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1.

Der Wind peitschte über das fremde Land, dessen Erdboden einzig und allein aus Eis und Schnee zu bestehen schien. Tarek sehnte sich förmlich nach der Hitze der unbarmherzigen Wüste zurück, während sein Begleiter wortlos und mit schweren Schritten voran stapfte. Im dichten Schneegestöber konnte man kaum etwas sehen, was die ohnehin schon gespenstische Umgebung noch unheimlicher erscheinen ließ.

Die Hände des Südländers zitterten und auch der Rest seines Körpers fühlte sich unangenehm taub an. Tarek hatte seine Hoffnung, auf ein Dorf, eine schützende Siedlung oder wenigstens auf einen notdürftigen Unterstand zu treffen, längst aufgegeben. Er würde inmitten der unerbittlichen Eishölle sterben, dessen war er sich sicher. Jeder Schritt brachte ihn näher an seine Grenzen. Seine Kräfte neigten sich unweigerlich dem Ende. Er hasste die Kälte, das Eis und die weißen Flocken, die Korwin Schnee nannte. Die Kleidung an seinem Körper war durchnässt, was die verfluchte Kälte noch unerträglicher machte. Sie kroch ihm tief in die Knochen, breitete sich in jedem Winkel seines Körpers aus und machte auch vor seinem Geist nicht halt. Tarek konnte kaum noch einen klaren Gedanken fassen. Auch der Atem schien ihm in seinen Lungen zu gefrieren.

Tarek versank bis zur Hüfte in der kalten Substanz, fiel zu Boden und raffte sich mit dem Mut der Verzweiflung auf. Mehr war ihm seit dem Aufbruch aus dem Baronat nicht geblieben. Er war dem Tod näher als jeglichem Leben.
Keuchend schleppte er sich durch die Kälte und sank erneut im knirschenden Schnee ein. Schnaufend brach er in sich zusammen. Ihm fehlte es an Kraft, um dem unendlichen Marsch auch nur einen Schritt mehr abzutrotzen. Wie lange waren sie in dieser Gegend schon unterwegs? Tarek hatte jedes Zeitgefühl verloren. Vor wenigen Tagen waren sie in das fremde Land vorgedrungen, dessen Umgebung mit jedem Herzschlag kälter wurde. Die zahllosen Flocken, die lautlos vom Himmel rieselten, bedeckten die gesamte Landschaft und hüllten die Welt jenseits des dritten Baronats in ein Weiss, das am Tag in den Augen schmerzte und die Nacht in geisterhafte Helligkeit tauchte.

Von irgendwoher vernahm der Südländer den Klang fremder Stimmen. Er konnte nicht ausmachen, woher sie kamen oder von wem sie stammten. Es war ihm einerlei. Die Kälte lähmte seine Wahrnehmung, trübte seinen Geist und ließ alles um ihn herum erfrieren. Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet er, Tarek Doronzo, auf diese unwürdige Art und Weise sterben würde? In einem ehrenhaften Kampf zu sterben war eine Sache, hilflos in der Fremde zu erfrieren eine völlig andere.
Tarek spürte, wie alle Lebensgeister aus seinem Körper wichen. Er bemerkte einen Handgriff, der ihn grob und mit wenig Nachsicht aufrichtete. Erschöpft versuchte er die Augen zu öffnen, doch seine Kraft reichte selbst für diesen einfachen Akt nicht mehr aus. Selten hatte er sich derart schwach gefühlt. Sein Körper war gelähmt und verweigerte ihm jeden Dienst.

