bis sie mir jedes noch so unwichtige Detail aus der Nase gezogen hatte. Die geborene Paparazza.

Ich seufzte tief und scharrte mit der Turnschuhspitze im sandigen Grund. Ich hatte gar nicht vorgehabt, heute noch einmal zum Friedhof zu gehen. Trotzdem war ich wieder hier gelandet – auf einer schmiedeeisernen Bank, in die ich in den vergangenen Jahren wohl schon eine Delle gesessen hatte.

Hätte mein Blick den halbrunden Marmorstein vor mir physisch berühren können, hätte er ihn längst glattgeschliffen. Kein Buchstabe wäre mehr darauf zu erkennen gewesen. So aber starrten mir die eingravierten Zeilen in gewohnter Schwärze entgegen – wenigstens für eine Weile noch.

Die Sonne war gerade hinter den Kastanienkronen versunken und zog die Dämmerung wie einen Trauerschleier hinter sich her. Hier und da zwinkerten die Lichter brennender Grabkerzen zwischen Kränzen, Vasen, Efeu und Stein. Bald würde der Friedhof schließen.

»Und wenn ich einfach hierbleibe?«, fragte ich in die Stille hinein. Probehalber sank ich zur Seite, bis ich ganz auf der Bank lag. Sofort sickerte die Kälte des Metalls durch den dünnen Pulli in meine Schulter.

»Etwas ungemütlich, zugegeben. Aber sehen würden sie mich so nicht. Oder was meinst du? Du warst doch immer der Held im Verstecken.«

Niemand antwortete. Nur eine Amsel sang ihr Abendlied in der Ferne.

»Früher warst du nicht so mundfaul«, grummelte ich und schloss die Augen. »Ein paarmal hätte ich dir echt gern einen Knebel verpasst.«

»Das hättest du versuchen sollen«, erwiderte eine vertraute launige Stimme in meinem Kopf.

Wie lange ich sie wohl noch so lebensecht abspulen konnte? Irgendwann würde sie zu einer dumpfen Ahnung verblassen, und ich war unschlüssig, ob ich diesen Moment herbeisehnen oder fürchten sollte. Gesünder wäre es wohl gewesen. Ich wusste ja selbst, dass ich mit alldem aufhören sollte. Schon die Entscheidung, in der Stadt zu bleiben, obwohl meine Familie längst in den Norden gezogen war, war fatal gewesen.

Manchmal fragte ich mich, ob ich nicht langsam Hilfe brauchte. Lulu hätte das sofort bejaht – für sie war ich ja ein Trauerkloß. Dabei war ich die meiste Zeit gar nicht traurig. Auch die typischen Symptome einer Depression entdeckte ich nicht an mir: Ich kam einigermaßen gut aus dem Bett, vernachlässigte weder meine Körperhygiene noch meine täglichen Verpflichtungen und quälte zu Lulus Verdruss regelmäßig meine Geige.

Trotzdem kam mir mein Leben verarmt vor. Wie ein fahrender Zug ohne Passagiere oder ein Puzzle, aus dem ein Teil herausgefallen war – ein wichtiges aus der Mitte, ohne welches das Bild seine ursprüngliche Bedeutung verloren hatte. Es war blasser geworden und schlichter. Fad und kontrastlos. Und ich konnte es nicht ändern. Ich konnte nicht …

Ein Räuspern unterbrach meine Gedanken.

»Entschuldigung«, sprach mich eine fremde Männerstimme an – zum zweiten Mal an diesem Tag. Doch diesmal gehörte sie nicht Oliver. Es war der Typ vom Nachmittag, der ältere Mann, der mich beobachtet hatte und geflohen war, als ich ihn dabei erwischt hatte. Sein krauser Haarkranz wirkte dunkler in der Dämmerung, die Trekkingjacke beinahe schwarz. Seine Wurstfinger zappelten und nestelten wie dicke Würmer, die sich umeinander wanden. Für einen Herzschlag dachte ich, er würde mich überfallen. Doch dann sprach er weiter.

