Die Sonne schien an jenem Tag sanft auf das Drachenland herab, die Vögel zwitscherten und unzählige Menschen drängten sich durch die verschlungenen Straßen der Metropole Tarith.
In einer kaum beachteten Ecke des Marktplatzes stand der junge Zauberschüler Schlores Kokolores und brachte die spärlich um ihn versammelten Menschen zum Staunen. Er ließ eine silberne Münze in seiner rechten Hand verschwinden und in der linken, wie aus dem Nichts, wieder erscheinen. Schlores hatte vor wenigen Tagen die Anforderungen des ersten Grades der Zauberei erreicht und viel mehr als Taschenspielertricks, beherrschte er noch nicht. Die allgegenwärtige und immerwährende Problematik mit der Magie bestand darin, Zaubersprüche auswendig zu lernen und den Fluss der Zauberkraft zu beherrschen, was Schlores ungemein schwerfiel. Die Worte wollten ihm einfach nicht im Gedächtnis haften bleiben, während der magische Strom immer wieder einen eigenen Willen, vielleicht sogar ein eigenes Bewusstsein entwickelte. Selbst wenn Schlores die Worte einstudierte, verschwanden die Formeln immer wieder auf die gleiche, gespenstische Art und Weise.
Um ein großer und geachteter Magier zu werden, bedarf es vieler mühseliger Aufgaben, auf die Schlores zu gerne verzichtet hätte. Vor anspruchsvollem Publikum aufzutreten war eine davon. Schon mehrmals war er von den Zuschauern für seine eher spärlichen Bemühungen ausgelacht worden. Oft ging bei seinen kläglichen Zauberversuchen etwas daneben. Der vermaledeite Magiefluss wollte ihm einfach nicht gehorchen, geschweige denn, sich ihm unterordnen. Verkohlte Trümmer und schwarze Rauchschwaden waren mehrfach die Folge seiner Bemühungen. Trotzdem wollte Schlores nicht aufgeben.
Insgesamt gibt es im Drachenland dreizehn Stufen des Magiers, womit man mit der Letzten zum Meistermagier ernannt wird. In anderen, weit entfernten Ländern kann ein guter Magier sogar bis zur zwanzigsten Stufe aufsteigen, was aber ein jahrzehntelanges Studium der alten Schriftrollen voraussetzt. Von all dem war Schlores Kokolores noch unendlich weit entfernt. Den hoch angesehenen Rang eines Großmagiers würde er wohl nie erreichen. Er konnte sich glücklich schätzen, wenn er die dritte Stufe erreichen würde. Alles andere war derzeit reine Utopie. Meister Rasputin war Großmagier im zehnten Grad und er hatte oft Mühe, seinen Schützling im Zaum zu halten. Schlores war ein Schüler mit schier unbändiger Energie, was manchmal zu einer unkontrollierten Ladung an magischer Essenz führte. Dennoch nutzte Rasputin jede Gelegenheit, um seinen Schüler darauf hinzuweisen, dass der Weg aller Zauberei lang und steinig war und in den meisten Fällen weitaus schwieriger zu erlernen, als einer der herkömmlichen Handwerksberufe.
Schlores wusste, wie man sich vor der versammelten Meute verhalten musste, um die Blicke für einen Moment zu bannen. Der Zauberschüler konnte diesen Teil seiner Ausbildung unmöglich umgehen, was ihm ein ums andere Mahl ein mulmiges Gefühl in der Magengrube bescherte. Die fließende Magie ließ sich schwer bändigen und es bedurfte jahrelanger Übung, um ein gewünschtes, zufriedenstellendes Resultat zu erzielen. Zauberei wirkte nur durch die absolute Kontrolle des magischen Stroms. Schlores wusste, dass ihm heute ein guter Tag bevorstand. Nicht umsonst hatte er die letzten Tageslichter ausschließlich mit magischen Schriften und Zauberformeln verbracht. Heute würde er die Menge zum Staunen bringen. Bisher hatte jeder seiner Tricks funktioniert und die Magie ließ sich in schwachen Wogen kontrollieren. Auch die spärlichen Zuschauer waren von der Vorführung des jungen Zauberers zumindest nicht gelangweilt und schienen durchaus angetan von den Darbietungen. Diesmal würde er sie von sich und der Zauberei überzeugen.
››Kommen wir zum letzten Zauberkunststück für heute. Ich werde nun dieses Ei in einer der sieben Dimensionen verschwinden lassen‹‹, sagte Schlores ernst, murmelte eine mystische Formel und stierte mit konzentriertem Blick auf das Ei in seiner Hand. Es zischte leise und das Ei war nun tatsächlich verschwunden. Schlores spürte, dass etwas von unkontrollierbarer Natur auf ihn lauerte. Der magische Fluss war ihm abhandengekommen und würde sich jeden Moment gegen ihn wenden. Nur einen Wimpernschlag später landete das rohe Ei auf dem Kopf des jungen Magiers und zerbrach. Eine schleimige, glibberige Masse lief ihm von den Haaren übers Gesicht.
Die beiden rothaarigen Geschwister, die man oft an dieser Stelle antreffen konnte, lachten laut und auch die erwachsenen Zuschauer krümmten sich prustend.
››Du bist ein lustiger Zauberer. Kommst du nächste Woche wieder und zeigst uns, wie du das Ei aus deinem Haar wäschst?‹‹, wollte Katie, die rothaarige Göre, frech wissen.
Schlores schämte sich für seinen kläglichen Zauberversuch und wischte sich mit unbeholfenen Handbewegungen das Ei aus den Haaren. Natürlich löste das nur noch heftigeres Lachen unter den Versammelten aus.
Enttäuscht und gedemütigt packte Schlores seine spärlichen Utensilien zusammen und bemerkte nicht, dass Meister Rasputin schon eine ganze Weile hinter ihm stand.
››Die Menschen sind undankbar und werden es immer sein. Den Trick mit der Münze fand ich gar nicht so schlecht. Danach hast du die Magie für einen kurzen Augenblick aus dem Fokus verloren und sie ist dir entwischt. Daran sollten wir noch arbeiten. Lass uns jetzt nach Hause gehen‹‹, sprach Rasputin mit einer Stimme, die schon Jahrhunderte überdauert hatte. Erschrocken drehte sich Schlores um und ließ seine zusammengepackten Zauberutensilien fallen, was den Zuschauern zu einem weiteren Lacher verhalf. Rasputin schmunzelte und legte seinem Schüler die Hand auf die Schulter.
