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Schokoladenpudding


„Pass auf“ sagte Andrea, „ ich werde nach der Arbeit zu Dir kommen und über Nacht bleiben, wenn du willst, auch das ganze Wochenende. Dann können wir ganz in Ruhe bereden, wie es weitergehen wird.“
Sie nahm den Schwall Dankesworte mit einem schiefen Lächeln entgegen und stieß beim auflegen des Telefonhörers hörbar die Luft aus.
Ganz leise formierte sich in der hintersten Ecke ihres Hirns die Frage, ob sie sich das wirklich antun wollte, sofort kam aus dem Stirnbereich die Antwort, dass dafür Freundinnen da sind.
Andrea öffnete ihre Wohnungstür, eilte ins Schafzimmer und packte ein paar Kleidungsstücke zusammen, kramte die große Luftmatratze aus dem Schrank und ging dann unter die Dusche. Beim Abfrottieren des Haares besah sie ihr Gesicht im Spiegel. Mein Gott, dachte sie, sehe ich verbissen aus. Sie versuchte, die Falte, die sich zwischen ihren Augenbrauen gebildet hatte, mit den Fingern weg zu streichen und kaum, dass sie das Gefühl hatte, etwas erreicht zu haben, entdeckte sie einen Zug um ihren Mund, der ihr nicht gefiel.
„Bin wohl wirklich urlaubsreif“ sagte sie zu ihrem Spiegelbild und versuchte, das kurze rote Haar in geordnete Strubbelsträhnen zu legen. Nun gefiel ihr der Anblick des eigenen Gesichts schon besser und als sie mit dem Augen-Make up fertig war, war sie mit sich und ihrem Anblick zufrieden.
Schnell versorgte sie noch die Grünpflanzen in ihrer Wohnung und dann machte sie sich auf den Weg zu Susanne.

Susanne öffnete ihr mit verheultem Gesicht. Unübersehbar prangte ein großer, schon längst getrockneter Kaffeefleck auf ihrem Pullover.
„Och, komm mal her!“, mit weit ausholender Gebärde umarmte Andrea ihre Freundin, den Augenblick nutzend, sich einen Eindruck vom Zustand der Wohnung zu verschaffen.
Auf die Frage, ob Susanne schon Anzeige erstattet hätte bekam sie zur Antwort, dass sie doch ihren Mann nicht anzeigen könnte.

Der Rundgang durch die Wohnung wurde zur Bestandsaufnahme, sämtliche Wohnzimmermöbel waren verschwunden und in den Ecken des Zimmers lagen Büchern, Fotoalben und Geschirrteile achtlos durcheinander, die Grünpflanzen waren zum Teil umgeworfen, auf dem Teppichboden hatte sich Wasser und Blähton verteilt.

Einen ähnlichen Eindruck machte das Schlafzimmer, auch hier waren die Möbel verschwunden, aber es stapelten sich zwei Kleiderberge, etwas Weißwäsche und Wolldecken an der Wand, absichtlich auf dem dicken Staubstreifen abgelegt, der sich im Laufe der Jahre hinter dem großen Kleiderschrank gebildet hatte. Mitten im Zimmer stand der prall gepackter Reisekoffer, mit dem Susanne von einer Dienstreise heimgekommen war.

Das Arbeitszimmer machte einen chaotischen Eindruck. Alle Türen der Einbaumöbel standen offen und die Unterlagen waren auf dem Boden zerstreut.Andrea registrierte mit einer gewissen Befriedigung, dass Susannes Gemäldesammlung, mit der sie in eigenwilliger Hängung eine Wand des Arbeitszimmers von der Decke bis zum Boden gefüllt hatte, unberührt geblieben war. Auch die Rattansitzgruppe war noch vorhanden.
„Zum Glück ist Siegfried ein Kunstbanause und hält die Werke für eher hässliche Dekorationen. Das gemeinsame Konto hat er geplündert, ich habe jetzt nur noch mein Betriebskonto.“ schluchste Susanne.
Andrea riet ihr, sich umzuziehen und griff zum Telefon. Sie rief erst die Polizei und anschließend den Pizzadienst an. Erstaunlicherweise kam die Polizei sogar noch vor dem Pizzadienst, nahm die Anzeige auf, verzichtete aber auf die Spurensicherung.
Die Frauen begannen, die Häufchen im Wohnzimmer zu sortieren. Andrea hatte eine Rolle mit großen Müllsäcken in der Küche entdeckt und ein Großteil der Hinterlassenschaft wurde nun entsorgt. Susanne baute die Grünpflanzen wieder auf und saugte den Teppichboden mit einem Nasssauger. Aber sie schaffte es nicht, den Teppichboden den hell gebliebenen Stellen, auf denen die Schränke standen, anzugleichen.
„Lass uns den rausnehmen“ sagte sie, „es sind schöne abgezogene Dielen darunter. Im Schlafzimmer auch.“
Sie zerschnitten den Teppichboden und stopften ihn in Müllsäcke bis die Bestellung, diverse Vorspeisen, eine große Pizza und zwei Flaschen Rotwein, geliefert wurde.
Schnell beseitigten sie noch den restlichen Teppich, Susanne fegte die Dielen und Andrea verteilte in der Küche die Speisen auf Teller und öffnete die Weinflaschen. Gemeinsam trugen die Frauen die kleine Sitzgarnitur aus dem Arbeitszimmer in das Wohnzimmer und stellten sie so zu den Grünpflanzen, dass fast der heimelige Eindruck eines Wintergartens entstand.
Andrea goss die Gläser voll bis zum Rand, sagte „Prost“, führte ihren Mund zum Glas und trank es auf einem Zug halbleer.
“Puh, das tat gut“ meinte sie.
Susanne machte ein weinerliches Gesicht. „Heul nicht, trink und iss!“ befahl Andrea, „Hält Leib und Seele beieinander, danach werden wir reden.“