»Sie sollten sich jetzt verabschieden. Es wird Zeit.«

Er tippte auf seine Armbanduhr. Ach so. Offenbar war er der Friedhofswärter – oder einer von mehreren. Ich war erleichtert. Und erstaunt. Seine Stimme war so weich. Berühmte Synchronsprecher klangen so. Engel klangen so. Keine rundbauchigen Männer mit Glupschaugen. Als würde er alles verstehen und nichts verurteilen, was immer man ihm anvertraute.

»Tut mir leid«, murmelte ich und erhob mich beschämt. »Ich habe die Zeit vergessen.«

»Das kann einem hier schon mal passieren.« Er lächelte freundlich, und die seltsamen Augen lächelten mit. Vielleicht hatte er Schilddrüsenprobleme, der arme Mann.

»Ich …«, setzte er an. »Verzeihen Sie, aber ich beobachte Sie schon eine Weile. Wenn ich mir die Frage erlauben darf, wer war das für Sie?«

Mein Blick schweifte zu dem halbrunden Grabstein und der glänzend polierten Marmorplatte davor. Jemand hatte einen Vergissmeinnichtstrauß daraufgelegt, wahrscheinlich schon gestern. Die winzigen blauen Blütenköpfe waren beinahe vertrocknet.

»Ein Freund«, antwortete ich. »Ein alter Freund. Für mich.«

»Tristan Witt, geboren 12.09.1992, gestorben 24.10.2015«, las der Mann die Inschrift vor – mit dieser honigwarmen Stimme, die jedes Wort zu wiegen und zu streicheln schien. »Vor zweieinhalb Jahren also.«

»Fühlt sich länger an. Und kürzer.«

»Sie vermissen ihn wohl sehr?«

Nein, dachte ich frustriert, ich komme nur her, um zu schauen, ob er immer noch tot ist.

»Ach, es ist einfach … Irgendwie schaffe ich es nicht, den Mistkerl ziehen zu lassen.«

»Sie hätten ihm wohl noch etwas zu sagen gehabt?«

»Oh ja!«, entfuhr es mir in einem Anfall von Offenheit. »Dem könnte ich viel erzählen. Leider hat er keine Ohren mehr, um es zu hören.«

Die waren sicher als Erstes weggefault. Uah! Ich kniff die Augen zusammen und schüttelte mich. Meine Lider brannten, doch wie immer blieben sie trocken. Vielleicht wäre dieser ganze Unsinn schon lange vorbei gewesen, wenn ich nur einmal einen ordentlichen Heulanfall hingebracht hätte.

»Sie waren noch nicht fertig miteinander«, fasste der Mann zusammen, während seine Hand langsam und sanft über die Kante des Grabsteins strich. Mir fiel auf, dass er viel gefasster wirkte als vorhin.

»Nein, das waren wir nicht«, bestätigte ich. »Aber wann ist das schon der Fall? Gerade bei jungen Menschen rechnet man doch nicht damit, dass sie so plötzlich … Und dann, ehe man sich versieht, ist es zu spät.«

»Ja, das ist ein großes Problem. Sie haben keine Ahnung, wie oft ich das schon von Trauernden gehört habe – ›Wenn ich doch nur die Chance hätte, noch einmal mit ihr zu reden …‹, ›Wenn ich ihn nur noch ein letztes Mal umarmen könnte … Ihn wissen lassen, was er mir bedeutet …‹«

»Naheliegende Gedanken«, erwiderte ich. »Aber völlig sinnlos. Man kann die Zeit nicht umkehren. Was vorbei ist, ist vorbei, und man ist selbst schuld, wenn man seine Chance verpasst hat … Jetzt habe ich Sie aber lange genug aufgehalten. Vielen Dank für Ihr Verständnis und einen schönen Abend noch.«

Ich nickte knapp und trat an dem Mann vorbei, auf die Hauptstraße des Friedhofs zu. So freundlich er auch war, irgendwie hatte unser Gespräch eine Richtung genommen, die mir nicht behagte. Auch der Umstand, bei Dämmerung mit einem Fremden hier allein zu sein, kam mir beklemmend vor – zumal ich immer mehr den Eindruck hatte, dass irgendetwas mit dem Kerl nicht stimmte.