››Jeder hat einmal klein angefangen. Es ist noch kein Magier vom Himmel gefallen. Nur durch Übung kannst du dich eines Tages Meistermagier nennen. Jetzt lass den Kopf nicht hängen. Mit etwas Übung und der notwendigen Konzentration wirst du auch diese Hürde meistern.‹‹
Schlores sammelte seine Sachen auf und stopfte sie in den abgewetzten Lederbeutel. Plötzlich ertönte eine panische Stimme und ein Mann rannte kreidebleich und angsterfüllt dem Marktplatz entgegen. Er wedelte wild mit den Armen und schrie wie von Sinnen. Rasputin trat blitzschnell aus dem Schatten und stellte sich dem Ruhestörer in den Weg. Mit einer kräftigen Bewegung, die man dem alten und schwachen Mann gar nicht zutrauen wollte, packte Rasputin den aufgeregten Kerl am Arm und sprach: ››Beruhige dich! Was ist passiert, dass du alle in Aufruhr versetzen musst? Hast du den Verstand verloren?‹‹
Der Mann zitterte und der tief sitzende Schrecken stand ihm ins Gesicht geschrieben.
››Ein schwarzer Drache‹‹, stotterte der Mann und deutete verstört in die Richtung, aus der er gekommen war. ››Wir müssen fliehen! Bringt die Kinder in Sicherheit! Rennt um euer Leben!‹‹
Als die Versammelten die beunruhigenden Worte hörten, brach Panik unter den Menschen aus und alle liefen wild durcheinander.
››Ich habe seit Jahrzehnten keinen schwarzen Drachen mehr in dieser Gegend gesehen. Das ist sehr merkwürdig‹‹, murmelte Rasputin leise und fuhr sich nachdenklich durch den langen, grauen Bart. Trotz aller Aufregung wirkte der Großmagier beunruhigend gefasst.
››Dann sollte wir besser das Weite suchen‹‹, schlug Schlores ängstlich vor und sah sich nach einer geeigneten Fluchtmöglichkeit um, obwohl noch nichts von dem Untier zu sehen war. Meister Rasputin rührte sich nicht vom Fleck. Er stand einfach nur da und runzelte mit der faltigen Stirn, ohne seinem Schützling weitere Beachtung zu schenken. Er war tief in Gedanken versunken.
››Bei allem Respekt Meister, wir sollten fliehen. Ich habe gelesen, dass schwarze Drachen sehr unangenehme, bösartige Zeitgenossen sind und sie sich nur äußerst schwer bekämpfen lassen. Selbst für einen hochrangigen Magier stellen diese Drachen eine ernsthafte Gefahr dar. Wir sollten endlich verschwinden‹‹, sprach Schlores und fuchtelte nervös mit den Händen in der Luft. Plötzlich sah man einen Schatten vom Himmel fallen, der nur einen Steinwurf von Rasputin und seinem Schüler entfernt am Boden aufschlug und in einer gewaltigen Staubwolke verschwand. Schlores hustete und bedeckte die Augen, während Rasputin ganz in Gedanken versunken schien und nichts von all dem bemerkte. Der heftige Aufprall schien den Magier nicht zu beeindrucken. Als sich der Staub legte, sah Schlores eine hünenhafte Gestalt, die sich vom Boden erhob und ächzend streckte. Die eindrucksvollen Flügel des Wesens ließen nur eine Schlussfolgerung zu – es handelte sich bei der Kraetur um einen leibhaftigen Engel. Das lange, dunkelblonde Haar wehte unbändig im aufkommenden Wind, während ein Blutstreifen das Gesicht der imposanten Erscheinung zierte. Der Engel trug eine silbern glänzende Rüstung, die nach dem Sturz mit Kratzern und Beulen übersät war. Die weißen Schwingen ragten weit über den breiten Schultern des Wesens hervor und schienen vollständig mit der Rüstung verwachsen, was den Engel noch eindrucksvoller erscheinen ließ. Ohne die beiden Zauberer auch nur eines Blickes zu würdigen, marschierte er zur nächstgelegenen Schmiede und griff sich ein Zweihandschwert, welches etwa die Größe von Schlores hatte. Mühelos hob er die Waffe mit mit einer Hand in die Höhe und breitete seine Flügel aus. Schlores hatte so etwas noch nie zuvor gesehen und war sich nicht sicher, ob er dies nur träumte oder wirklich erlebte. Rasputin stand in seinem grauen Mantel da und klopfte mit dem hölzernen Stab taktvoll auf den Boden.
››Was hat das alles zu bedeuten?‹‹, stammelte Schlores verängstigt und wich zwei Schritte zurück.
››Wenn ich das nur wüsste‹‹, entgegenete Rasputin murmelnd. Auch ihm gab das Geschehen Rätsel auf.
Einen Atemzug später konnte man den aufgebrachten Drachen deutlich erkennen. Obwohl die Stadtmauer hoch konstruiert war, überragte das Ungetüm das Gemäuer um gut drei Speerlängen. Feuer schoss aus dem Schlund der aufgebrachten Bestie und verwandelte die Steine der Mauer in einen rauchenden, geschmolzenen Klumpen. Auch das Tor fing unter der unmenschlichen Hitze Feuer und brannte auf einen Schlag lichterloh. Durch diesen nur schwer zu beschreibenden Anblick von Tod und Zerstörung stellte Schlores entsetzt fest, dass ihm womöglich das Gleiche bevorstand. Mit panischem Blick sah sich um und suchte verzweifelt nach einem Ausweg. Ohne näher darüber nachzudenken, sprang der junge Zauberer in den Schatten eines längst verlassenen Marktstandes. Obwohl die Bretterbude kaum Schutz vor dem Feuer des Drachen bot, war Schlores zumindest vorläufig aus dem Blickfeld des Ungeheuers verschwunden. Schnell faltete er die Hände und betete zu sämtlichen Göttern, die ihm in diesem ausweglosen Moment in den Sinn kamen.
Rasputin klopfte mittlerweile heftiger mit dem Stab auf den Boden und hatte die Warnungen seines Schülers längst vergessen.