Speisen und Wein füllte ihre Körper mit wohliger Wärme. Der Wein legte sich mit bleierner Schwere in Susannes Glieder, während er auf Andrea wie Treibstoff wirkte und ihr das Gefühl gab, von großer Leichtigkeit zu sein.
„Gut, Susi, reden wir nachher. Leg Dich erst einmal hin.“
Sie rollte ihre Luftmatratze aus, pumpte sie auf, holte Wolldecken und Bettwäsche aus dem leeren Schlafzimmer. Nachdem Susanne sich bereitwillig niedergelegt hatte schloss Andrea die Tür.
Sie begann, den Teppichboden des Schlafzimmers zu zerschneiden und in Müllsäcken zu verpacken. Dabei ließ sie sich mit Unterhaltungsmusik aus einem Kofferradio, das sie in der Küche fand beschallen. Als sie mit dieser Arbeit fertig war, griff sie zum Telefon und telefonierte der Reihe nach alle die Bekannten an, von denen nach ihrer Einschätzung Hilfe zu erwarten war um Susannes Wohnung schnell neu und gemütlich zu gestalten .
Andrea fühlte sich müde und merkte doch gleichzeitig, dass sie viel zu aufgekratzt zum schlafen war. Mit dem quakenden Kofferradio bewaffnet,begann sie das Arbeitszimmer aufzuräumen. In einem der beiden Schreibtische fand sie noch Unterlagen von Siegfried.
In der Abstellkammer fand sie eine leere Kiste, in die räumte sie Siegfrieds Schreibtischinhalt. Dabei stellte sie fest, dass er seit einem halben Jahr arbeitslos war, davon hatte Susanne ihr gar nichts erzählt gehabt.Verwundert schüttelte sie den Kopf.
Sie schlich sich ins Wohnzimmer, stapelte die Fotoalben und Bücher in einen Wäschekorb und fand dabei auch ein Tarotspiel. Die Karten waren aus der Packung gerutscht und lagen nun zwischen Fotos und Büchern verteilt. Andrea sammelte die Karten auf und zählte sie durch, alle achtundsiebzig Karten waren vorhanden.
Erinnerungen an den Tarotkurs in Köln kamen auf, den sie gemeinsam besucht hatten.
Sie legte das Kartendeck beiseite, schleppte den Korb ins Arbeitszimmer und füllte den leeren Teil der Einbauschränke mit den Büchern.
Andrea beschloss, genug getan zu haben und ging ins Bad. Der Blick in den Spiegel erheiterte sie, der Mascara war verwischt und gab ihrem Gesicht etwas Morbides.
Geduscht und im Schlafanzug goss sie den Rest der zweiten Weinflasche in ein Glas, gab Wasser dazu und setzte sich an Siegfrieds Schreibtisch um die Fotoalben zu betrachten. Susanne hatte akribisch jedes Familienfest, jeden Ausflug und Alltagsschnappschüsse darin dokumentiert. Anfangs sah sie mit wehmütigem Lächeln auf die Bilder; Susanne und sie waren seit früher Kindheit befreundet und teilten somit viele Erinnerungen.
Wie verliebt die Beiden waren, wie stolz auf ihre Zwillinge, Einschulung, Ferien an den verschiedensten Orten mit den Kindern, Kurzurlaub ohne Kinder, aber schon auf den Bildern zur Abiturfeier der Zwillinge bemerkte sie in den Bildern Veränderung.
Andrea überlegte: Komisch, dass ich das jetzt sehe, ist mir gar nicht so aufgefallen. Dachte, die sind müde, überarbeitet. Es wurde ja auch immer noch ein netter Abend.