Einen Friedhofswärter stellte ich mir anders vor. Ruhiger, abgestumpfter. Nicht so interessiert. Während seiner letzten Sätze hatte er mir so eindringlich ins Gesicht gesehen, dass ich das Gefühl gehabt hatte, seine Augen würden aus den Höhlen fallen. Kein Wunder, dass sie derart nach vorne strebten, wenn er öfter so schaute …

Der ist unheimlich, dachte ich. Ganz eindeutig. Nichts wie weg!

»Bitte warten Sie!«, rief er mir nach. Schwere Schritte verrieten, dass er mir folgte, und ich legte noch einen Zahn zu.

»Bitte …!«, japste der Mann. »Rennen Sie nicht weg! Ich möchte Ihnen helfen. Ich kann Ihnen helfen!«

»Tut mir leid, das bezweifele ich.«

»Wollen Sie ihn denn nicht wiedersehen?«

Ich hatte gerade die Kastanienallee erreicht, da stoppte ich.

»Wie bitte?«

Der Mann stützte sich keuchend auf die Knie.

»Das … mag jetzt seltsam klingen, aber … ich kann ihn zurückholen. Nicht auf Dauer. Aber für ein Gespräch reicht’s. Wissen Sie, ich bin Arzt.«

Hä? »Etwa wie … Frankenstein?«

Dem Mann ploppten fast die Augen aus dem Kopf.

»Was? Sie meinen …? Aber das wäre doch Leichenschändung und völlig nutzlos dazu! Nein, verstehen Sie, ich habe ein Mittel erfunden, das …«

Er brauchte nicht weiterzusprechen.

»Danke, kein Bedarf.« Abermals kehrte ich ihm den Rücken zu und hastete mit großen Schritten zum schmiedeeisernen Friedhofstor. Noch war es angelehnt.

»Jetzt hören Sie mir doch wenigstens zu!«, jammerte der Mann hinter mir. Er war etwas zurückgefallen, folgte mir aber immer noch.

»Lassen Sie mich in Ruhe!«, forderte ich, nun fast schreiend. Dann erreichte ich den Bürgersteig jenseits des Tores und rannte los.

 

 

 

 

~ August 2003 ~

 

»Warum weinst du?«

Ich blinzelte und nahm die Hände von meinem Gesicht. Vor mir stand ein fremder Junge, vielleicht elf oder zwölf Jahre alt. Er neigte den Kopf, und eine rabenschwarze Strähne fiel ihm zwischen die Brauen. Zwei lustige, hellblaue Augen funkelten mich an. Wo kam der so plötzlich her?

»Ich … weine nicht.« Ich schniefte leise. Ältere Jungs machten mir immer ein bisschen Angst – aber egal. Endlich war jemand da!

»Bist du neu in der Gegend?«, fragte er weiter und betrachtete mich neugierig. Er trug einen blauen Pulli mit einem grauen Wolfskopf darauf, darunter eine schwarze Cargohose.

»Gestern hergezogen«, antwortete ich. »Ich wollte mich umsehen, bin eine Treppe hoch und dann auf dieser Wiese gelandet. Und jetzt finde ich nicht mehr zurück!«

Der Kloß in meinem Hals wuchs noch ein Stück. Ich schloss den Mund, um nicht aufzuschluchzen. Keine Ahnung, wie lange ich schon über diese blöde Streuobstwiese irrte, aber der Himmel war immer dunkler geworden. Riesige schwarze Wolken türmten sich übereinander, und die Luft wurde warm und schwül. Nervös zwitschernde Schwalben schossen über meinen Kopf hinweg. Jeden Moment konnte es zu schütten anfangen. Und zu gewittern. Blitze und Donner machten mir Angst – noch mehr als ältere Jungs.

»Ja, hier verläuft man sich leicht«, meinte der Junge, während ein Windstoß an seinen Haaren riss. »Das Unkraut verdeckt den Weg.«

In diesem Moment platschte der erste Regentropfen auf meinen Scheitel. Bäh! Jetzt ging es los.

»Ist es weit bis zur Straße?«, fragte ich.