Der fauchende Drache steckte mit seinem feurigen Atem einige Häuser in Brand und es schien nicht so, als wolle er mit der Zerstörung nachlassen. Rasend vor Wut stapfte er der Stadt entgegen und riss die ersten Lehmhütten nieder. Wie in Rage bahnte er sich einen Weg, zertrampelte Bäume, riss die Überreste der zerstörten Mauer nieder und kam dem Inneren der Stadt gefährlich nah. Aus der Nähe sah das Ungetüm noch bedrohlicher aus. Der schwarz geschuppte Kopf des Scheusals ragte weit in den Himmel und schoss immer wieder aus der Höhe hinab, um nach einem geeigneten Opfer zu schnappen.
Das engelartige Wesen nahm Anlauf, schlug mehrmals mit seinen Schwingen und erhob sich nach wenigen Schritten in die Lüfte. Unter kräftigen Flügelschlägen stieg die Kreatur weit in die Höhe, um dann im Sturzflug den Drachen anzugreifen. Nur kurz darauf sollte ein entschlossener Kampfschrei ertönen. Ein krachender Schwerthieb folgte. Der Drache brüllte, schien aber nicht ernsthaft verletzt. Durch den kraftvollen Angriff des Engels hatte er nichts von seiner Tobsucht eingebüßt. Rasend vor Wut bäumte er sich auf, während das handgroße Stück einer gebrochenen Schuppe zu Boden fiel. Aufgebracht schlug der Drache den lästigen Angreifer mit einer Pranke zu Boden. Der Engel stürzte dem Erdboden entgegen und krachte in einen verwaisten Marktstand, dessen Holz beim Aufprall zersplitterte. Benommen rappelte er sich auf, stemmte sich in die Höhe und stürmte dem Ungetüm ein weiteres Mal entgegen. Diesmal flog er pfeilartig in die Höhe, auch wenn seine Bewegungen dabei etwas ungenauer wirkten, schoss steil herab und versuchte dem Drachen das Schwert in die Brust zu rammen. Auch dieser Angriff wurde von dem Ungetüm abgewehrt. Der Drache wischte den Angreifer mühelos mit einem Schweifschlag beiseite. Wutentbrannt bahnte sich das tobende Ungetüm einen Weg durch alles, was sich ihm in den Weg stellte. In diesem Moment sahen die feuerroten Augen des Ungetüms hasserfüllt auf Rasputin herab. Dann geschah das Unglaubliche - für einen Moment verharrte der Drache an Ort und Stelle und starrte den Großmagier grunzend an, als wolle er mit ihm auf einer höheren Ebene kommunizieren. Rasputin bewegte sich nicht vom Fleck.
Der Engel nutzte die sich bietende Gelegenheit, flog einen weitläufigen Bogen und stach dem Ungetüm das Schwert von hinten bis zum Anschlag in den gewaltigen Schädel. Mit weit aufgerissenen Augen bäumte sich der Drache auf, stieß einen entsetzten Schrei aus und brach leblos in sich zusammen. Das Leben hatte den mächtigen Körper verlassen.
Rasputin sah den Fremden verwirrt an, kam dem Engel einige Schritte entgegen und blieb in sicherer Entfernung stehen. Mit kritisch fragendem Blick musterte er die Gestalt.
››In dieser Gegend kommt es selten vor, dass jemand vom Himmel fällt und einen schwarzen Drachen erlegt. Ich glaube du bist uns eine Erklärung schuldig.‹‹
Der Engel zog das Schwert aus dem Kopf des Ungetüms, sprang mit einem Satz vom gehörnten Schädel und landete nur zwei Armlängen von Rasputin entfernt. ››Man nennt mich Raziel, den Seelenjäger.‹‹
Rasputin wusste nicht recht, was er davon halten sollte. Aus welchem Grund sollte ausgerechnet ein Seelenjäger von göttlicher Herkunft gegen einen schwarzen Drachen kämpfen? Bevor er jedoch weitere Fragen stellen konnte, waren die Bewohner der Stadt aus ihren Verstecken zurückgekehrt und betrachteten ungläubig den angerichteten Schaden. Unzählige Häuser hatte der Drache entweder niedergerissen oder in Brand gesteckt. Das Ausmaß der Zerstörung war immens.
Ein dicker Mann mit roten Backen gesellte sich an Rasputins Seite. Er trug eine rote Jacke, die seinen Bauch kaum verbergen konnte, weit geschnittene schwarze Hosen und teuer gefertigte Schuhe.
››Als Bürgermeister der Stadt Tarith sollte ich euch danken, dass ihr uns gerettet habt. In Anbetracht des angerichteten Schadens solltet ihr jedoch froh sein, wenn ich euch nicht ins dunkelste Verlies der Stadt werfen lasse! Deshalb werde ich euch aus unserer Stadt verbannen. Wir können gut auf eure Hilfe verzichten. Seht euch nur die Zerstörung an!‹‹
Raziel schien für einen winzigen Moment irritiert, da er eine andere Art der Anerkennung und des Lobes erwartet hatte. ››So zeigt ihr Sterblichen eure Dankbarkeit?‹‹, erkundigte er sich lauernd und zog fordernd eine Augenbraue nach oben.
››Verschwindet endlich!‹‹, fluchte der Bürgermeister mit hochrotem Kopf. Seine dicken Adern am Hals pulsierten. Der Mann war ganz offensichtlich wütend und aufgebracht. Rasputin legte die Hand auf die Schulter des Seelenjägers und versuchte ihn zu beruhigen.
››Wir sollten verschwinden, bevor man uns wirklich noch einsperrt.‹‹
Auch Schlores hatte die Drohung des Bürgermeisters gehört, kam mit schnellen Schritten hinter seinem Versteck hervor und lief seinem Meister aufgeregt entgegen. Einige Stadtbewohner hatten ihren gesamten Besitz verloren und bewaffneten sich nun mit Knüppeln, Heugabeln oder mit dem, was der Drache übrig gelassen hatte. Schließlich waren der Fremde und der Drache gleichermaßen an dieser Misere schuld.
