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KAPITEL 1 – das, in dem ich überrumpelt werde

Meine Schicht schien heute wieder mal kein Ende zu nehmen. Egal wie lange ich diese dumme Uhr auch anstarrte, sie bewegte sich gequält langsam. Es machte den Anschein, als hätte sie ihr eigenes Raum-Zeit-Kontinuum, indem eine Minute in der realen Welt fünf waren. Denn immer wenn ich einen Blick auf sie warf, ist erst eine Minute vergangen.

„Josie, kannst du noch die Teller von Tisch vier abräumen?“, eine bekannte Stimme riss mich aus meinem gedanklichen Disput mit der Uhr. Es war Marc, der auch hier in dem Restaurant arbeitete, um noch ein wenig Geld nebenbei zu verdienen. Wir kannten uns schon länger, weshalb er mich auch mit meinem Spitznamen ansprach, da er der Meinung war, dass Josefine viel zu lange und unaussprechlich war.

„Klar, mach ich.“, antwortete ich ihm gelangweilt, obwohl ich innerlich glücklich war, endlich etwas zu tun zu haben.

Ich stapelte die fast leeren Teller der Gäste, die sich hierher verirrt hatten und ging damit in die Küche zum Spülen.

Als auch die Tätigkeit ein Ende fand, widmete ich mich wieder gedanklich der Uhr.

Tick - Tack - Tick – Tack...

„Hey, wenn du willst, dann kannst du auch früher gehen. Es ist hier sowieso nichts mehr los und abschließen kann ich auch alleine.“, Marc schien meine Langeweile nicht entgangen zu sein und obwohl ich seinen Vorschlag abschlagen sollte, war die Versuchung in meine WG zu gehen einfach zu groß.

Darum bedankte ich mich ein paar mal bei ihm und als es mir genug schien, nahm ich meine Jacke und Tasche und machte mich auf den Weg zur nächsten Bushaltestelle.

Theoretisch müsste sogar in fünf Minuten ein Bus kommen, allerdings wusste ich zu gut, dass er immer Verspätungen hatte und auch heute sollte sich das nicht ändern.

Als ich vor der Wohnungstür stand lauschte ich erst angestrengt an der Tür, damit ich mich darauf einstellen konnte, wer und wie viele Personen sich in der Wohnung befanden. Ich musste feststellen, dass es ungewöhnlich ruhig war und hatte schon fast mit dem Gedanken gespielt heute vielleicht endlich allein zu sein, als plötzlich die Tür aufging und ich mit ihr unsanft an die Wand geschoben wurde.

„Verdammt, au!“, entfuhr es mir plötzlich, da sich der Türgriff schmerzhaft in meine Seite schob. Erst jetzt lies der Druck endlich nach und die Tür nahm Abstand von mir. Nun konnte ich sehen, wer der Attentäter war, der mich mit der Tür attackiert hatte.

Sie war weiblich, blond und zugegebenermaßen vielleicht etwas größer als ich, was sich bei meinen 1, 67 Metern als nicht so schwer erwies, obwohl es auch kleinere Menschen als mich gab.

„Oh.. upps. Sorry, aber was machst du denn auch hinter der Tür?“, Vivienne meine langjährige Feind... ähm... Freundin starrte mich mit großen Augen an und schien nicht mit mir gerechnet zu haben. Wie sollte sie auch? Normalerweise würde ich noch eine Stunde arbeiten.

„Ich wollte gerade die Wohnungstür öffnen, aber da bist du mir leider zuvorgekommen...“, antwortete ich ihr mit einem tadelnden Unterton in der Stimme. Sie musste ja nicht wissen, dass ich erst an der Tür gelauscht hatte, da würde sie nur wieder nach haken und im Endeffekt zu dem Schluss kommen, dass ich nicht ganz normal war. Und auf solch eine Diskussion hatte ich nicht schon wieder Lust.