»Ziemlich. Aber ich hab eine Idee. Komm mit!«

Ehe ich antworten konnte, packte er mein Handgelenk und zog mich in das hüfthohe Gras. Im Slalom führte er mich zwischen krummen Apfel- und Kirschbäumen hindurch, auf eine dunkle Wand aus Bäumen zu. Ich bekam einen Schreck. Meine Eltern ließen mich alleine raus, aber in Wälder durfte ich nicht. Mit Fremden mitgehen noch weniger. Doch ich wurde nicht gefragt. Der Junge rannte inzwischen beinahe, und mehrmals wäre ich gestolpert, hätte er nicht meine Hand gehalten.

Dann tauchten wir in die Schatten des Waldes ein. Mittlerweile prallte dichter Regen auf das Blätterdach. Es roch nach Pilzen und Matsch. Der Boden wurde unebener, bis eine moosige Felsgruppe vor uns erschien. Immer noch mit mir im Schlepptau umrundete der Junge sie, und ich entdeckte eine kleine Höhle zwischen den Steinbrocken.

Wie das Maul eines Ungeheuers, dachte ich und gruselte mich – besonders, als der Junge darauf zuhielt.

»D… da rein?«, stammelte ich.

»Warum nicht?« Er ließ mich los und krabbelte in das dunkle Loch. »Es ist sicher und trocken. Nun komm schon.«

»Sind da … keine Tiere drin?«

»Klar sind hier Tiere. Aber nur ein paar Spinnen und Asseln. Vielleicht auch eine verirrte Fledermaus – nein, das war nur Spaß.« Er lachte über mein entsetztes Gesicht. Inzwischen saß er auf dem Hosenboden und sah sehr zufrieden aus. »Na komm! Sei nicht so ein Schisshase.«

»Ich bin kein Schisshase!«, schnauzte ich. »Aber ich kenne dich überhaupt nicht.«

»Stimmt. Ich weiß auch nicht, warum ich einer Fremden mein Geheimversteck zeige, damit sie nicht nass wird.«

»Das bin ich doch schon«, murrte ich, gab mich aber geschlagen und kroch auf den freien Platz neben ihm.

»Pass auf deinen Kopf auf«, riet der Junge. »Der Fels ist rau.«

Ich nickte und zog den Hals zwischen die Schultern. Eine Weile schauten wir schweigend hinaus. Niemand war zu sehen, nicht einmal Insekten. Nur Bäume, Farne und Laub.

»Wie heißt du?«, fragte der Junge plötzlich.

»Agnes«, sagte ich. »Aber alle nennen mich Nessie.«

Er prustete. »Kommst du aus Schottland, Nessie?«

»Nein, aus Stuttgart. Wie kommst du auf Schottland?«

»Na dort wohnt Nessie doch, in einem riesigen See. Das Monster von Loch Ness. Nie gehört?«

Ich lief rot an. »Boah, wie gemein! Vielen Dank auch!«

»Gern geschehen.« Er grinste breit. Jungs waren doof.

»Und wie heißt du? Trollbert von Witzhausen?«

Jetzt lachte er auf. »Trollbert!« Der Name gefiel ihm sichtlich. Er wiederholte ihn mehrmals, hielt sich dabei den Bauch und kicherte so herzlich, dass ich ihn gleich lieber gewann. »Wäre cool, wenn ich so hieße«, meinte er, als er wieder Luft bekam. »Mein echter Name ist nicht halb so cool.«

»Und wie ist der nun?«

»Tristan«, sagte er und schnitt eine Grimasse. »Ich heiße Tristan. Das bedeutet ›der Traurige‹.« Er zog die Mundwinkel nach unten – derart übertrieben, dass auch ich kichern musste. So lachten wir gemeinsam, während draußen der Schauer den Laubboden tränkte.

Tristan und ich.

 

3

 

 

Der Regen prasselte unermüdlich auf den Campus und trommelte wie mit spitzen Fingern gegen meinen Schirm. Müde und saure Gesichter kamen mir entgegen, doch ich dankte dem Himmel für dieses Wetter. Der Schirm eignete sich wunderbar, um meine Miene unauffällig vor Lulu zu verstecken, die neben mir lief. Leider war er als akustischer Schutz nicht zu gebrauchen.