Die gedämpften Stimmen waren immer noch da. Waren das die Stimmen der Geister, die Tarek ins Reich der Toten begleiteten? Was würde ihn in der Welt seiner Ahnen erwarten? Im Gegensatz zu seinem Gefährten fürchtete er sich vor deren Urteil.
Der Körper des Südländers erschlaffte und sein Atem wandelte sich in ein schwaches Keuchen. Er war bereit, die Welt der Lebenden zu verlassen. Tarek gab sich seinem Schicksal hin. Es gab nichts, was ihn noch an diese Welt binden konnte. Er war aus der Heimat geflohen, in Gefangenschaft geraten und hatte ein halsbrecherisches Abenteuer an der Seite des Gyrdosers überstanden. Nicht viele konnten von vergleichbaren Erlebnissen berichten. Zudem hatte er in Korwin Aberia einen treuen Freund gefunden. Mehr konnte man sich in einem Leben nicht erhoffen.
Tarek spürte unangenehme Bewegungen, die ihn auf und ab wippen ließen. Irgendetwas Hartes bohrte sich in seine Magengegend, ließ kurz von ihm ab, um sich dann mit erneuter Wucht in sein Fleisch zu stemmen. Er spürte eine Übelkeit, die ihm schleichend die Kehle hinauf kroch. Sein Kopf dröhnte. Anscheinend war er doch nicht ins Reich der Ahnen eingekehrt. In seinem Inneren spürte er einen Funken an Leben und sah den Kolkraben, der ihn mit tiefschwarzen Augen anstarrte. Tarek versuchte die Augen zu öffnen, doch seine Kraft reichte nicht aus. Die Kälte hatte zu sehr an seinen Körper gezehrt und jede Glut, die in seinem Wesen loderte, auf einen Schlag erlöschen lassen.

Irgendwann spürte der Südländer eine sonderbar angenehme Wärme, die seine Haut sanft streichelte und seine Glieder von den Schmerzen befreite. Er war der unerbittlichen Kälte entkommen. Sein Gefühl kehrte langsam in den Körper zurück. Tarek spürte etwas Weiches, das ihm bis zum Hals reichte und seinen Leib bis zu den Füßen bedeckte. Als er die Augen aufschlug, sah er Korwin neben sich sitzen. War der Gyrdoser etwa mit ihm gestorben?

››Ich habe dir doch gesagt, dass wir es schaffen.‹‹
Tarek wirkte verunsichert. Er war in dicke Felle eingewickelt, während im Kamin ein Feuer knisterte.

››Wo ... wo bin ... ich ...‹‹, stammelte Tarek. Sein Blick schweifte verwirrt umher. Allem Anschein nach hatten sie es in eine Hütte geschafft.
Korwin lächelte. ››Wir sind in Sicherheit‹‹, antwortete der Gyrdoser knapp und reichte seinem Freund einen Becher. Das warme Getränk schmeckte sonderbar und doch tat es Tarek gut. Die Flüssigkeit rann ihm die Kehle hinab und wärmte sein Innerstes.

››Die Nordmänner nennen es Met. Es handelt sich um Honigwein, dem man im Norden eine heilende Wirkung zuschreibt‹‹, erklärte Korwin und genehmigte sich ebenfalls einen Becher. ››Nach unserem Abenteuer haben wir uns einen guten Schluck verdient. Wenn uns Thorben und seine Männer nicht gefunden hätten, wären wir im Eis erforen. Wir haben ihnen unser Leben zu verdanken.‹‹
Erst jetzt bemerkte Tarek die hühnenhafte Gestalt, die ungerührt an der gegenüberliegenden Wand stand und den Südländer mit neugierigen Blicken musterte.

››Dein Freund ist wach?‹‹, erkundigte sich der Fremde mit tiefer Stimme und stellte eine Axt mit gebogenem Stiel neben dem Eingang ab.

››Das ist Thorben Olafson. Er hat dich hier her gebracht‹‹, erklärte Korwin.
Thorben lachte heiser. ››Ich habe dich auf meinen Schultern zum Dorf getragen. Brandt hat mit mir gewettet, dass du den nächsten Sonnenaufgang nicht erleben wirst. Der alte Schwarzseher schuldet mir einen Windalf.‹‹
Tarek versuchte sich aufzurichten, doch seine Kräfte reichten nicht aus, um dem Berg aus Fellen zu entkommen.