Schlores erreichte seinem Meister und sah diesen fragend an. Rasputin galt als ungemein weise, und wusste natürlich, wann es an der Zeit war, das Geschehen zu verlassen. Er hob seinen Stab, wirbelte ihn herum und murmelte seltsame Worte einer sehr alten Sprache. Noch bevor der wütende Mob sie erreichen konnte, waren die beiden Zauberer mitsamt dem Seelenjäger in einer dichten Rauchwolke verschwunden. Verärgert und verwundert zugleich standen die Bewohner Tariths im Kreis und verfluchten die Zunft der Magier und jeden erdenklichen Drachen.
Hustend sank Raziel zu Boden. Es dauerte einige Zeit, bis er die ungewöhnliche Art des Reisens verdaut hatte. Als er wieder einigermaßen klar sehen konnte und sich sein Magen beruhigte, fiel ihm ein halb zerfallenes Haus mit Satteldach auf, welches an den Wänden beinahe vollkommen mit Moss, Farn und Efeu bedeckt war.
››Lasst uns hinein gehen. Nach den Strapazen sollten wir uns erst einmal eine Tasse heißen Tee genehmigen‹‹, sagte Rasputin mit freundlicher Stimme.
››Wo in aller Welt sind wir?‹‹, wollte der Seelenjäger wissen, während er wieder auf die Beine zu kommen versuchte.
››Zu Hause‹‹, antwortete Schlores keuchend. ››Es wird dir gleich besser gehen. Diese Art zu Reisen ist ein wenig … gewöhnungsbedürftig. Auch ich habe so manches Mal meine Probleme damit.‹‹
Raziel folgte den Zauberern, auch wenn er noch recht wacklig auf den Beinen war. Im Inneren der Behausung sah alles völlig anders aus, als man es vom ersten, äußeren Eindruck erwarten mochte. Der Raum war relativ groß und mit einer Feuerstelle, einem Tisch und vier Stühlen etwas spartanisch, aber dennoch gastfreundlich eingerichtet. Rasputin hatte sich schon an den runden Holztisch gesetzt und begutachtete seinen Gast. Raziel konnte seine Verwunderung über diese außergewöhnliche Räumlichkeit kaum verbergen.
››Du scheinst erstaunt darüber, wie es hier im Inneren des Hauses aussieht.‹‹
Rasputin kicherte vergnügt, bevor er gefasst weitersprach. ››Wir leben in einer schwierigen Zeit und niemand käme auf die Idee, in eine derart verfallene Ruine einzubrechen. Aber der Schein trügt, wie du siehst. Hinter der Fassade kann man die schönsten und sonderbarsten Dinge entdecken. Aber jetzt zum Wesentlichen. Schwarze Drachen tauchen nicht einfach so vor Städten auf und Seelenjäger regnet es meines Wissens in dieser Gegend auch eher selten.‹‹
Raziel nahm auf einem der Stühle platz und berichtete von seinen Erlebnissen.
››Der Drache sollte mich töten oder wenigstens eine Weile beschäftigen, um mich von meiner Mission abzuhalten. Schon weit vor den Toren der Stadt hat er mich angegriffen. Dieses Biest war ein verdammt zäher Gegner. Ich hätte nicht mit solch aggressiver Gegenwehr gerechnet.‹‹
Schlores servierte derweil den Tee und lauschte gespannt der Unterhaltung.
››Meines Wissens begleitet euresgleichen die Seelen Verstorbener in die Reiche der Götter. Da scheint es mir etwas abwegig, dass man euch ins Drachenland schickt, um Drachen zu bekämpfen.‹‹
››Ich stehe im Dienst der Göttin Lourdes, der Göttin des Lichts und des Fürsten Thanos, dem Herrn der Unterwelt. Beide sind sehr beunruhigt, denn das Drachenland nähert sich einem gefährlichen Abgrund‹‹, erklärte Raziel mit ernstem Gesicht.
››Was genau meinst du damit? Ich fürchte, mir fehlt da der nötige Überblick. Laut meines Wissens haben wir vor den Feinden der Vergangenheit nichts mehr zu befürchten. Die alten Kriege sind längst ausgefochten und vergessen. Natürlich wird es auch weiterhin mit den benachbarten Ländern zu Reibereien kommen, doch eine Gefahr kann ich nicht erkennen.‹‹
Raziel sah den alten Magier ernst an. ››Vor langer Zeit versteckten die drei größten Magier des Drachenlandes eine magische Formel, deren Kraft zu groß für jedes existierende Lebewesen war. Niemals sollte etwas Böses in den Besitz der mächtigen Formel gelangen, denn ihre Macht selbst, wäre in der Lage die beiden Reiche der Götter zu vernichten‹‹, erzählte der Seelenjäger weiter.
››Die Grande Grimoire!‹‹, stieß Rasputin erschrocken hervor. Mit weit geöffneten Augen starrte er den Seelenjäger an.
››Wie ich sehe, hast du schon von der Formel gehört. Leider hatten die Magier versteckte Hinweise auf den Verbleib der Formel hinterlassen, damit irgendwann ein Auserwählter sie zugunsten des Guten nutzen könnte. Soweit ich weiß, soll ein Magier namens Drackur auf der Suche nach der Formel sein. Wenn die Grande Grimoire in seine Hände gerät, sind wir alle verloren. Mithilfe der Formel kann er eine Pforte öffnen, um die Teufel einer längst vergangenen Zeit ins Drachenland zu lassen. Sie werden alles ins Chaos stürzen. Selbst die Reiche der Götter sind dann in Gefahr. Wenn Drackur erst in den Besitz der Formel gelangt und die überirdische Macht kontrolliert, dann ist unser Ende gekommen.‹‹
››Es beunruhigt mich zutiefst, was du da sagst. Nun verrate mir, wie du gedenkst gegen Drackur vorzugehen, wenn du bei einem schwarzen Drachen schon solche Mühe hast‹‹, wollte Rasputin wissen und seine Stirn warf erneut tiefe, nachdenkliche Falten auf. Schlores stand am Tisch und sah ganz und gar verunsichert aus. Zuerst der Drache und nun das Ende des Drachenlandes? Das war bei Weitem mehr, als ein einfacher Zauberlehrling an einem Tag verkraften konnte.
››Ich weiß, wo der nächste Hinweis versteckt ist. Irgendwo in der Nähe der immergrünen Wälder, im Tempel der Osir‹‹, erzählte der Seelenjäger weiter. Schlores verschluckte sich bei dieser Aussage an seinem Tee und hustete laut.