»Nessie, du gefällst mir nicht«, teilte mir meine Mitbewohnerin in mütterlichem Ton mit. »Ich habe jetzt eine Doppelstunde Chirurgie neben dir gesessen und mir einen epischen Vortrag über Hämorrhoiden und Arschpusteln angehört – heißer Dozent übrigens! Jedenfalls hatte ich ein Auge auf dich, und du hast dauernd aus dem Fenster geschaut! Selbst ich habe mir mehr Notizen gemacht als du, obwohl ich mich nur eingeschlichen habe.«

»Du hast Kringel in dein Heft gemalt«, korrigierte ich sie seufzend. »Kringel und Sterne und Micky Maus.«

»Ich will ja auch kein Doktor werden im Gegensatz zu dir. Aber wenn ich mir das so ansehe, wird das nichts mit der schmucken Landarztpraxis.«

Ich brummte etwas Unverständliches.

»Daheim bist du auch so komisch«, fuhr Lulu mit der Quälerei fort. »Steckst kaum die Nase aus deinem Zimmer und wenn, dann guckst du nur Löcher in die Luft. Offenbar muss ich mit Olli schimpfen, denn bevor du ihn getroffen hast, warst du nicht so drauf!«

Ich öffnete den Mund, um ihr mitzuteilen, dass mein Gemütszustand mit ihrem Onkel aber auch gar nichts zu tun hatte. Doch dann ließ ich es bleiben. Vielleicht würde Lulu nicht weiterbohren, wenn ich ihr diesen Knochen zum Rumkauen ließ.

»Worüber habt ihr denn eigentlich geredet?«, quengelte sie. »Er will partout nicht damit rausrücken, dabei haben wir nur von dir gesprochen, als ich ihn gestern bei meiner Oma getroffen hab.«

»Ich glaube kaum, dass er dieses Thema forciert hat«, entgegnete ich trocken.

»Ha! Merkst du was? Du redest über ihn, als kanntest du ihn schon seit Jahren!«

»Dich kenne ich seit Jahren!«, gab ich zurück, und Lulu holte Luft für eine Replik. Allerdings erreichten wir in diesem Moment unser Ziel: ein von Kiefern und Buchen flankiertes vierstöckiges Ziegelgebäude, dessen elektrische Schiebeglastür rasch auf- und zuglitt, während mehr und mehr Studenten sie passierten. Auch Lulu und ich traten in die beleuchtete Eingangshalle und ließen unsere tropfnassen Schirme sinken. Kaum tauchte ihr Kopf hinter dem gelben Nylonstoff auf, fing sie sich schon die ersten verwunderten Blicke ein.

Nein, meine Mitbewohnerin tat nichts halbherzig. Sie hatte beschlossen, mich heute zu begleiten, und dazu gehörte für sie ganz selbstverständlich, dass sie sich assimilierte. Gemäß ihrer Vorstellung, wie eine typische Medizinstudentin ausschauen musste, hatte sie ihre goldblonden Locken zu einem strengen Knoten hochgesteckt und einen tiefblauen Hosenanzug angelegt. Unter dem Blazer trug sie eine helle Bluse und an den Füßen Stöckelschuhe. Zur Krönung hatte sie einen weinroten Seidenschal um ihren schlanken Hals gewickelt und eine schwarz umrandete Brille aufgesetzt.

Fatalerweise funktionierten ihre Augen hervorragend, sodass sie gezwungen war, die Brille bis zur Nasenspitze vorzuschieben, um nicht gegen einen Hydranten oder etwas Ähnliches zu stelzen.

Meine Bemerkung, dass sie wie eine perfekte Vertreterin, aber ganz sicher nicht wie eine Kommilitonin aussah, hatte sie mit einem Schulterzucken abgetan. Wenn sie diese Einstellung später beibehielt, sah ich für eine Karriere als Undercover-Reporterin schwarz.

»Und welche Vorlesung besuchen wir hier?«, fragte sie und ließ den Blick über die unbesetzte Pforte, die mit Mohngemälden geschmückten Wände und den grauen Linoleumboden wandern.

»Psychiatrie«, erwiderte ich.

»Ah! Wunderbar! Freud hat mich schon immer fasziniert.«

»Dann wirst du enttäuscht sein. Die meisten seiner Theorien gelten längst als überholt.«

»Och.«

Wir machten uns daran, die Treppe zum zweiten Stock zu erklimmen.