In einem Umschlag fand sie dann Bilder von der Beerdigung ihrer eigenen Großmutter.
„Ach ja“ sagte sie sich, „das hatte Susanne ja auch fotografiert.“ Sie sah interessiert die Fotos an, wie ihr Vater und sie die Beileidsbekundungen entgegen nahmen.
Ach, Vater ist nun auch schon gestorben; dachte sie. Und hier, mein lieber Mann , immer schmuck in seiner Uniform, und hier die Freundinnen der Großmutter. Von denen lebt wohl auch keine mehr.Die Beerdigung war das letzte Mal, dass sich diese Leute hier gemeinsam trafen, obwohl sie sich eigentlich mochten. Das Bindeglied, Oma, für die anderen Friedchen, war nicht mehr da.
Dann dachte sie an die Woche des Sterbens der Großmutter, wie sie mit ihrem Vater abwechselnd versuchte, ihr beizustehen und dass der letzte Wunsch, den ihre Großmutter an sie hatte, Schokoladenpudding war.
Den hatte sie gekocht, Eischnee geschlagen und untergehoben, es wurde der beste Pudding, den sie je gemacht hatte, aber Oma konnte ihn nicht mehr essen, Oma war in der Nacht gestorben.
Seitdem griff sie beim Einkauf an den Päckchen mit Schokoladenpudding vorbei, alle anderen Varianten Pudding kannte man in ihrer Küche, nur den Schokoladenpudding nicht.

Jetzt kam wieder eine Angst in ihr hoch, die sie seit einiger Zeit überfiel, die sie sich aber nicht eingestehen wollte.
Was wird, wenn Martin abmustert, wenn er nicht mehr zur See fährt? Eigentlich kennen wir nur unsere Feriengesichter, aber werden wir den Alltag miteinander leben können?
Für Martin werden das sogar zwei gravierende Veränderungen im Leben sein, beruflich und privat.
Ich muss mit ihm über meine Sorgen reden, sagte sie sich, gewiss macht er sich schon ähnliche Gedanken.
Andrea schlich sich in den Raum, der mal das Wohnzimmer war und legte sich auf das schmale Stück Matratze, dass die Embryohaltung, die Susanne eingenommen hatte ihr ließ.
Als sie am nächsten Morgen aufwachte, saß Susanne am Tisch, legte Tarotkarten aus und trank Kaffee dabei.
“Möchtest du auch eine Tasse Kaffee?“
Andrea hielt sich den Kopf und antwortete „Unbedingt! Ich hab es gestern mit dem Rotwein übertrieben.“
Als sie eine große Kaffeetasse in der Hand hielt, sah sie sich die ausgelegten Karten an.
„Was machst du da, was willst du erreichen?“ fragte sie.
„Ach, ich lege schon eine ganze Weile, wusste gar nicht mehr, dass ich die habe. Keltisches Kreuz, Beziehungsspiel, alles Scheißkarten. Tod und Teufel,Turm und sieben oder zehn Schwerter und als Quint immer wieder der Gehängte.“
„Hast du etwas anderes erwartet? Ist doch Quatsch, so die Karten zu prügeln! Du kannst noch nicht einmal eine Frage formulieren, wie willst Du Antworten lesen? Nimm den Gehängten als Hinweis, dass Du eine andere Sicht auf das Geschehen brauchst. Komm, ich will dir was zeigen.“ sagte Andrea und holte die Fotoalben hervor.
“ Sieh dir mal eure Gesichter auf den Bildern an, hier wart ihr noch ein glückliches Paar, aber was war seit dem Zeitpunkt mit euch los ? Alle Fotos, auf denen ihr nebeneinander seid, zeigen euch mit verbissenen Gesichtern, schlimmer als Lady Di und ihr Prinz. Selbst die Lächelversuche sehen unmöglich aus, einzeln seid ihr durchaus noch ansehnlich. Und warum hast du mir nicht erzählt, dass Siegfried arbeitslos wurde?“
Susanne sah erstaunt auf „Siegfried arbeitslos, wieso?“
Nach Andreas Erklärung sagte sie: “Jetzt wird mir einiges klar. Ich habe durch Zufall auf seinem PC entdeckt, dass er mit einer Seitensprungagentur Kontakt hatte. Als ich mit meinem PC ein Programm herunterlud und gleichzeitig meine e- mails lesen wollte, hatte ich seinen PC angeschaltet. In seinem Postfach fand ich ganz versehentlich neue Vorschläge von so einer Agentur für ihn. Ich habe ein furchtbares Fass aufgemacht, kannst Du Dir bestimmt vorstellen. Ich tobte, was das für eine Schweinerei sei und er hatte die ganze Zeit nichts dazu gesagt, ist dann Türen schlagend gegangen. Aber mein Auftrag in Rothenburg stand an und ich bin wutschnaubend abgedampft.“
Sie fasste mit beiden Händen ihre Kaffeetasse und meinte kopfschüttelnd: „Irgendwie konnte ich mir nicht vorstellen, dass er wirklich ständige Sexkontakte hatte, bei uns ging da nichts mehr. Aber mit einem Arzt wollte er auch nicht reden. Wenn ich ehrlich bin, hat mir auch nicht viel gefehlt, es war so … beliebig geworden. Nur warum musste er so heimlich, so heimtückisch gehen als zählte unser gemeinsames Leben zuvor garnichts?“
„Vielleicht solltest du die Situation jetzt so hinnehmen, wie sie ist.“ antwortete Andrea. „Ihr hattet doch auch eine gute Zeit miteinander, die ist nun vorbei. Aber zwei tolle Kinder sind Euch davon geblieben. Jede Situation hat zwei Seiten, lass uns die gute Seite entdecken.“
„Hmm, werde ich versuchen. Ach du, ich hab kein Brot mehr gehabt“, sagte Susanne, „da habe ich uns Schokoladenpudding gekocht, geht doch, oder?“
„Geht gut“ antwortete Andrea, „hab ich ewig nicht mehr gegessen.“