Ich erinnerte mich noch schmerzlich an die Situation, in die sie mich erst vor einigen Wochen brachte. Da hatte ich versucht ihr zu erklären, dass ich einfach keine Lust hatte mit ihr auf diese überflüssige Party zu gehen, da sich dort sowieso alle betrinken würden, um am nächsten morgen mit Kopfschmerzen aufzuwachen - wobei das noch die harmloseste Variante der Folgen einer Party war. Jedenfalls hat sie mich dann leider doch zum Mitkommen überredet, damit sie mich letztlich in ihrem Alkoholrausch unentwegt kritisieren konnte. Von wegen ich wäre verklemmt und würde keinen Spaß mitmachen...

„Na, wirst du heute auch noch reinkommen, oder hast du vor noch Wurzeln zu schlagen? Sollte das der Fall sein, dann würde ich mir aber eine andere Stelle suchen, sonst kann ich für das Wohlbefinden der Tür und für dich leider nichts garantieren.“ Genervt über ihre Antwort, zwängte ich mich durch den Türeingang an ihr vorbei bis hin zu unserem Wohnzimmer, das gleichzeitig als Gang und Küche diente.

Um nicht allzu unhöflich zu wirken, verabschiedete ich mich noch von ihr, wobei ich hoffte, dass es nicht zu sehr gezwungen wirkte: „Bye!“ Ohne eine Antwort zog sie davon. „Dumme Kuh!“, murmelte ich und schmiss mich auf das ach so schöne und bequeme Sofa. Verstohlen blickte ich zur Uhr und musste feststellen, dass ich eigentlich noch gute fünfundvierzig Minuten zu arbeiten hätte, wenn mich Marc nicht frühzeitig nach Hause geschickt hätte. Seltsam … Zwar war ich froh endlich Feierabend zu haben, aber was sollte ich nun tun? Meine beste Freundin – also meine richtige beste Freundin – würde erst in etwa zwei Stunden nach Hause kommen. Also beschloss ich kurzerhand mir ein Schaumbad einzulassen.

Nachdem die Badewanne halb voll war – nicht halb leer, ich habe mir vor einiger Zeit angewöhnt optimistischer zu denken -, ließ ich mich vom angenehmen lauwarmen Wasser und ganz viel Schaum umhüllen.

Irgendwann zwischen dem Einshampoonieren der Haare und dem Einseifen der Füße, war ich eingeschlafen. Kaum vorstellbar, dass ein großes Stück Keramik, das aussah, als käme es aus den vorletzten Jahrhunderten, so bequem sein konnte.

Schließlich riss mich das Klopfen an der Badezimmertür aus dem Schlaf.

„Hey, ich will ja wirklich nicht meckern, aber wann gedenkst du eigentlich mal wieder heraus zu kommen?“, fragte mich meine beste Freundin – also die richtige Freundin.

„Hä? Was?“, fragte ich erschrocken. „Ich meine:… Ich bin nicht da!“ Mit diesen Worten tauchte ich meinen Kopf unter Wasser. Ich liebte Emma wirklich über alles, wie konnte man denn auch anders? Doch in diesem Moment wollte ich einfach nur alleine mit meinem Schaumbad sein. Hatte ich schon erwähnt, wie bequem diese Wanne war?

„Josefine Berta Frey, … ich muss dringend aufs Klo und wenn dies nicht in den nächsten fünf Minuten passiert, haben wir hier ein kleines Problem, das du dann wegwischen darfst!“

„Du hattest mich schon bei ,Berta'!“, sagte ich hastig und stieg aus der Wanne. Wie ich es hasste, wenn sie meinen Zweitnamen benutzte. So sehr ich auch meine Großmutter liebte, aber mich nach ihr zu benennen, obwohl Josefine doch sicherlich gereicht hätte, das konnte und wollte ich meinen Eltern einfach nicht verzeihen! Wobei ich meiner Mutter keine Vorwürfe mehr machen konnte, denn leider verstarb sie an meinem neunten Lebensjahr. Leider... „BERTA!“, kam es hinter der Tür von Emma.