››Du solltest dich ausruhen‹‹, sagte Korwin und drückte seinen Begleiter mit sanfter Gewalt zurück aufs Bett. ››Wenn du wieder bei Kräften bist, stelle ich dir den Rest unserer Retter vor.‹‹

Tarek leerte den Becher und ließ sich zurücksinken. Er war der grausamen Kälte entkommen und weilte zweifelsfrei unter den Lebenden. Das heiße Getränk begann zu wirken. Tarek fühlte sich schläfrig und seltsam benommen. Eine angenehme Wärme umfasste seinen Körper und ließ ihn für den Rest der Nacht schlafen.
Als der Morgen graute, kämpfte sich Tarek unter den Felldecken hervor und stemmte sich in die Höhe. Er fühlte sich wie neu geboren. Alle Schmerzen und die unerträgliche Kälte, die ihm auf der Wanderung zugesetzt hatte, schienen vergessen. Tarek sah sich in der Unterkunft um. Rundschilde zierten die Wände und über der Tür prangte ein seltsames Symbol, das weder Anfang noch Ende besaß. Das Zimmer war mit zwei einfachen Stühlen, einem rechteckigen Tisch, dem Bett und einer Truhe ausgestattet. Im Kamin knisterte ein wohlig warmes Feuer und dennoch fröstelte es ihn. Tarek sah an sich herab und bemerkte, dass man ihm jegliche Kleidung genommen hatte. Von seinem Hemd und der Hose war nichts zu sehen. Verstört sah er sich um. Wahrscheinlich hatte man seine Kleidung in der Truhe verstaut.
In diesem Moment wurde die Tür geöffnet und der Mann, den Tarek zuvor als Thorben kennengelernt hatte, betrat den Raum. Korwin und zwei weitere Nordmänner folgten ihm.

››Im Namen des schwertschwingenden Kriegers!‹‹, hörte er Korwin sagen. ››Warum muss ich dich immer nackt sehen? Willst du mich mit dem Anblick strafen? Womit habe ich das verdient?‹‹
Die Worte lösten unter den Nordmännern derbes Gelächter aus.

››Besorg unserem Gast angemessene Kleidung‹‹, sprach Thorben grinsend. Einer der Männer nickte und eilte umgehend davon.

››Korwin hat uns eure Geschichte erzählt. Ihr seid wagemutige Männer‹‹, sagte Thorben und ließ sich auf einem der Stühle nieder, der unter seinem Gewicht zu bersten drohte. ››Baron Cortess hat seine Lakaien mehrfach in unser Land entsandt, um mit den Häuptlingen und Stammesältesten zu verhandeln.‹‹

››Und wir haben ihm deren Köpfe als Antwort zurückgeschickt‹‹, sprach der Rothaarige. ››Nach dem vierten oder fünften Versuch gab er seine Bemühungen auf.‹‹

››Was wollte er von euch?‹‹, forschte Tarek nach und bedeckte sich mit einem der Felle den Schambereich. Die auf ihm und seiner Männlichkeit lastenden Blicke waren ihm sichtlich unangenehm.

››Es ging ihm um unser Land. Er wollte uns ins Baronat aufnehmen und versprach uns viele Annehmlichkeiten. Er wollte uns mit Gold, Silber und Juwelen locken, doch ein Nordmann lässt sich nicht kaufen. Wir haben alles, was wir zum Überleben brauchen und sind nicht auf die Hilfe eines Barons angewiesen.‹‹
Der Blick des Rothaarigen verfinsterte sich. ››Dieser Bastard wollte uns zu seinen kriechenden Untertanen machen. Bei Odin! Ein Nordmann dient keinem Baron, er dient nur den Göttern Asgards. Wenn er uns seine Truppen geschickt hätte, wäre ihnen meine Axt gewiss gewesen. Ich hätte jedem dieser Hunde den elenden Schädel gespalten.‹‹

››Beruhige dich, Brandt.  Wir haben vor Cortess und seinen Männern nichts zu befürchten. Er hat unsere Antwort sicherlich verstanden.‹‹
Endlich kehrte der Blondschopf mit der geforderten Kleidung zurück. Ein dickes Hemd, Wollhosen und schwere Fellstiefel wechselten den Besitzer.