Sonne und Mond



Katrin spülte ihre Kaffeetasse und entschied sich dabei, die 20 km in die Stadt mit dem Fahrrad zu fahren.
Wird ja wohl für längere Zeit das letzte Mal sein, vielleicht sogar für immer, dachte sie und Tränen traten ihr in die Augen. Jetzt nur zusammenreißen, sagte sie sich, jetzt nur zusammenreißen!
Ach,irgendwie waren die letzten drei Jahre richtige Scheißjahre gewesen und kaum, dass man glaubt es ist vorbei, kommt so eine Diagnose. Sie sah auf die zwei Tarotkarten, die sie sich beim Kaffee trinken auf den Verlauf ihrer Krankheit gezogen hatte. Sonne und Mond, was kann widersprüchlicher sein als diese Karten? Den Mond, der ist klar, den lebe ich gerade, Ängste und Unsicherheit, aber die Sonne?
Ein Hinweis auf eine Strahlenbehandlung?
Aber das ist ja Quatsch, bei meiner Erkrankung gibt es doch nur Chemo, außerdem sehr unorthodox so zu deuten.
Ein Hinweis, dass ich schon vor den Toren des Paradieses stehe?
Ach, auch Blödsinn, soweit ist es noch lange nicht und außerdem trägt die Karte die Bedeutung Lebensfreude, Vitalität, nur dass ich das schon lange nicht mehr fühle.Ach, in solchen Situationen sollte man eben nicht selber deuten, sagte sie sich.
Als Katrin ihr Rad aus dem Keller geholt hatte, sah sie auf die Uhr und stellte erstaunt fest, dass es erst viertel sechs war, oder viertel nach fünf, wie Andreas sie immer korrigieren musste. Selbst diese sprachliche Eigenart ihrer Heimat hatte er plötzlich an ihr zu kritisieren gehabt, ein Glück, dass sie den Absprung aus dieser Beziehung geschafft hatte.
Katrin entschied sich, auf dem Wanderweg durch den Wald nach Templin zu ihren Eltern zu fahren, so früh würde sie die Strecke ganz für sich haben.
Im Wald glitt lautlos eine Eule an ihr vorbei. Katrin schrak erst zusammen, lächelte dann aber und dachte: Hast dich wohl vertrödelt Schuhu.
Ihr Blick streifte durch die Umgebung.Im Gras und an den Spinnweben zwischen den Zweigen der Bäume hing Tau und Sonnenstrahlen ließen ihn glitzern. Überall war Vogelsang zu hören und kurz vor ihr wechselten zwei Rehe den Weg.
Was für ein schöner Morgen, dachte Katrin. Auf halber Strecke merkte sie, dass sie einer Pause bedurfte, ihr Körper war schweißbedeckt und im Mund hatte sie metallenen Blutgeschmack. Sie wischte den Schweiß vom Gesicht und verharrte kurz, als sie die geschwollenen Lymphknoten an ihrem Hals berührte. Ganz in der Nähe stand eine Bank, von der aus man einen weiten Blick auf die eiszeitgeprägte Landschaft hatte.
"Piii, piii " klang es. Katrin blickte zum Himmel auf und sah einen schwarzen Milan vor einer fast runden Mondscheibe am hellen Himmel seine Kreise ziehen. Steige hoch wie der rote Adler - du schwarzer Milan, grüßte sie ihn in Gedanken.
Der Rest der Strecke war nicht beschwerlich, da er leicht abschüssig war. An der Badestelle des Lübbesees blickte sie auf die Uhr, viertel acht, oder viertel nach…, nein viertel acht ist es, dachte sie. Eigentlich zu früh, es reicht, wenn ich um acht zu Mutti hoch gehe. Ist gerade keiner hier, da kann ich ungestört ins Wasser gehen.
Sie streifte Pulli und Hose ab und ging in Unterwäsche in den See. Das Wasser war weich und klar. Es stand ihr bis zur Brust und noch immer konnte sie ihre weißen Beine und die blauen Flecken, Male ihrer Krankheit, erkennen. Sie legte sich aufs Wasser, ließ sich tragen, drehte sich und schwamm ein Stück. Ach, wie gut das tat. Wie mir das gefehlt hatte! Immer weiter schwimmen, bis alle Kräfte mich verlassen und dann untergehen, dachte sie. Aber das ist dann schlimm für meine Eltern, die jeden Tag hier vorbei gehen.
Wieder drehte sie sich auf den Rücken und sah in den Himmel.
Toter Mann … schön ist das, sich so tragen zu lassen.
Sie sah den Mond am Himmel stehen und sah die Sonne und plötzlich war sie zuversichtlich.