Der Tempel der Osir war überall gefürchtet und nur den Namen auszusprechen, führte zu einer Gänsehaut am ganzen Körper, gefolgt von blankem Entsetzen. Die Osir waren in grauer Vorzeit ein grausames, gefürchtetes Volk, das seine Gegner auf bestialische Weise den Schlangengöttern opferte. Man erzählte sich, dass es sich bei den Osir selbst um schlangenartige Wesen gehandelt habe, doch genaues wusste man nicht, da noch niemand vom Tempel zurückgekehrt war. Selbst das kriegerische Volk der Nordbarbaren hatte kein Interesse auch nur in die Nähe der Osir zu kommen, obwohl diese laut der Erzählungen, unermesslich reich an Schätzen waren.
››Wenn dem so ist‹‹, sprach Rasputin, ››wird dich Schlores zur Hexe Morla begleiten. Sie kann dir helfen, diesen ungleichen Kampf auszufechten.‹‹
Schlores ließ erschrocken die Tasse fallen, welche nur Sekunden später mit einem Klirren am Boden zersplitterte.
››Aber Meister, ihr wisst doch selbst, wie ungern mich Morla empfängt und außerdem gibt es da noch …‹‹, druckste Schlores, doch Rasputin sah ihn mit ernstem Blick an und sprach: ››Pack Wegzehrung und deine Zauberutensilien ein. Vielleicht erweist es sich noch als nützlich, einen Zauber zu sprechen. Ich werde dir ein paar Formeln mit auf den Weg geben, welche du aber nur im äußersten Notfall und mit größter Konzentration benutzen darfst. Hast du das verstanden?‹‹
Schlores nickte. Er wusste, dass es sinnlos war, sich mit dem Großmagier auf eine Diskussion einzulassen. Niedergeschlagen und mit hängenden Schultern packte alles Erforderliche zusammen, während Rasputin einige magische Formeln niederschrieb. Raziel bedankte sich für die Hilfe, welche er zuerst ablehnen wollte, es aber nicht tat, da Rasputin ihn im selben Moment mit großen Augen anstarrte.
››Du hättest alleine kaum eine Chance, also lass dir helfen, bevor ich dich in eine dreiflügelige Taube verwandele. Als Großmagier trage ich eine Verantwortung meiner Heimat gegenüber und die werde ich kaum abstreifen.‹‹
Raziel seufzte leise. Ihm blieb keine andere Wahl, als die ungewollte Hilfe zähneknirschend anzunehmen. Auch wollte er nur ungern den Rest seines Lebens als missgestaltete Taube verbringen. In solch einem bedauerlichen Zustand hatte sich das Fliegen als schlichtweg unmöglich erwiesen. Zwar traf man eher selten auf diese Spezies von Vögeln, doch jeder in diesen Breitengraden war mindestens schon einmal einer dreiflügeligen Taube begegnet. Mit hoher Wahrscheinlichkeit handelte es sich dabei um einen armen Narren, der bei einem Zauberer in Ungnade gefallen war. Ein solcher Zauber, gelegentlich auch Fluch genannt, war im Drachenland gar nicht so unüblich. Niemand, der auch nur einen klaren Gedanken fassen konnte, wollte in einem vergleichbaren Zustand der Unfähigkeit aufs Ende aller Tage warten.
Raziel beschloss, erst einmal nichts zu sagen. Mit Magiern war nicht zu spaßen. Diese meist eigenwillige Zunft von Hut und Barträgern war nicht unbedingt für einen ausgeprägten Sinn für Humor bekannt. Trotz seiner überirdischen Herkunft hatte Raziel allen notwendigen Respekt vor dem Berufsstand und wagte es nicht, dem alten, verschrobenen Magier zu widersprechen. Schlores hatte nun alles beisammen und Rasputin drückte ihm ein paar zerknüllte Zettel in die Hand.
››Ich werde den Rat der Magier aufsuchen und um Hilfe bitten, während ihr zu Morla geht. In drei Tagen werden wir uns an der alten Mühle vor den immergrünen Wäldern wiedersehen. Wir können nur hoffen, dass sich alles zum Guten wendet‹‹, sprach Rasputin und schob beide zur Tür hinaus. ››Vergiss nicht, dass du die magischen Formeln nur im Notfall einzusetzen darfst. Alles andere könnte fatale Folgen haben‹‹, rief der Großmagier seinem Schützling mahnend hinterher, bevor er in einer dichten Rauchwolke verschwand.
Der junge Zauberer hatte seinen Meister noch nie zuvor in einem solch aufgeregten Zustand erlebt. Schlores seufzte leise. Der Gedanke an den bevorstehenden Besuch bei der alten Moorhexe weckte Erinnerungen, die er gerne vergessen hätte.
››Wo genau finden wir diese Hexe?‹‹, wollte Raziel wissen und riss Schlores mit einem Ruck aus den düsteren Gedanken.
››Sie wohnt am Rande des Dusterwaldes‹‹, gab ihm Schlores zögerlich zur Antwort.
››Ist es weit bis dorthin?‹‹, erkundigte sich der Seelenjäger.
››Mit einem Pferd wären wir sicherlich schneller. Ich durfte den Weg schon mehrmals auf meinen eigenen Füßen zurücklegen. Meinem ehrwürdigen Meister fiel immer erst bei meiner Rückkehr ein, dass man auf dieser Reise mit einem Reittier wesentlich schneller ans Ziel kommt. Bei meiner nächsten Reise hatte er seine eigenen Worte jedoch längst wieder vergessen.‹‹
Schlores seufzte und tappte mit langsamen, schwerfälligen Schritten durchs kniehohe Gras. Der Gedanke an die stets missgelaunte, kauzige Morla bescherte ihm Magenschmerzen. Die alte Vettel war eine rachsüchtige Hexe, deren Flüche so manchen Maulhelden, Räuber und Tölpel schon in den Wahnsinn getrieben hatten. Sie war eine durchtriebene, von Bosheit beseelte Person, deren Hilfe man nur im äußersten Notfall erfragen sollte. Ganz besonders dann, wenn man bei ihr in Ungnade gefallen war.
››Warum empfängt dich die Zauberin so ungern? Hast du sie in irgendeiner Weise verärgert oder beleidigt?‹‹, forschte der Seelenjäger nach.