››Ich hoffe, dass dir die Sachen passen.‹‹

››Mach dir darüber keine Gedanken, Olsen. Alles ist besser als das, was er zuvor am Leib getragen hat‹‹, sagte Thorben. ››Es war mutig und dumm zugleich, mit Sommerkleidung in den Norden zu reisen.‹‹

››Wir konnten nicht ahnen, dass es in eurer Heimat dermaßen kalt ist‹‹, gab Korwin zu. Laut den Erzählungen war der Norden ein freies Land, in dem jeder Mann ein gerechtes und angemessenes Leben führen konnte. Von Eis, Schnee und bitterer Kälte war nie die Rede.
Thorben und seine Männer lachten laut.

››Die meisten Besucher unterschätzen unsere Winter. Zahlreiche Wanderer sind im Laufe der Zeit der Witterung zum Opfer gefallen. Jeden Frühling können wir mindestens zehn Leichen zählen, die der Schnee freigibt. Ihr könnt euch glücklich schätzen, dass wir euch rechtzeitig entdeckt haben.‹‹
Tarek musste zugeben, dass die Kleidung den hiesigen Wetterverhältnissen ungemein dienlich war. Leider mangelte es dem Zimmer an einem Spiegel, in dem er sich betrachten konnte.

››Jetzt siehst du aus, wie ein echter Nordmann‹‹, sagte Thorben mit einem breiten Grinsen.

››Wie ein Nordmann aus dem Süden‹‹, fügte Brandt neckisch hinzu.

››Ich stelle dir den Rest des Dorfes vor. Sie können es kaum noch erwarten dich kennenzulernen.‹‹
Thorben erhob sich und ging mit großen Schritten zur Tür. Als er den Durchgang öffnete, wehte ihm und den Männern ein eisiger Wind entgegen, der Tarek auf der Stelle frösteln ließ und unangenehme Erinnerungen in ihm wachrief. Auch der Schneefall hatte nicht nachgelassen. Der Südländer stellte sich unweigerlich die Frage, wie man unter den gegebenen Umständen überleben konnte. Der Ort wirkte unwirklich, beinahe geisterhaft und von allem Leben verlassen.
Thorben führte die Männer zum größten Gebäude, das man im Dorf finden konnte. Das lang gezogene Haus mit dem hervorstehenden Satteldach wirkte im Gegensatz zu den anderen Häusern, die man im Dorf fand, geradezu riesig. Thorben packte die beiden Ringe, welche als Türgriffe dienten und öffnete kraftvoll die Torflügel. Im Inneren herrschte eine ausgelassene Stimmung und wohlige Wärme. Zahlreiche Frauen, Kinder und Männer waren hier zu finden. Manche saßen auf Bänken, andere tanzten ausgelassen. An den Wänden fand man riesige Banner und Teppiche, die mit fremdartigen Mustern und Zeichen versehen waren.

››Willkommen in der Methalle‹‹, sagte Thorben, nahm sich ein Trinkhorn und schüttete den Inhalt in sich hinein, ohne ein einziges Mal abzusetzen. Danach wischte er sich durch den goldgelben Bart und rief: ››Darf ich euch Korwin Aberias Freund vorstellen? Tarek Doronzo, der Mann von den südlichen Inseln.‹‹
Eine unheimliche Stille breitete sich unter den Anwesenden aus. Alle Blicke waren auf den Südländer gerichtet. Man konnte Tarek ansehen, wie unangenehm ihm die entgegen gebrachte Aufmerksamkeit war. Er stand nur ungern im Mittelpunkt. Thorben führte ihn und seinen Begleiter zum Ende der Halle. Auf dem dortigen Holzpodest saß ein grauhaariger Nordmann mit grimmigem, wettergegerbten Gesicht. Er trug die gebräuchliche Kleidung und einen braunen Fellmantel, der seine breiten Schultern bedeckte und von einer prachtvoll verzierten Fibel gehalten wurde. Neugierig musterte er den Südländer.