Ein Telefongespräch mit Mutti




„Fünf Euro fünfzig macht das.“ sagte der Fahrer der Johanniterhilfe. Beate drückte ihm sechs Euro und fünfzig Cent in die Hand und bedankte sich bei dem Beifahrer, der ihr behilflich war, aus dem Krankenwagen zu steigen. Endlich wieder zu Hause, dachte sie. Blöd wenn man allein lebt, keiner begrüßt einen. Wenigstens hatten mich die Frauen vom Club regelmäßig besucht, ist ja noch viel blöder, wenn man vier Wochen lang keinen Besuch im Krankenhaus hat. Komisch, dass von Arbeit keiner gekommen ist. Naja, die hatten viel zu tun, die freuen sich bestimmt schon, wenn ich übernächste Woche wieder da bin.
Damit sich der Krankenhausgeruch nicht einnistet, sortierte sie ihre Wäsche aus und ließ die Waschmaschine laufen., kaum dass sie in der Wohnung angekommen war. Dann füllte sie die Kaffeemaschine mit Wasser und Kaffeepulver und suchte in der Küchenschublade nach ihrem Tarotkartenspiel. Tarot war für sie mehr als ein Zeitvertreib, den sie sich ab und an gönnte. Es war in unübersichtlichen Situationen für sie wie ein Geländer für ihre Gedanken. Vom Hof her hörte sie Babyweinen. Während sie die Karten mischte, formulierte sie ihre Frage: Wie wird das mit der Arbeit weitergehen? Dann zog sie drei Karten.
Zehn Stäbe, Turm, sieben Münzen.
Die zehn Stäbe in der Vergangenheit waren klar, Überlastung hatte sie in diese Situation geführt, die sieben Münzen für die Zukunft empfand sie auch als zufrieden stellende Karte, es entwickelt sich und gedeiht langsam aber stetig bei guter Pflege - so ihre Interpretation.
Nur dem grässlichen Turm, der ohnehin ihre Angstkarte war, konnte sie keine zufrieden stellende Erklärung geben. Zwar kannte sie die freundliche Interpretationsmöglichkeit, dass etwas wieder auf ein gesundes Fundament gestellt wird, aber in ihrer Sicht der Karte war da plötzliche Lebensbedrohung und der Sturz ins Bodenlose ausschlaggebend.
Es klingelte, der Postbote hatte eine Briefsendung für sie. Sie unterschrieb eine Empfangsbestätigung des Briefes und schloss ohne einen Gruß die Tür.
Ihre Hände zitterten so, dass sie das Adressfeld des Umschlags nicht entziffern konnte. Brauchte sie auch nicht, denn dieses Schreiben hatte ihr Unbewusstes schon erwartet, seit sie im Krankenhaus war. Aber ihr Bewusstes hielt mit vielen vernünftigen Argumenten dagegen. Seit Anfang an dabei, die Abteilung aufgebaut, in den Anfängen des kleinen Unternehmens alle anfallenden Arbeiten gemacht, viele Überstunden in Stosszeiten und dem Chef aus so mancher Krise geholfen, da wird er sie doch nicht entlassen, wenn sie mal etwas länger krank ist. Sie saß am Küchentisch und starte auf den Umschlag. Gestern noch hatte sie mit dem Chef telefoniert, dass sie aus der stationären Behandlung entlassen wird und voraussichtlich … das hat sich jetzt wohl erledigt.
Erst Kaffee, dann lese ich den Brief, aber Pralinen, die Nervennahrung brauche ich jetzt.
Mensch, wer lässt denn da solange sein Baby weinen. Sie ging ans Küchenfenster und suchte die Fenster des gegenüberliegenden Hauses ab, aber es waren alle geschlossen. Bei uns wohnen doch nur alte Leute im Haus, da kann das auch nicht herkommen.
Ihr Blick fiel wieder auf den Briefumschlag. Sie öffnete den Vorratsschrank und suchte sich von den Pralinen ihrer Geburtstagsfeier den besten Kasten, deckte sich den Kaffeetisch so, dass sie aus dem Fenster sehen konnte. Das Weinen war noch immer zu hören und fing an, sie zu beunruhigen. Wird schon nichts sein, dachte sie und goss den Kaffee in die Tasse.
