Ziemlich geplättet stehe ich auf dem Bürgersteig vor dem kleinen Café, aus dem ich eben mit Ben gekommen bin. Ich starre ihm hinterher, wie er mit hängenden Schultern über den Bürgersteig zwischen den Fußgängern entschwindet.
Ich hab mit vielem gerechnet, als er mich vorgestern anrief und meinte, er müsse mit mir reden. Dachte, gut, mal wieder irgendein Scheiß mit irgendeinem Typen. Oder Stress an der Uni. Oder aber er braucht Geld.
Aber nein.
Wir hatten uns jedenfalls für heute um 13 Uhr hier im Café verabredet und als ich ankam, saß er schon an einem Tisch ganz hinten in einer Ecke und starrte trübsinnig vor sich hin.
Hätte mir schon zu denken geben müssen, denn egal, was er hat, er strahlt mich immer an, wenn er mich sieht.
Nun, ich hab mir nichts dabei gedacht.
Ich schlängelte mich durch die hässlichen, zusammengewürfelten Sitzgelegenheiten, die dem Café dieses gewisse Flair einer Studentenbude geben sollten. Am Tisch angekommen, erwartete mich eine ziemlich verhaltene Reaktion auf mein Erscheinen. Und wieder hab ich das nicht für voll genommen.
„Hey Benben, alles klar?“, begrüßte ich ihn , drückte ihm einen Kuss auf die Haare und setze mich neben ihn an den Tisch. Er blickte mich an und seine Mundwinkel zuckten kurz hoch.
„Hey Floflo…“, kam es leise von ihm. Mehr nicht.
Kein: „Oh mein Gott, weißt du, was dieser Mistkerl getan hat..?“
Kein: „Scheiße, ich hab die Prüfung vergeigt!“
Kein: „Duhu, kannst du mir bis Ende des Monats ein bisschen Geld leihen?“
Nichts. Nur Schweigen. Und um uns herum der übliche Lärm eines Cafés.
Was sollte das denn nun werden? Was war mit ihm los?
Ich blickte ihm genau ins Gesicht, während ich auf eine seiner Redeschwallattacken wartete.
Ben war blass, sehr sogar. Und unter seinen braunen Augen, die so glasig wirkten, waren dunkle Augenränder zu erkennen. Seine Haare standen ihm wirr vom Hinterkopf ab, waren ungewohnt ungestylt.
In diesem Moment ging mir das erste Mal auf, dass das hier heute keines dieser üblichen Gespräche werden würde. Irgendetwas war hier ziemlich im Argen. Aber was?
Langsam merkte ich, wie ich mich verspannte und sich ein komisches Gefühl in meinem Bauch ausbreitete. Das Häufchen Elend da vor mir, das war einfach nicht mein Ben.
„Ben …“, begann ich mit irgendwie wackliger Stimme, „was ist los mit dir?“
Ich griff über den Tisch und wollte seine Hand nehmen, doch er riss sie einfach weg. Er riss mir seine Hand weg! Ich durfte ihn nicht anfassen? Was?
Mein Magen rebellierte noch mehr.
„Ben?“
Stille, abgesehen von dem hintergründigen Cafélärm und meinem hämmernden Herzschlag.
Sein Blick, trostlos. Der Mund verzogen, wie unter Schmerzen.
Und mein Herz, das schmerzte bei diesem Anblick.
Ben räusperte sich und begann dann endlich leise zu sprechen.
„Flo, ich hab‘s verbockt…“
Wieder Stille.
„Was? Deine Prüfung?“, fragte ich verwirrt. War es doch so einfach und ich reagierte über?
„Nein…“, sagte Ben, „… ich habe mein Leben verbockt!“
Ah, da war er wieder, mein kleiner theatralischer Ben, der aus einer Mücke einen Elefanten machte. Leben verbockt, so ein Quark. Keines von seinen Problemchen, war wirklich ein Lebensverbocker, obwohl er es ja gerne mal dramatisierte.
„Ach, so schlimm kann es ja gar nicht sein“, sprach ich also die üblichen beruhigenden Worte und streckte wieder die Hand aus, um Ben die Schulter zu tätscheln. Doch er brachte sie außer Reichweite, verzog das Gesicht und lehnte sich mit verschränkten Armen so weit wie möglich von mir weg.
Warum tat er das? Warum wollte er nicht mehr von mir berührt werden? Sonst beschwerte er sich immer, wenn ich ihn nicht täschelte, bekuschelte oder einfach nur berührte. Dann warf er mir immer vor, ich hätte ihn nicht mehr lieb.
„Ben…“, begann ich wieder mit wackliger Stimme, hatte wirklich Angst und einen Kloß im Hals. Hatte ich irgendwas falsch gemacht? Wollte er mich aus seinem Leben rausschmeißen? Wieso? Wir waren doch immer ein Team gewesen.