››Kaum zu glauben, dass ich in meinem Leben einen leibhaftigen Norfur begegnen darf.‹‹

››Einen was?‹‹, wollte Tarek wissen.

››Einen Insulaner‹‹, erklärte Korwin. Seit der Ankunft im Dorf hatte er einige Wörter aufgeschnappt und sich bei Thorben nach deren Bedeutung erkundigt.

››Ich bin Runrik Gustavsohn, Sohn des großen Gustav, den man auch den Eishammer nannte‹‹, sprach der Grauhaarige und reichte Tarek die Hand. ››Es freut mich, euch in meiner Trinkhalle willkommen zu heißen.‹‹

››Das ist also eine Art ... Gasthaus?‹‹
Tarek wirkte verunsichert. Bisher war ihm keine Schenke bekannt, in der Kinder geduldet wurden.
Runrik lachte herzhaft. ››Im Norden gelten andere Gesetze, mein Freund. In der kalten Jahreszeit ist diese Halle unser Versammlungsort, an dem wir essen, trinken, tanzen und manchmal auch schlafen. Außerdem huldigen wir den Göttern und beten für einen guten Frühling.‹‹
Tarek sah sich zu beiden Seiten um und erblickte überall freundliche Gesichter. Selten war man ihm auf ähnliche Weise begegnet.

››Setzt euch. Esst! Trinkt! Lasst uns feiern und den Götter für ihre Gaben danken.‹‹
Kaum hatte Runrik seinen Satz beendet, schlugen einige Männer die Trommeln und stimmten einen fremdartigen Gesang an. Die ausgelassene Stimmung kehrte augenblicklich zurück.
Tarek ließ seinen Blick weiter durch den Raum schweifen. Er entdeckte einige Frauen, die seinem Geschmack entsprachen.

››Vergiss es‹‹, raunte ihm Korwin zu. ››Wenn du eine von ihnen anfasst, musst du sie heiraten.‹‹

››Es gibt Schlimmeres‹‹, erwiderte Tarek augenzwinkernd, nahm eines der Trinkhörner und genehmigte sich einen großzügigen Schluck. ››Das Zeug schmeckt gar nicht so übel. Daran könnte ich mich gewöhnen.‹‹

››Du solltest dich vor beidem in Acht nehmen.‹‹

››Beidem?‹‹

››Vor dem Met und den einheimischen Frauen‹‹, antwortete Korwin. ››Das eine benebelt dir den Geist, das andere bricht dir im Ernstfall die Knochen. Die hiesigen Frauen sind nicht mit denen aus dem Baronat oder deiner Heimat zu vergleichen. Jede von ihnen könnte dir mühelos den Hals umdrehen.‹‹
Tarek lächelt schief. ››Lass das nur meine Sorge sein. Ich kann gut auf meine Haut aufpassen.‹‹

››Das ist mir bekannt‹‹, brummte Korwin zynisch und wandte sich von seinem Begleiter ab. Sollte er ruhig in sein Verderben rennen. Darin hatte der Südländer ausreichend Erfahrung und Übung. Korwin setzte sich an Thorbens Seite, der an einer gedeckten Tafel platz genommen hatte. Es gab geräucherten Fisch, eine dampfende Suppe und Met in rauen Mengen.

››Greif zu. Schließlich wollen wir nicht, dass du verhungerst oder verdurstest‹‹, sagte der Nordmann. Korwin nahm das Angebot gerne an. Nach zwei Fischen und einer Schüssel Suppe war sein Hunger gestillt. Thorben reichte ihm einen Metbecher.

››Trink mein Freund. An Runriks Tafel muss niemand Durst erleiden.‹‹
Obwohl Korwin ablehnen wollte, gab er seinem inneren Verlangen nach, nahm den Becher und führte ihn bedächtig zu den Lippen.