Nun kam zu dem Babyweinen auch noch das Geschrei eines Schwarms von Krähen, die an ihrem Fenster vorbei Runden über den Innenhof flogen. Der Kaffee war heiß und bitter. Sie öffnete den Pralinenkasten und suchte nach Marzipan. Jetzt schmeckte auch der Kaffee. Das Baby schrie und der Hof wurde von Krähen belagert. Geradezu höhnisch klang deren Geschrei. Mit dem Stiel des Teelöffels öffnete Beate den Briefumschlag. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass zwei Männer auf dem Dach des gegenüberliegenden Hauses herumliefen.
Wo kommt nur das Babyweinen her? Beate stand auf und lehnte sich aus dem Fenster .Nun sah sie, dass die Krähen eine der großen Pappeln vom Hof umkreisten. Weit oben in der Krone klammerte sich eine schwarze Katze mit weißem Latz am Stamm fest. Sogar auf die Entfernung konnte Beate die schreckgeweiteten Augen der Katze erkennen. Das Tier tat ihr leid, sie wurde zornig auf die Krähen und gleichzeitig war sie froh, dass es kein Baby war, das so jämmerlich schrie.
Beate zog den Brief aus dem Umschlag. Ein Blick auf das Blatt bestätigte ihre Befürchtungen. In diesem Augenblick fühlte sie sich wie die Katze auf der Pappel, hilflos und verhöhnt. Ihre Hand holte aus der Konfektschachtel eine goldene Tüte, gefüllt mit hellem Nougat, nach Marzipan ihr liebstes Praline´. Sie las … kündigen wir sie aus betriebswirtschaftlichen Gründen zum 15. März. Das Nougat lag wie eklige, klebrige Schmiere auf ihrer Zunge. Schnell trank sie Kaffee nach. Auf dem Dach gegenüber war Bewegung, einer der Männer redete mit lauter Stimme zu der Katze. Die Männer standen am Rand des Daches, hatten einen großen, steifen Beutel an ein Seil gebunden, das als dicker Ring über dem Arm des Mannes hing. Die Katze schrie nicht mehr ganz so erbärmlich, eher maunzte sie bittend. Der Dicke, wie sie den Katzenbesitzer in Gedanken nannte, lies den Beutel wie einen Propeller kreisen, schneller und schneller. Gebannt stand sie am Fenster. Jetzt gab es für sie nichts auf dieser Welt, was wichtiger war als diese Katzenrettung. Der Beutel flog durch die Luft und verfehlte sein Ziel. Die Krähen umkreisten mit höhnischen Rufen die Pappel. In Beate stieg jetzt Furcht auf, an einem Drama teilzuhaben und doch musste sie auf den Ausgang der Aktion warten, die Hoffnung dass es gut ausgehen könnte, wollte nicht weichen. Es musste einfach gut ausgehen, ihr war, als würde ihr zukünftiges Glück vom Ausgang der Katzenrettung abhängen. Wieder kreiste der Beutel, kreiste und kreiste, flog, landete in der Pappel, aber viel zu tief. Der Mann, den sie den Dicken nannte, zog und zerrte am Seil, bis sich der Beutel aus den Ästen gelöst hatte. Wie ein Gebet sprach sie in Gedanken: "Hoffentlich gibt er nicht auf, hoffentlich gibt er nicht auf."
Er gab nicht auf, lies den Beutel kreisen, lies ihn fliegen und diesmal landete der Beutel an einem Ast genau unter der Katze. Einladend war die Öffnung des Beutels der Katze zugewandt. Das Tier erkannte seine Chance und kletterte hinein. Erleichtert stieß Beate die Luft aus. Jetzt fragte sie sich, wie die Männer zu dem Beutel kommen werden. Kaum hatte sie das angedacht, zog der Dicke am Seil, der Beutel samt Katze flog durch die Luft und stieß an die Brandmauer des Hauses.
Beate wurde flau im Magen als sie sah, wie die Katze panisch versuchte den Beutel zu verlassen. Die Männer auf dem Dach holten mit lang ausholenden Bewegungen das Seil ein und noch bevor die Katze aus dem Beutel war, schlug sie auf dem Dach auf.
Beate sah sie von ihrem Fenster aus, dass der dicke Mann, eine große schwarze Katze, die sich eng an ihn schmiegte, im Arm hielt. Als beide Männer das Dach verließen, war der breite Rücken des Dicken, über dessen Schulter ein hübsches Katzengesicht in die Gegend sah, das letzte, was Beate von dieser Aktion beobachten konnte.
Sie ging zum Telefon und rief ihre Mutter an. "Mutti, ja mir geht es schon viel besser, richtig gut. Du, ich bin entlassen worden. Kannst Du bitte einen Termin bei Deinem Anwalt für mich machen?"