„Ich …!“, unterbrach er mich schnell und recht laut, warf einen abschätzenden Blick durchs Café und begann dann leiser erneut zu sprechen.
„Ich hab mich infiziert, Flo. Ich hab wirklich mein Leben verbockt“, sagte er und seine Stimme wurde immer leiser. Seine sonst so fröhlichen braunen Augen begannen zu schwimmen.
Okay, ich verstand es nicht. Was, infiziert? Drama wegen einem Schnupfen? Fußpilz? Was genau wollte er mir damit sagen?
„Mann! Ben, infiziert, womit? Ich verstehe dich nicht. Du machst mir Angst mit deinem Verhalten. Mit Fußpilz oder was? Schmier Salbe drauf und gut. Wird deinen schönen Füßen schon keinen dauerhaften Schaden zufügen!“, platzte es aus mir raus. Ich war total überreizt, die ganze Situation, sein Anblick, das machte mir Angst. Und alles nur wegen so einem Scheiß.!
Ben stierte mich mit offenem Mund an, schloss ihn wieder und krümmte sich plötzlich zusammen. Ich konnte sein Gesicht nicht mehr sehen, es war hinter seinem viel zu langen Pony verschwunden.
„Nein… nicht mit Fuß…“, kam es leise von ihm und seine Stimme klang zittrig. Weinte er? „Ich hab … ich bin HIV positiv!“, stotterte Ben raus.
Stille, nur die Geräusche von klirrenden Tassen, Gemurmel, mein Herzschlag und Bens leises Schniefen.
Ich zog ein Tempotaschentuch aus meiner Tasche und reichte es Ben, der sich damit die Nase putzte.
Komisch, irgendwie war gerade alles so taub und wattig in meinem Kopf und um mich herum. Nur mein Herz, das fühlte sich an, als ob es mir gleich aus dem Brustkorb, direkt durch den Bauch, in die Unterhose fallen wollte. Was hat er da eben gesagt?
Positiv? Positiv… Positiv! Oh mein Gott, POSITIV!
Er hatte sich angesteckt, er war positiv! Ben, Benben, mein kleiner Ben!
„Scheiße! Ben! Was hast du gemacht?“, fauchte ich plötzlich los, konnte mich nicht stoppen, wurde von tiefen Emotionen überrollt. Sofort schlug ich mir die Hand vor den Mund und meine Augen fingen an zu brennen.
Was hatte er da nur angerichtet? Damit hatte er sich wirklich sein Leben versaut. Und nicht nur seins! Auch meines!
Ben kullerten immer noch Tränen über die Wangen und er versuchte sie sich so heimlich wie möglich vom Gesicht zu wischen.
Ich gab mir Mühe, mich wieder zu beruhigen, denn ein paar von den anderen Gästen blickten mich recht böse an, weil ich deren behagliches Miteinander empfindlich mit meinem Ausbruch gestört hatte.
„Warum schleifst du mich in ein Café, um mir sowas zu sagen?“, zischte ich Ben an.
„Damit du mir nicht so eine Szene machen kannst, wie du gerad lieferst und mir keine scheuerst“, kam die prompte Antwort mit einem anschließenden Hochziehen der Nase.
Gott, er hatte also gewusst, wie ich reagieren würde.
„Scheiße!“, fauchte ich wieder. Ich wollte es einfach nicht begreifen.
Was bedeutete das nun genau?
Wie sollte es weiter gehen?
Würde Ben sterben? Mein Ben!
Hatte er jetzt Aids?
Im meinem Kopf tobte alles kreuz und quer. Warum hatte ich davon eigentlich so wenig Ahnung?
Seitdem ich denken konnte, wurden wir immer gewarnt: Nutzt Kondome, gebt Aids keine Chance.
Super, und nun? Was sollte ich jetzt machen? Wo waren die tollen Werbeplakate. die einem erklärten, wie man auf die Worte „Ich bin HIV positiv!“ reagieren sollte?
Ben hatte ich über meine Grübeleien völlig vergessen. Bis er sich wieder räusperte und mich erinnerte, wo ich war, mit wem ich hier war und warum.
„Ben, das ist echte Scheiße!“, presste ich mir rauer Stimme an dem Kloß in meinem Hals vorbei.
„Ja. Ja, das ist es“, antwortete Ben, der sich anscheinend wieder etwas gefasst hatte. Ob er schon viel geweint hatte deswegen? „Ich wollte es dir nur sagen. Ist dann jetzt wohl besser, wenn wir zahlen und gehen. Will dann auch mal nach Hause.“
Was? Wie konnte er jetzt einfach gehen wollen? Wie sollte es weiter gehen?