››Meine Frau trinkt besser als du‹‹, scherzte Brandt, was unter den restlichen Nordmännern für Erheiterung sorgte.

››Vielleicht benötigt er etwas Übung‹‹, rief ein breitschultriger Kerl mit Augenklappe.

››Das ist Gunrad, das Einauge. Mit ihm solltest du nicht um die Wette trinken. Er säuft wie ein Schwein und schafft es selbst nach einem Kessel Met, die Axt noch ins Ziel zu werfen‹‹, erklärte Thorben mit einem neckischen Unterton.

››Die Männer jenseits des Nordens sind völlig verweichlicht‹‹, grunzte Gunrad und leerte seinen Becher in einem Zug. Der Kerl war Korwin unheimlich. Mit der Augenklappe, dem schwarzen, unbändigen Haar und dem struppigen Oberlippenbart erinnerte ihn Gunrad an einen Mann, den man aus den Geschichten seiner Heimat kannte.

››Wie wäre es mit einem Schaukampf? Du und ich auf den Schilden.‹‹
Gunrads Auge funkelte den Gyrdoser herausfordernd an. ››Traust du dich oder versteckst du dich unter dem Rock deiner Mutter? ‹‹

››Lass es gut sein‹‹, mischte sich Thorben ein. ››Er ist unser Gast und bestimmt nicht an einem deiner Wettkämpfe interessiert.‹‹

››Ich wusste, dass er den Schwanz einzieht‹‹, erwiderte Gunrad und genehmigte sich einen weiteren Becher. ››Die Männer jenseits des Nordens sind alles weinerliche Memmen.‹‹

››Du willst dich mit mir messen? Dann erkläre mir die Regeln‹‹, sagte Korwin, was bei Thorben und Brandt für Verwunderung sorgte.

››Du musst das nicht tun‹‹, flüsterte Thorben, doch Korwins Entscheidung stand fest. Er würde dem Großmaul eine Lektion erteilen. Gunrad lächelte verschlagen.

››Jeder von uns wird auf einem Schild in die Höhe gehoben. Danach versuchen wir den Gegner mit Armen und Beinen zu Boden zu stoßen. Jede Art von Schlägen und Tritten ist erlaubt. Klingt einfach, oder?‹‹
Korwin nickte. In Gyrdos hatte er in der Vergangenheit an ähnlichen Wettkäpfe teilgenommen. ››Dann lass uns anfangen.‹‹

››Die Schilde!‹‹, röhrte Gunrad und stemmte sich in die Höhe. In dieser Position sah er noch weit beeindruckender aus. Er war ein geradezu riesiger Brocken, den man in einem Kampf zweifelsfrei nur schwer bezwingen konnte. Zwei nicht minder stämmige Männer legten sich einen Rundschild auf die Schultern und Gunrad sprang von der Bank auf die wankende Plattform. ››Wähle deine Schildträger.‹‹
Korwins Wahl fiel auf Thorben und Brandt. Beide hatten etwa die gleiche Größe, was eine gleichmäßige Ebene versprach. Gunrad würde es bei seinen Schildträgern schwerer haben. Der Größenunterschied seiner Männer war minimal und doch könnte sich diese Tatsache als Nachteil erweisen.

››Wer zuerst den Boden küsst, verliert. Du kannst die Träger beliebig dirigieren, wobei sie im Kampf neutral bleiben. Sie dürfen weder eingreifen noch angegriffen werden. Ansonsten ist fast alles erlaubt. Hast du das verstanden?‹‹
Korwin nickte und bestieg wortlos den Schild.

››Dann lasst das Kräftemessen beginnen!‹‹
Die Schildträger kamen einander entgegen, bis sich die Kontrahenten mit den Armen erreichen konnten.

››Habe ich eigentlich erwähnt, dass mich erst ein Mann bei diesem Wettbewerb geschlagen hat?‹‹ Gunrad lachte heiser.