Schlores ließ einen Augenblick verstreichen und atmete tief durch, bevor er zu einer Antwort ansetzte
››Sie ist keine Zauberin. So was gibt es überhaupt nicht. Frauen, die sich mit Magie befassen, sind schlichtweg Hexen und nichts anderes. Vor einigen Jahren durfte ich meinen Meister auf einer seiner Reise begleiten. Schließlich sind wir bei Morla gelandet und das Schicksal nahm seinen Lauf. Wir konnten uns gegenseitig schon beim bloßen Anblick nicht viel abgewinnen. Von Ordnung hält die alte Vettel nicht viel und dementsprechend sah es in ihrem Heim aus. Überall herschte Chaos und Unordnung. Wir blieben einige Tage und Rasputin machte sich irgendwann mit Morla auf den Weg ins nahe gelegene Dorf, um einige Kräuter für einen Zaubertrank zu besorgen. Mich beauftragte man derweil, die überall herumliegenden Formeln ins Hexenbuch einzutragen. Nach unzähligen Stunden in diesem heillosen Durcheinander stolperte ich über eine Formel, mit deren Hilfe man Tiere in Gegenstände verwandeln konnte. Natürlich sah ich darin meine Chance, mich als Zauberer zu beweisen. Die Worte waren rechte einfach gestrickt und so schwer konnte dieser Zauber doch nicht sein. Zumindest dachte ich das. Morlas schwarzer Kater Luftikus schlief friedlich am wärmenden Kamin, also bot sich diese Gelegenheit geradezu an‹‹, gestand der Zauberlehrling.
››Was ist dann passiert?‹‹, wollte Raziel neugierig wissen.
Schlores seufzte. ››Die Magie ist in wie ein Kind, das einfach nicht gehorchen will. Man braucht viel Geduld und vor allem eine gute Portion Durchsetzungsvermögen, wenn man sie behrrschen will. Ich sprach die Worte und danach verwandelte sich der einst so schöne Kater in einen überaus hässlichen Sumpfdotterfrosch. Du kannst dir sicherlich vorstellen, wie groß Morlas Freude über diesen Unfall war.‹‹
››Aber Morla oder dein Meister hätten ihn doch in einen Kater zurück verwandeln können.‹‹
Schlores schüttelte den Kopf. ››Leider funktioniert das nur, wenn man sich an den genauen Wortlaut der ausgesprochenen Formel erinnert. Bis heute wollen mir die Worte nicht einfallen. Aus diesem Grund muss sich Luftikus bis zum heutigen Tag mit seiner neuen Gestalt arrangieren. Morla hat mir diesen Fehler nie verziehen und wird bestimmt hoch erfreut sein, mich wieder zu sehen.‹‹
Raziel schmunzelte, obwohl er ein wenig Mitleid für den Zauberer verspürte. Ein Gefühl, das nur selten seine breite Seelenjägerbrust durchströmte. Erneut atmete Schlores tief durch.
››Als wir uns das letzte Mal sahen, hat sie mir die pesturanische Krätze an den Hals gewünscht. Es hat Tage gedauert, bis ich mich von den Folgen erholt hatte.‹‹
Raziel schwieg, konnte sich ein schadenfrohes Grinsen jedoch nicht verkneifen. Schlores erfasste die Situation, schenkte dem Seelenjäger einen grimmigen Blick und stapfte weiter voran, ohne auch nur ein einziges Wort mehr zu verlieren.
Währenddessen war Rasputin vor den Toren des kolossalen Bauwerks angekommen. Das majestätische Werk magischer Baukunst mit fünf Rundtürmen war mit keinem anderen Gebäude im Drachenland zu vergleichen. Rasputin klopfte mit dem oberen Ende seines Stabes kräftig gegen das eiserne Portal und wartete geduldig auf Einlass. Es dauerte nicht lange, bis ihn ein grimmiges, faustgroßes Auge durch den schmalen Spalt im Tor aufmerksam musterte. ››Was ist euer Begehr?‹‹, hörte Rasputin eine dunkle Stimme sagen.
››Ich bin Rasputin, Magier des zehnten Grades und möchte mit den Ältesten des Hohen Rates sprechen. Es geht um Leben und Tod. Gewährt mir umgehend Einlass.‹‹
Kurz darauf schloss sich der Spalt und das Tor öffnete sich unter lautem Knarren und Quietschen. Nun stand der Großmagier vor einem Zyklopen, der ihn freundlich begrüßte und herein bat. Er war von kräftiger Statur, hatte ein kahles Haupt und wirkte in seinen Bewegungen etwas träge. Rasputin nickte ihm freundlich zu und eilte über den großen Hof, am Brunnen vorbei zum mächtigen Haupthaus der Magier. Zwei hohe Türme ragten bis zu den Wolken hinauf und schienen dort oben gar kein Ende zu finden. Langsam öffnete Rasputin die riesige Holztür und betrat einen langen Korridor, der zu beiden Seiten über weitere Gänge verfügte. Am Ende des Raumes befand sich eine ansehnliche, breite Tür, die mit einmaligen Schnitzereien geschmückt war. Der brüllende Löwenkopf mit den zwei gekreuzten Stäben war ein unverkennbares Zeichen, welches bis weit über die Grenzen des Drachenlandes bekannt war. Hinter der Tür verbarg sich die Halle der Magier. An diesem Ort wurde man als Gast empfangen. Das heißt, wenn die Magier einen Besuch für wichtig genug hielten, ohne, dass dies auch von einem Untergebenen erledigt werden konnte. Schließlich hatte man sich nicht all die Jahre mit dem Erforschen der Zauberei befasst, um mit ungebetenem Besuch zu plauschen. Und mit Bekannten erst recht nicht.