Butterblumen



"Hier für dich Mama" wieder hörte Elisabeth diese Worte deutlich und sah das Gesicht ihrer kleinen Tochter Lena. Sah ihr in die strahlend blauen Augen, die sie so intensiv musterten, um Freude im Gesicht der Mutter zu entdecken, weil sie ihr diese wunderschöne gelbe Blume schenkte. Und immer wenn sie das sah, schien die Sonne auf den hellblonden Lockenschopf und ein strahlendes Leuchten umgab das kleine Gesicht und ihr Herz füllte sich mit Wärme.
Da hörte sie Patric, ihr neues Baby weinen.
Seufzend stand Elisabeth auf und ging zum Kinderbett, hob ihren Sohn heraus, der ihr die Ärmchen entgegengestreckt hatte, legte ihn auf die Wickelkommode, säuberte und windelte ihn und nahm ihn dann an die Brust.
Bei all dem sprach sie kein Wort. Während der Kleine an ihr seinen Hunger stillte und die weiche Wärme ihres Körpers genoss, wanderte ihr Blick im Zimmer umher und blieb bei einer Blumenvase, die auf dem Fensterbrett stand hängen.
Sie erinnerte sich, wie sie eine Butterblume und andere Gräser Lena zuliebe in diese Vase gesteckt hatte und wie erschrocken die Kleine am anderen Morgen war, als die schöne gelbe Blume schon vertrocknet schien und wie groß ihre Freude nachmittags, als eine Pusteblume, reinweiß, filigran und kugelrund, in der Vase steckte.
Elisabeth spürte Kälte an ihrer Brust und blickte an sich herab. Der Säugling in ihrem Arm war eingeschlafen. Vorsichtig nestelte sie ihren Stillbüstenhalter zusammen, darauf bedacht, den kleinen Jungen nicht aufzuwecken. Sie zog die Knie an und stellte ihre Beine auf das Sofa, zerrte an ihrer großen Strickjacke, so dass sie ihren Körper und das Baby damit umhüllte, solange sie die Jacke festhielt.
Gedankenverloren streichelte sie dem Kind die Wange mit dem Zeigefinger, während ihr Blick von der Vase angezogen wurde. Ihre Gedanken machten wieder eine Zeitreise und sie stand mit Lena auf den Balkon und gemeinsam pusteten sie die Samenschirmchen in den Wind. Elisabeth hört die Nachbarin fragen, was sie denn da machten und freute sich an den Bewegungen ihrer kleinen Tochter, die aufgeregt von der wundersamen Verwandlung der schönen gelben Butterblume in eine weiße Pusteblume berichtete und dabei die Hände in die Höhe hob und zur Unterstützung ihrer Rede possierlich drehte. Und wie damals überkam sie das Bewusstsein, dass sie dieses kleine Menschlein liebte, so liebte wie nichts anderes auf der Welt, nur, dass dieses Gefühl sie jetzt nicht glücklich, sondern zutiefst traurig machte. Schon traten ihr Tränen in die Augen.
Hat Andreas vielleicht Recht, bin ich für Patric eine schlechte Mutter?
Liebe ich ihn etwa nicht? Sie sah auf das zufrieden in ihrem Arm gekuschelte Baby. Nein ich liebe ihn, ich kann es nur nicht so zeigen, dachte sie, ich liebe ihn, wie ich Lena liebte.
Sie sah auf die Uhr, war schon wieder so spät? Den schlafenden Säugling legte sie auf das Sofa und zog sich schnell um. Andreas könnte gleich kommen, da wollte sie ihm keinen Grund geben, sie zu kritisieren, wie er es in letzter Zeit häufig machte. Er scheint Lenas Tod gut verarbeitet zu haben, sie war eigentlich auch der Meinung gewesen, sich damit abgefunden zu haben, aber seit der Geburt von Patric hat sie die Trauer um die Tochter wieder eingeholt und setzte ihr so zu, dass sie Stunden zusammengekauert auf der Erde neben dem Sofa verbrachte, den Säugling dabei im Arm wie eine Puppe.