Angezogen riss ich die Tür auf und rubbelte mit einem flauschigen Handtuch meine Haare trocken. Obwohl meine Haare dadurch zugegebenermaßen mehr Spliss bekamen als sie trockneten.

„Tadaa!“, sagte ich und zeigte mit einladenden Armen aufs Klo. „Lass es flutschen!“ Genervt ging sie ins Bad und schloss ohne ein Wort zu sagen hinter sich ab. „Äh,... Viel Spaß beim erleichtern?! … Und falle nicht ins Klo!“, versuchte ich ihr noch hinter her zu rufen, doch meine Worte gingen mit der Toilettenspülung unter. „Ich weiß, dass du noch nicht warst!“, schrie ich.

„Wenn du die ganze Zeit sagst, ich soll es mir auf dem Klo gut gehen lassen, dann kann ich nicht mehr!“, schrie sie mir vorwurfsvoll entgegen. Mit einem Lächeln wandte ich mich von der Tür ab. Gemächlichen Schrittes ging ich ins Wohnzimmer Schrägstrich in die Küche und schaltete meinen Laptop ein. Routinemäßig checkte ich zu aller Erst meine E-Mails. Mein Vater hatte es sich zur Aufgabe gemacht mir seit meinem Umzug nach Berlin, wöchentlich eine Mail zu schicken, in der er mich fragte, ob mir etwas fehlte. Sollte ich auch nur an einem Montag nicht antworten, so würde er sofort zu mir fahren und nachsehen, was mich davon abbrachte.

Wie erwartet, befand sich – welche Überraschung – eine E-Mail von ihm:

Hallo Josefine,

Ich hoffe, es geht dir gut? Wie läuft dein Studium?

Ich schluckte. Ich hatte es nie geschafft, meinem Dad zu sagen, dass ich das Studium aus Geldnöten abbrechen musste und stattdessen in einem heruntergekommenem Lokal kellnerte und ich es gerade noch so schaffte, den Anteil meiner Miete zu bezahlen.

Ich las weiter:

Mir selbst geht es sehr gut!

Moment mal... Etwas stimmte an diesem Satz nicht. Ich las ihn noch einmal durch und plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen – ja, ich weiß, wie klischeehaft.

Meinem Vater ging es sehr gut! Er hatte diesen Ausdruck noch nie geschrieben. Meistens ging es ihm nur gut oder okay, aber niemals sehr gut! Da war doch etwas faul. Was hatte ich angestellt?

Okay, ruhig bleiben und weiter lesen!, sagte ich zu mir.

Ich habe dich schon lange nicht mehr gesehen und habe vielleicht gehofft, dass du mal wieder vorbei kommen könntest. Ich weiß, dass die 100 Kilometer sehr weit sind und es keine direkte Bahnverbindung gibt, aber mach' deinem alten Herren doch mal 'ne Freude!

Ähh... alter Herr? So etwas würde er nie freiwillig von sich geben. Irgendetwas schlimmes musste passiert sein! Vielleicht war er ja in irgendwelchen Machenschaften verwickelt... Plötzlich hörte ich Emma sagen: „Och du heilige Mandarine, ich fühle mich jetzt viel leichter!“ Immer wenn sie Och, du heilige Mandarine sagte, musste ich schmunzeln. Emma war so mit ihrem Glauben verbunden, dass sie den Satz Oh mein Gott nicht über ihre Lippen brachte.

Schnell tippte ich meinem Vater eine kurz angebundene Antwort mit dem Nachteil, dass ich erst am Vorabend Bruce Allmächtig geschaut hatte, weshalb meine Antwort folgendermaßen ausfiel:

Ok, wir sehen uns dann am 7.7. um 7.

Was für ein Glück, dass heute erst der erste Juli war.

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Tag der Veröffentlichung: 04.07.2013

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