Ganz im Gegensatz zu Rasputins Behausung lebte man an diesem Ort in geradezu pompösem Ambiente. Irrlichter flogen umher, Statuen reinigten sich eigenständig vom Staub, während gut ein halbes Dutzend Kehrbesen über den Marmorboden fegte. Prächtige Kronleuchter erhellten den gesamten Saal und die hohen Wände waren mit prunkvollen Kerzenhaltern, kostbaren Gemälden von dahingeschiedenen Magiern und einigen schweigenden Spiegeln geschmückt. An dieser Stelle mag sich der Normalsterbliche fragen, aus welchem Grund man sein Domizil mit stummen Spiegeln schmücken sollte, wenn Zauberer doch über die sprechende Variante verfügen konnten. Natürlich können nur Menschen solch eine törichte Frage stellen, die noch nie mit einem sprechenden Spiegel in Kontakt getreten sind. Sprechende Spiegel können eigentlich nie schweigen. Immer haben sie das dringende Bedürfnis eine Konversation zu führen und diese womöglich erst gar nicht mehr zu beenden. Das verzögert natürlich die Zeit, in der man als Magier schon ein Dutzend Mal die Welt hätte verbessern können. Ein verstorbener Magier umschrieb dies einst mit folgenden Worten: Vielleicht unterhalten sich diese geschwätzigen Spiegel aus dem Grund so gerne, weil sie über Jahrhunderte schweigen mussten. In dieser Zeit des Schweigens hat sich einiges an Gesprächsstoff angesammelt.
Rasputin zweifelte nicht an der Aussage, da er in der Vergangenheit bereits das Vergnügen hatte, mit einem Gegenstand dieser Art einen langwierigen Plausch zu halten. Der Großmagier sah sich in der Halle um, nahm auf einem der gepolsterten Sessel platz und versank schnell in Gedanken. Schwarze Drachen und Seelenjäger, die unversehens vom Himmel fallen, waren höchst ungewöhnlich, selbst für diese Breitengrade. Insgeheim hoffte Rasputin, dass der Hohe Rat eine schnelle Lösung für das drohende Problem finden würde, auch wenn er nicht so recht daran glauben wollte. Die Magier, die an diesem Ort regierten, würden das Szenario herunterspielen. So hatten sie es schon vor eintausend Jahren, kurz vor dem Beginn des ersten arkanischen Krieges getan, obwohl die Zeichen unverkennbar waren. Sie würden auch dieses Mal nicht vom eigenen Weg abweichen. Es wäre ein hartes Stück Arbeit, diese dickköpfigen Eigenbrötler vom Gegenteil zu überzeugen, dessen war sich Rasputin sicher.
Wenn man Jahrzehnte mit der Zauberei verbrachte, erschienen die alltäglichen Dinge irgendwann weniger von Belang und verloren jegliche Bedeutung. Sobald sich einem Zauberer die wahre Macht der Magie offenbarte, verlor man den Bezug zur Realität, was in diesem Berufsstand sicherlich nicht schaden konnte, für den Alltag jedoch nur bedingt förderlich war. Die wenigsten Zauberer waren in der Lage, einen gewöhnlichen Tee zu kochen, ohne dabei eine Katastrophe auszulösen. Aus diesem Grund waren Bedienstete, Untergebene; Boten und nützliche Helfer unerlässlich.
Auch wenn Rasputin in der Halle noch keine menschliche Seele zu Gesicht bekommen hatte, so spürte er die Anwesenheit einer gebündelten Kraft, der man nirgends sonst auf der Welt begegnete. Die Ältesten des Hohen Rates mussten sich irgendwo im Gebäude aufhalten. Rasputin wartete geduldig, sank im Sessels zurück und versank in Gedanken. Er spürte die Müdigkeit, welche er seinem Reisezauber zu verdanken hatte. Er war längst nicht mehr in den Jahren, in denen er eine derartige Formeln mühelos wirken konnte. Rasputin schloss die Augen, döste ein und verlor sich nur kurz darauf in einem tiefen Schlaf.
Mittlerweile hatten Schlores und Raziel ein gutes Stück des Weges hinter sich gelassen. In der Ferne sahen sie die Bäume des Dusterwaldes, was Schlores einen unangenehmen Schauer über den Rücken jagte.
››Ich bin mir nicht sicher, ob ich die alte Morla wirklich besuchen möchte‹‹, murmelte Schlores verängstigt.
››Jetzt stell dich nicht so an. Was in aller Welt soll ich ihr denn sagen? Du kennst sie und könntest mich zumindest ein klein wenig unterstützen‹‹, entgegnete Raziel störrisch.
››Du kannst dir nicht einmal annähernd vorstellen, wie nachtragend diese alte Hexe ist. Sie ist keinesfalls nachgiebig und mindestens so stur wie eine Herde kaukesischer Esel.‹‹
An dieser Stelle sollte man anmerken, dass es sich bei dem kaukesischen Esel um ein Tier handelt, welches schon manchen Besitzer zur Weißglut getrieben hat. Grundsätzlich macht diese Art von Eseln immer das Gegenteil von dem, was man eigentlich von ihm erwartet. Zum Transport von Mensch oder Lasten ist diese Kreatur ebenfalls nicht geeignet, da diese Esel grundsätzlich nichts außer ihrem eigenen Körpergewicht tragen. Setzt man sich trotzdem auf deren Rücken, wird sich das Tier hinlegen und nicht eher aufstehen, bevor man sich von ihm abgewendet hat. Auch Futterlockversuche sind in diesen Fällen keinesfalls von Erfolg gekrönt. Es kursieren sogar Geschichten über verschiedene kaukesische Esel, die jegliche Fütterung durch die jeweiligen Besitzer verweigerten und den Hungertod der Knechtschaft vorgezogen haben. Es handelt sich bei diesen Tieren gewissermaßen um gewaltlose Demonstranten mit einer Sturheit, die im Universum seinesgleichen sucht. Es ist daher dringend von solch einem Tier abzuraten, da eine Haltung schlichtweg unmöglich ist und kaukesische Esel prinzipiell nur zum Fressen von Grünpflanzen geeignet sind, wobei sie sich selbst bei dieser Aufgabe nicht als besonders zuverlässig erweisen.
Raziel versuchte es noch etliche Male mit freundlichem Bitten, bevor er den Magier ohne ein weiteres Wort am Kragen packte und hinter sich her schleifte. Schlores zappelte wie ein frisch geangelter Fisch am Haken. Als sie die Hütte erreicht hatten, löste Raziel seinen Griff und pochte gegen die marode wirkende Tür.
››Rasputin schickt uns, Gnädigste. Wir möchten um eure Hilfe bitten. Ist überhaupt jemand Zuhause?‹‹
››Sie scheint nicht hier zu sein. Lass uns gehen‹‹, murmelte Schlores leise und wollte sich davonstehlen, doch Raziel packte ihn am Arm und zog ihn näher an sich heran. Erneut klopfte er gegen das Holz der Eingangstür.