Irgendwann bemerkte sie selbst, dass sie sich nicht normal verhielt und sie versuchte, mit ihrer Sehnsucht nach Lena vernünftig umzugehen. Sie begann sich ganz gezielt Erinnerungen an Lena aufzurufen um in Gedanken mit ihr zusammen zu sein. Wieder und wieder rief sie ihre Erinnerungen auf, lebte in einer Zwischenwelt mit Lena, aber das gab ihr die Stärke, den Alltagspflichten annähernd zu genügen.
Sie war überzeugt, wenn sie in ihren Gedanken nur die mit Lena erlebten Situationen aufrief und ihrer Fantasie nicht gestattete, neue Erlebnisse zu erschaffen, solange sie nur die Bilder der Vergangenheit sah, war sie gesund.
Andreas sah das anders, er und seine Mutter Ulla meinten, sie bräuchte psychologische Hilfe. Psychologische Hilfe, als ob so ein Psychologe Lena wieder lebendig machen könnte.
Wie soll ein fremder Mensch ihren Schmerz verstehen, wenn es nicht einmal ihr Mann und ihre Schwiegermutter können, die doch auch beide Lena liebten. Elisabeth stellte sich vor den Spiegel im Flur und begann ihr Haar zu bürsten. Das Gesicht, das der Spiegel ihr reflektierte, konnte sie selbst kaum wieder erkennen. Dunkle Ringe lagen unter ihren Augen, ihr Haar war dünn geworden, ihre Wangen eingefallen.
Ihr fiel das gestrige Gespräch mit Monika, der Nachbarin wieder ein, die ihr seit Patrics Geburt ab und an Gesellschaft leistete und ihr Tageskarten aus einem Tarotkartendeck zog und erklärte. Die heutige Karte hatte Elisabeth verstört und erschreckt, da half auch Monikas Beteuerung nichts, dass sie sich keine Sorge machen brauche, dass die Karte der Tod das natürliche Ende einer Entwicklung beschreibt. "Lisbeth", hatte sie gesagt, "Lisbeth, du musst was für dich tun. So kannst du keinem anderen mehr Liebe geben. Gib dem Patric die Chance, ein fröhliches Kind zu werden, das eine Mutter hat, die immer für ihn da ist, die lebendig ist."
Hier vor ihrem Spiegelbild verstand Elisabeth, was Monika meinte und verstand auch, was hinter den Vorwürfen von Andreas und Ulla an Sorge steckte. Sie band ihr dünnes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen und schlüpfte in ihre Jacke. Dann zog sie Patric an, legte ihn in den Kinderwagen und ging mit ihm spazieren. Der Kleine versuchte im Wagen erste Brabbellaute von sich zu geben, die wie "awwwh" klangen.
Elisabeth lächelte und versuchte ihn zu animieren, indem sie die Geräusche nachmachte. Sie ging ganz gezielt in die Hoffmannstraße, suchte dort nach der Nr.58, der Adresse, die ihr Monika gegeben hatte und las das Schild - Dr. Andrea Neugärtner; Diplom-Psychologin und Psychotherapeutin.
Elisabeth betrat die Praxis und sagte zu der Schwester am Empfangstresen: "Guten Tag, ich möchte mich zu den Treffen der Selbsthilfegruppe verwaister Eltern anmelden."
Den Rückweg nach Hause machte sie durch den Park. Sie fühlte sich irgendwie erleichtert. Plötzlich wurde sie sich des schönen Frühlingswetters bewusst. Als Patric versuchte, sich im Wagen aufzurichten, nahm sie ihn in den Arm, setzte ihn auf ihrer Hüfte ab und trug ihn, den Kinderwagen mit der freien Hand schiebend.
Als sie an der großen Liegewiese vorbei kamen, sagte sie "Schau mal, Patric, so viele schöne gelbe Butterblumen."

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Tag der Veröffentlichung: 19.04.2010

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