››Nach dem heutigen Tag werden es zwei Männer sein‹‹, gab Korwin selbstbewusst zurück.
Die Trommeln schlugen in gleichmäßigem Takt und alle Augen waren auf die Kontrahenten gerichtet. Auch Tarek folgte dem Schauspiel. Er würde eine Münze auf seinen Begleiter setzen, obwohl ihm der Nordmann an Größe und Stärke eindeutig überlegen war. Korwin hingegen war flink und wusste, wie man in einem Kampf reagieren musste, um den Gegenr in Verlegenheit zu bringen.
Gunrad ließ die Faust hervor schnellen, doch der Gyrdoser wich blitzschnell zur Seite aus. Er hielt sich erstaunlich gut auf dem wankenden Schild. ››Zurück!‹‹, rief er.

››Vorwärts!‹‹, brüllte Gunrad und schlug erneut nach seinem Gegner.
Korwin warf den Oberkörper zurück, packte nach dem Arm seines Widersachers und schnellte wie ein Pfeil hervor. Sein Schlag traf den Nordmann mitten auf der Brust, was Gunrad jedoch nicht im Geringsten beeindrucken konnte. ››Mehr hast du nicht zu bieten? Du schlägst wie ein Weib!‹‹
Die linke Faust des Nordmanns sauste heran und traf Korwin mit voller Wucht an der Schulter. Durch die immense Kraft musste der Gyrdoser mit den Armen rudern, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

›› Nach rechts!‹‹, befahl er den Schildträgern. Thorben und Brandt setzten sich umgehend in Bewegung.

››Willst du ewig vor mir davonlaufen?‹‹, schnaubte Gunrad. ››Wie lange werden das deine Träger durchhalten?‹‹
Hoffentlich lange genug, dachte Korwin. Er musste den passenden Moment abwarten. Danach würde der Nordmann Bekanntschaft mit dem Boden machen. Gunrads leichte Schräglage schien den Nordmann nicht zu beeinträchtigen, doch Korwin war fest entschlossen, den geringfügigen Nachteil auszunutzen.

››Folgt dem Weichling! Ich werde dem ein Ende machen.‹‹
Gunrads Schildträger tippelten in die angewiesene Richtung.

››Links!‹‹, rief Korwin und duckte sich unter einem kraftvollen Hieb ab. Wie zu erwarten, gab Gunrad seinen festen Stand auf und wagte sich gefährlich nah an den Rand seines Schilds. Korwin täuschte einen Schlag an, trat seinem Gegner gegen das Standbein und stieß ihm mit der Faust vor die Brust. Der Nordmann wankte, ruderte unbeholfen mit den Armen und stürzte mit einem Fluch auf den Lippen zu Boden. Mit einem dumpfen Laut landete er auf dem Untergrund. Nach einem kurzen Moment der Stille brach unter den Anwesenden Jubel aus.
Leichtfüßig sprang Korwin vom Schild und kam seinem Gegner entgegen. Mit einem verschlagenen Lächeln reichte er dem Unterlegenen die Hand und half dem Nordmann auf die Beine.

››Beim nächsten Mal bin ich auf deine Tricks vorbereitet‹‹, brummte Gunrad und stapfte beleidigt davon.
Thorben klopfte dem Gyrdoser anerkennend auf die Schulter. ››Du hast gut gekämpft und das Einauge in seiner Ehre gekränkt.‹‹

››Er wird es überleben‹‹, erwiderte Korwin und sah, wie Gunrad im hintersten Winkel der Halle verschwand.

››Das Einauge ist ein tapferer Mann und darüber hinaus einer unserer besten Kämpfer. Leider handelte es sich bei ihm um einen schlechten Verlierer, der eine Niederlage nicht so leicht wegstecken kann. Er wird dich bei der nächsten Gelegenheit erneut herausfordern.‹‹

››Ich werde sein Angebot jederzeit annehmen‹‹, entgegnete Korwin und nahm auf einer der Bänke platz. Für heute hatte er genug vom Kräftemessen.

 

2.