››Ich komme ja schon. Eine Hexe in meinem Alter ist nicht mehr so schnell wie vor zweihundert Jahren‹‹, krächzte eine heisere Stimme, die Schlores zusammenzucken ließ. Die Tür öffnete sich einen Spalt und zwei kleine Augen schauten neugierig nach draußen.
››Der alte Rasputin schickt dich also. Dann komm herein.‹‹
Als Morla die Tür weiter öffnete und Schlores sah, wie er sich im Schatten des Seelenjägers zu verstecken versuchte, nahm die Stimme der Hexe einen scharfen Ton an.
››Du kleiner Tunichtgut kannst vor der Tür warten. Spiel doch ein bisschen mit Luftikus. Er ist bestimmt hocherfreut, dich wiederzusehen. Wie ich sehe, hast du die pesturanische Krätze gut überstanden. Dann sollte ich dir vielleicht einen schlimmeren Fluch an den dürren Hals wünschen.‹‹
Mit diesen Worten bat die Hexe den Seelenjäger herein und schlug Schlores die Tür vor der Nase zu. Schlores wirkte fast schon erleichtert, auch wenn dieses Gefühl sich nur Augenblicke später in Entsetzen wandeln sollte.
››Wir haben uns eine Ewigkeit nicht mehr gesehen‹‹, quackte es hinter dem Magier und Schlores wurde nur einen Wimpernaufschlag später mit voller Wucht von den Beinen gerissen. Luftikus hatte sich mit seinem unansehnlichen, breiten Körper auf Schlores Brustkorb gesetzt und sah nicht sehr erfreut über den Besuch des Zauberers aus. Glibberiger Schleim tropfte auf das Gesicht des Magiers herab, der starr vor Angst war.
››Ich ahne schon, dass dir die genauen Worte der Formel noch immer nicht eingefallen sind. Ich muss mich von Fliegen und Ungeziefer ernähren. Weißt du eigentlich, wie entwürdigend das für einen Kater meines Formats ist, du Sonntagszauberer? Natürlich weißt du das nicht! Früher haben mich alle bewundert und jetzt sieh mich an! Einen hässlichen Frosch hast du aus mir gemacht!‹‹
Schlores atmete schwer unter dem Gewicht des wagenradgroßen Sumpfdotterfroschs und versuchte die Situation auf irgendeine erdenkliche Weise zu überleben. Zum Glück öffnete sich in diesem Moment die Tür und Raziel trat heraus. Er bedankte sich flüchtig, griff nach dem Frosch und hob ihn mit einer Hand zur Seite. Mit einem Ruck half Raziel seinem Begleiter wieder auf die Beine. ››D-d-d-danke …‹‹, stotterte Schlores.
Fluchend sprang Luftikus in hohen Sätzen davon und verschwand schimpfend im Wald.
››Hast du auch brav mit dem Fröschlein gespielt?‹‹, erkundigte sich der Seelenjäger schmunzelnd.
››Du hast einen merkwürdigen Humor. Nun sag schon, was die alte Hexe gesagt hat‹‹, drängte Schlores und wischte sich angeekelt den Krötenschleim aus dem Gesicht.
››Zuerst meinte sie, du wärst ein lausiger Magier und deine Zauberei wäre noch nicht einmal den Dreck unter ihren Fingern wert. Aus dir würde noch nicht einmal ein gescheiter Bettler werden. Du müsstest noch nach dem Weg fragen, wenn du einen Abhang hinunter stürzen würdest und so weiter, und so weiter. Dann empfahl sie mir am Ufer des tiefen Flusses die Wassernixe Aquadet nach dem Schwert des Tharinus zu fragen. Mit diesem Schwert soll es möglich sein, den Hinweis im Tempel der Osir zu finden. Scheinbar fand sie meine Aufgabe sehr witzig, denn sie kicherte die ganze Zeit‹‹, erklärte Raziel.
››Der tiefe Fluss liegt im Norden, einen halben Tagesmarsch von hier entfernt an der Grenze des Landes. Du kannst ihn gar nicht verfehlen. Vielleicht sieht man sich ja irgendwann wieder. Ich wünsche dir viel Erfolg bei deiner Mission.‹‹
Mit diesen Worten wollte sich Schlores aus dem Staub machen und den Weg nach Hause antreten, als ihm Raziel hinterher rief: ››Ich vergaß dir zu sagen, dass Morla mir diese Pfeife gab, um dich in eine ähnliche Kreatur wie Luftikus zu verwandeln, wenn du mich nicht begleiten solltest.‹‹
Der Zauberer blieb ruckartig stehen, verzog das Gesicht und fing an zu schimpfen. ››Das sieht dieser alten, verbitterten Hexe ähnlich. Sie soll mit einem Baum verwachsen, dieses rachsüchtige Weib! So ein ausgewachsener Priesprabbel!‹‹ (Priesprabbel ist im Drachenland ein gebräuchlicher Fluch, der in solchen Situationen mehr als nur angebracht und üblich ist.)
Nun standen Schlores nicht viele Wege offen, wenn er nicht den Rest seines Daseins als schleimige Kröte verbringen wollte. Verärgert über diese Situation, folgte er dem Seelenjäger, auch wenn sich jede Faser seines Körpers dagegen sträubte.
Nach dem ausgiebigen Nickerchen verkürzte sich Rasputin die Wartezeit damit, die gigantischen Gemälde an den Wänden zu betrachten. Schon vor vielen Jahren hatte ein Unbekannter sie auf die Leinwand gebannt. Sie erzählten von den düsteren Jahren des Drachenlandes, über die tapferen Krieger, schaurige Wesen und über den Triumph des Guten. Gefesselt von der dramaturgischen Geschichte und dem Geschick des Künstlers, stand Rasputin bewegungslos da und wirkte auf beunruhigende Art und Weise abwesend. Plötzlich ertönte eine bekannte Stimme, die den Magier ruckartig aus seinen Gedanken riss.
››Du warst schon viele Jahre nicht mehr hier. Was ist der Grund deines Besuchs, alter Freund?‹‹
Als
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: René Grigo
Bildmaterialien: Bookrix
Tag der Veröffentlichung: 16.12.2013
ISBN: 978-3-7309-6962-5
Alle Rechte vorbehalten