Völlig überfordert überlies ich alles Ben, schaffte es wie betäubt, zu zahlen und mich mit ihm nach draußen vor das Café zu begeben. Dort blieb er stehen, drehte sich zu mir um und blickte mir mit trotzig vorgerecktem Kinn ins Gesicht.
„Also, du scheinst nicht sonderlich beeindruckt zu sein, von daher wird es wohl besser sein, wenn wir keinen Kontakt mehr haben. Also, mach es gut, Flo!“, sprach er und wendete sich um.
Er ließ mich einfach stehen, ging den Fußweg entlang, die Hände in den Hosentaschen und mit hängenden Schultern.
Und hier stehe ich nun immer noch und starre ihm hinterher, wie er sich langsam immer weiter entfernt.
Das kann er doch nicht machen! Er hat mich gerade abserviert, als wäre ich nichts weiter, als ein One-Night-Stand! Dabei geht es hier um sein Leben. Unser Leben!
Ich reiße meine Arme hoch und kralle die Finger in meine Haare. Ziehe daran, bis es weh tut. Ausgleichsschmerz gegen den Herzschmerz.
Er knallt mir sowas vor den Latz und lässt mich dann einfach zurück! Wie kann er nur? Wie konnte ich …?
Okay, ich hatte nun auch nicht wirklich verständnisvoll reagiert. Aber hallo? Das war ja wohl nun auch die größte Scheiße, die einem passieren konnte, die er mir ausgerechnet zwischen harmlos plauschenden Cafehausbesuchern beichten musste.
Mein Benben! Positiv!
Wollte er mich wirklich nicht mehr in seinem Leben? Das ging doch nicht! Gar nicht!
Wer sollte sich denn um ihn kümmern, wenn ich es nicht tat? Nein, das ging wirklich überhaupt nicht.
Ben ist schon ein ziemliches Stück von mir entfernt, als ich mich endlich in Bewegung setze und ihm hinterher renne.
„BEN! BEN!“, brülle ich lautschnaufend, sodass die entgegenkommenden Leute freiwillig aus dem Weg gehen.
Ben hört mich und bleibt abrupt stehen, als ich ihn keuchend erreiche. In seinen Augen glitzern Tränen und seine Nasespitze ist ganz rot.
Ob ich ihn endlich einfach anfassen kann, ob er mich jetztlässt? Wie ansteckend war das noch mal? Blöder Gedanke! Und das im Jahr 2014! Ich sollte mich langsam mal wenigstens an mein minderwertiges Schulwissen erinnern!
Ich strecke die Hand aus und wische ihm eine Träne weg, die sich von seinen Wimpern gelöst hatte.
„Du kleiner Arsch, du schmeißt mich nicht aus deinem Leben! Wir gehören zusammen und wir bleiben auch zusammen!“
„Mann, Flo!“, schnieft Ben.
„Nein ernsthaft. Okay, ich habe keine Ahnung, was das nun alles bedeutet und wie es weiter geht, aber ich bleibe immer an deiner Seite!“, verkünde ich und ziehe ihn in meine Arme. Erst habe ich das Gefühl, dass er mich abschütteln will, aber dann kann ich spüren, wie er sich an mich klammert und sein Körper bebt.
Ja, Scheiße! Wenn mich diese Nachricht schon so fertig macht, wie mag es ihm dann erst ergehen?
Endlich, wirklich endlich, finde ich, trotz meiner Unwissenheit und meiner eigenen Angst, die Stärke wieder, mit der ich immer für Ben da war. Für ihn da sein muss.
„Ben, ich liebe dich und ich werde immer bei dir sein. Wir werden alles tun, was machbar ist, damit du für immer bei mir bleibst. Ich will dich nicht verlieren“, flüstere ich Ben zu und merke, wie auch mir die Tränen kommen. „Allerdings, ich glaube du musst mich erst mal aufklären. Ich hab alles, was ich darüber weiß nur aus der Schule und das ist verdammt lang her“, versuche ich es ein bisschen, die Stimmung aufzulockern.
„Danke.“, höre ich Bens bebende Stimme. Seine Arme schließen sich noch fester um mich.
Er schnieft an meinem Hals und in diesem Moment werden wir wieder zu Brüdern. Zu dem, was uns ausmacht: Familie. Blut ist dicker als Wasser, wie schon unser Opa immer gepredigt hatte. Mit Ben traf und trifft das zu und … ich liebe ihn unermesslich.
„Natürlich. Wir sind Brüder, wir sind eine Familie, wir gehören und halten zusammen“, verspreche ich und nachdem er sich etwas beruhigt hat, treten wir gemeinsam den Weg in eine neue Zukunft an. Einer, in der wir gemeinsam den Weg meistern würden, bis Ben in der Lage war, erneut dem Leben Paroli zu bieten.
Ende
Tag der Veröffentlichung: 16.06.2014
Alle Rechte vorbehalten