In den nächsten Tagen sollte das Einauge die Gesellschaft des Gyrdosers meiden. Wenn man sich in der Trinkhalle traf, setzte sich der Nordmann ans andere Ende und würdigte Korwin keines Blickes. Die Niederlage setzte ihm arg zu und nagte an seinem Geist.

››Er wird sich schon wieder beruhigen‹‹, sagte Thorben. ››Willst du uns bei dem bevorstehenden Ausflug begleiten? Tarek ist natürlich auch eingeladen.‹‹

››Ausflug?‹‹, erkundigte sich Korwin.

››Wir gehen fischen.‹‹

Korwin stutzte. Wo in aller Welt sollte man an diesem Ort fischen? Weit und breit gab es nichts außer Eis und Schnee.

››Bist du dir sicher, dass man in der Umgebung Fische fangen kann?‹‹

Thorben lachte, als hätte sein gegenüber einen Scherz gemacht. ››Was glaubst du, wo die Fische an unserer Tafel herkommen?‹‹

In diesem Punkt konnte er dem Nordmann nicht widersprechen. Korwin bezweifelte, dass man für ein paar Forellen lange und beschwerliche Handelswege in Kauf nahm.

Am nächsten Morgen, als die Sonne gerade über den Horizont kroch, standen die Männer bereit. Thorben, Brandt und der blonde Olsen trugen allesamt dicke Felle, in denen sie noch größer und mächtiger wirkten, als sie es ohnehin schon waren. Auch Gunrad war unter ihnen zu finden. Das Einauge würdigte die Fremden keines Blickes. Stattedessen widmete er sich seiner Klinge und prüfte, ob sich das Schwert seiner Wahl in einem annehmbaren Zustand befand.

››Für die Scharten sollte man Alban ohrfeigen! Der Junge wird es nie lernen. Er wird den Stahl nie verstehen.‹‹

››Du musst geduldig sein‹‹, sagte Thorben. ›› Er ist noch jung. Eines Tages wird er einen ausgezeichneten Krieger abgeben.‹‹
Statt zu antworten, stieß Gunrad ein grimmiges, einschüchterndes Knurren aus und wandte sich mit einer ruckartigen Bewegung ab. Er würde sich nicht von seiner Meinung abbringen lassen. Korwin wusste, dass der Nordmann keine weitere Schwäche an den Tag legen wollte. Das Gehabe war ihm bestens aus der Heimat bekannt. Auch in Gyrdos waren die Männer ähnlich gestrickt - allesamt muskelbepackte Krieger, die jeden Tag auf Tod und Verderben vorbeireitet wurden. Die Ausbildung zum Krieger war mühselig, mit Schmerzen verbunden und von gnadenloser Härte gezeichnet.

Tarek war nicht minder dick eingepackt, wenngleich er und sein Begleiter nicht mit dem Erscheinungsbild der Nordmänner mithalten konnten. Thorben trug seine geschwungene Axt und eine Hacke, während der Rest seiner Männer mit Schwertern und Angeln ausgerüstet war.

››Sind die Waffen notwendig?‹‹, wollte Tarek wissen. ››Ich dachte, wir gehen auf Fischfang.‹‹

››Im Norden sollte man den Schutz des Dorfes nie ohne Waffen verlassen. Dort draußen gibt es Kreaturen, denen ich nicht ohne meine altbewährte Axt begegnen will‹‹, erklärte Thorben und gab mit einem ruppigen Handzeichen den Befehl zum Aufbruch.

Das Schneegestöber hatte irgendwann in der Nacht nachgelassen, doch die unerbittliche Kälte war immer noch präsent und schmerzte auf Tareks Gesicht, wie tausend Nadelstiche. Mühsam stapfte er durch die Winterlandschaft und fiel bereits

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: René Grigo
Bildmaterialien: Pixabay (lizenfreies Bild)
Lektorat: John R. Grayson
Tag der Veröffentlichung: 23.04.2023
ISBN: 978-3-7554-4009-3

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für die Krähen, die mich in meinem Leben begleiten.

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