»Holla Nessie!«, rief mir ein Kommilitone, mit dem ich locker bekannt war, auf halbem Weg zu. »Wen hast du denn da Schickes mitgebracht?«

Lulu musterte seine durchtrainierte Gestalt und die stark gewachste Sturmfrisur. Ihre kirschroten Lippen verzogen sich verächtlich.

»Schleich dich, das ist ein Privatgespräch!«, fauchte sie.

Dem Typ fiel das selbstbewusste Grinsen aus der Visage. So schnell, wie er aufgetaucht war, verschwand er hinter uns in der Studententraube.

»Lulu!«, stieß ich aus. »Was soll das?«

»Was denn? Wolltest du mit dem reden? Diesem Aufreißer? Ich glaube, ich muss dich öfter begleiten, wenn du solch einen Umgang pflegst.«

»Ich pflege Umgang, mit wem ich will!«, brauste ich auf. »Das kannst du mir nicht vorschreiben!«

»Und wie ich das kann! Immerhin lebst du unter meinem Dach, junge Dame.«

»Du bist ein Jahr jünger als ich!«

»Psst! Still jetzt, sonst verlaufen wir uns. Wo ist denn nun der Hörsaal? Hoffentlich landen wir nicht bei den Verrückten, hier sehen alle Türen gleich aus.«

»Die einzige Verrückte läuft neben mir«, grummelte ich leise.

»Bahaha. Das habe ich gehört!«

Der Unterrichtsraum war ein heller, gestufter Saal mit weißen Wänden und Holzdecken. Da Lulu nach der letzten Vorlesung auf der Toilette getrödelt hatte, waren wir ziemlich spät dran, sodass die hinteren Reihen bereits besetzt waren. Meine Mitbewohnerin störte das nicht. Mit vorgereckter Brust marschierte sie in die zweite Reihe und nahm quasi unmittelbar vor dem Dozentenpult Platz.

»Echt jetzt?«, fragte ich mit erhobener Braue. »Willst du seine Nasenhaare zählen?«

»Ich will nur, dass du aufpasst.« Sie blickte mich streng über den Brillenrand an. »Nun komm schon!«

Oh Mann … Ein Augenrollen unterdrückend schlurfte ich durch die sonst leere Sitzreihe bis zu dem Platz neben ihr, legte meine Schultertasche zwischen die Knie und packte Notizblock und Kuli aus.

Langsam füllte sich der Saal. Leider war er zu klein für das Semester, sodass immer mehr Studenten gezwungen waren, die vorderen Reihen und schließlich auch die Treppenstufen zu besetzen. Mit einem klaustrophobischen Bauchflattern erkannte ich, dass ich von allen Seiten eingekeilt war. Memo an mich: An ihrem nächsten freien Tag bleibt Lulu einfach zu Hause.

Dann öffnete sich eine Tür neben der Tafel, und der Dozent betrat den Saal.

Es war nicht derselbe wie beim letzten Mal. Der Professor und die Oberärzte der Klinik rotierten durch und teilten dabei die Themen des Lehrplans untereinander auf. Nichts Ungewöhnliches also. Dennoch wich mir das Blut aus dem Gesicht.

Dort vor der Tafel stand – in langem weißem Kittel und mit einer Lesebrille auf der Nase – mein Verfolger vom Friedhof.

»Schau mal«, raunte Lulu mit einem Grunzen, »Kermit, der Frosch.«

Auch hinter mir kicherte es. Keine Frage, der Mann sah ulkig aus mit seinen hervorstehenden Augen. In den hinteren Reihen quakte jemand, und das Gekicher schwoll an. Studenten waren große

Impressum

Verlag: Zeilenfluss

Texte: Zsóka Schwab
Bildmaterialien: ©Shutterstock.com (ifong, ANAID studio, Lana Veshta, nadiia); https://de.freepik.com/vektoren-kostenlos/verschiedene-dekorative-textteiler-eingestellt_9176984.htm
Cover: www.wolkenart.com - Marie-Katharina Becker
Korrektorat: Dr. Andreas Fischer
Satz: Zeilenfluss
Tag der Veröffentlichung: 04.03.2021
ISBN: 978-3-96714-117-7

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /