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Nicole, beeilen sie sich! Ich möchte den Klassenraum abschließen.“
„Bin ja schon fertig.“ antwortete die Siebzehnjährige im gereizten Ton,
sammelte dabei den letzten Stift vom Boden auf, legte ihn in die Federtasche, verstaute diese in die Schultasche, die sie dann gemächlich schloss. Du blöde Kuh kannst warten, dachte sie.
Sie mochte ihre Französischlehrerin Frau Krassnik nicht, hasste sie sogar, war sie doch Schuld, dass etliche Mitschüler sie seit der achten Klasse mit Pferd bezeichneten.
Damals, als die Lehrerin neu an die Schule kam, war Nicole erfreut. Sie mochte die Sprache und die junge Lehrerin schien ihr sympathisch. Aber schnell zeigte sich, dass diese Frau die Klasse in von ihr gemochte und nicht gemochte Schüler einordnete und auch danach benotete. Nicole wurde bei dieser Einteilung lange Zeit fast übergangen. Zwar gehörte sie nicht zu den gemochten Schülern, aber sie wurde von der Lehrerin nicht aggressiv angegangen und gerecht benotet.
Dann eines Tages, es war die letzte Stunde vor Ferienbeginn, wurden in das Deutsche aufgenommene französische Begriffe besprochen. Es war eine lockere Unterrichtsstunde, die Nicole Freude bereitete. Jedenfalls solange, bis Frau Krassnik auf Pumpernickel zu sprechen kam und der Bezeichnung einen eigenartigen Ursprung gab. Nach ihrer Interpretation fanden Napoleons Soldaten deutsches Schwarzbrot nur für ihre Pferde verdaulich und da sie ihre Pferde häufig Nicole nannten, wurde das Schwarzbrot mit „pour Nicole“ bezeichnet, was sich später in Deutschland auf Pumpernickel abgeschliffen hätte.
Während sie das erzählte, lag der Blick der Lehrerin auf Nicole. Schnell hatten Mitschüler das aufgegriffen, wieherten und riefen: „Hüh, Nicole, hüh!“
Morgana war wütend aufgesprungen und sagte, sie sollten das lassen und auch Lisa sei ein bekannter Name für Ackergäule und Kühe, auch glaube sie nicht, dass die Leute ihr Brot nach Bemerkungen von Besatzern neu benannt haben.
Lisa war nicht nur eines der beliebten Mädchen der Klasse, sie war auch die Lieblingsschülerin von Frau Krassnik.
Was folgte, war vorhersagbar, die Lehrerin herrschte Morgana an, drohte ihr mit einer Disziplinierung, während andere Schüler weiter herum wieherten und „Hüh, Nicole!“ schrien bis die Stunde abgeklingelt wurde.
Mit jeder Erinnerung daran wurde das Hassgefühl gegen Lehrerin und Mitschüler in Nicole größer.
Eine Zeit lang halfen ihr Gewaltfantasien, den sich aufhäufenden Berg negativer Emotionen abzubauen. Dann aber wurde das Gefühl der Demütigung dadurch sogar noch größer, dass diese Lehrerin und etliche Schüler sie dazu bringen konnten, so zu denken, so fies zu sein und sie versagte sich solche Gedanken.
Musste Morgana gerade heute nicht zur Schule kommen, dachte sie, als sie den Klassenraum verließ.
Jetzt fahre ich erstmal zu Papa und lass mich etwas verwöhnen, danach kann ich noch Morgana besuchen, vielleicht schlafe ich auch da.
An der Bushaltestelle standen Lisa und Tanja. Als sie Nicole sahen, begannen sie zu kichern und miteinander zu flüstern. Blöde Kühe, dachte Nicole, bestimmt freuen die sich gerade, dass Lisa meinen Faulenzer vom Tisch fegte und ich auf meinen eigenen Füller getreten bin.
„Phrrrr, hühhühhühh“ schnaubte Lisa ihr hinterher und beide Mädchen fingen an zu lachen. Nicole war froh, dass der Bus kam und die anderen Wartenden nichts von diesem Vorfall mitbekommen hatten. Im Bus saß sie weit hinter den Mädchen und beobachtete, wie sie sich angeregt unterhielten. Sie dachte daran, dass sie früher mit Tanja befreundet war. Was war eigentlich passiert, dass ich zum Klassenparia wurde? Irgendwie hing das mit der Trennung von Paps und Mum zusammen, da war ich ja eine Zeit etwas schräg drauf, dann kam die schöne Lisa in unsere Klasse und ich war erst bei Tanja und bald auch bei den anderen abgeschrieben. Aber was soll das Gegrübel, ist eben so. Zum Glück zog ein halbes Jahr später Morgana und ihre Mutter Esther aus Amerika hierher. Morgana ist eine tolle Freundin, die beste überhaupt.
Am Einkaufscenter verließen Tanja und Lisa den Bus. Nicole fühlte sich erleichtert. Drei Stationen später, am Rathausplatz, stieg auch sie aus und ging hinüber zum Einkaufsboulevard in der Fußgängerzone.
Sie mochte die Straße, in der ihr Vater wohnte und seine Werbeagentur betrieb. Sie mochte es, in die Auslagen der luxuriösen Geschäfte und in die Fenster der Cafes zu schauen. In dieser Straße fiel jede Bedrückung von Nicole ab, in dieser Straße erreichte sie kein Schulproblem mehr. In dieser Straße verflachte sogar ihre Sorge um die depressive Mutter, die gerade im Krankenhaus war.
Zwölf mal im Jahr nahm sich ihr Vater ein paar Stunden Zeit für sie, dann kaufte er ihr in einer der angesagten Boutiquen ein oder zwei Kleidungsstücke ihrer Wahl und danach gingen sie in eine nette Gaststätte. Beim Essen sprachen sie von Nicoles Zukunftsplänen, über ihre Gegenwart sprachen sie nie.
Meist besuchte Nicole danach Morgana und deren Mutter, die am Ende der Straße einen Laden für Esoterikartikel betrieb.

Nicole stand vor der Werbeagentur uns klingelte. Der Türsummer erklang und Nicole stürmte freudig ins Büro. Suchend sah sie sich um, konnte ihren Vater aber nicht entdecken. Die schlanke Empfangsekretärin, die wie immer einen für ihr Alter viel zu kurzen Rock trug, kam auf Nicole zu und sagte, dass ihr Vater oben in der Wohnung sei.
Stets zwei Stufen auf einmal nehmend lief sie die Treppen hoch. Ihr Vater öffnete ihr die Tür und begleitete sie ins Wohnzimmer. Dort saß Anna, seine Praktikantin, die im vergangenen Jahr an Nicoles Schule das Abitur ablegt hatte.
„Es wird Zeit, dass ich es dir sage,Nicole“ begann ihr Vater „Anna und ich, wir sind ein Paar, wir werden heiraten.“
„Ja, Nicole“ ergänzte Anna, „wir haben noch viele Vorbereitungen zu treffen. Leider hat dein Vater deshalb heute keine Zeit für dich. Zu unserer Hochzeit bist du natürlich herzlich eingeladen.“
Nicole konnte nicht begreifen, was sie da gerade gehört hatte. Es war so unwirklich, wie ein Traum. Ihr Vater legte den Arm um sie und begleitete sie wieder zur Tür. Er drückte ihr einen Umschlag mit Geld in die Hand, gab ihr einen Kuss auf die Wange und sagte:
“Kauf dir was Schönes, Mäuschen.“
Nicole stammelte: „Aber, aber sie ist doch so jung.“
Eigentlich hätte sie noch gern gesagt, dass sie Anna noch nicht kannte und der Vater doch auch erst kurz, und dass er es sich bitte noch überlegen sollte. Sie hatte die richtigen Worte für diesen Wunsch noch nicht gefunden, da öffnete ihr der Vater die Wohnungstür und sagte:
„Ja, sie ist fast so jung wie du, aber viel reifer.“
Im Hausflur überlegte Nicole , wie er das gemeint haben könnte. War das eine verdeckte Kritik, dass sie unreif wäre? Oder wollte sich ihr Vater die Beziehung zu einer Frau, die vom Alter her seine Tochter sein konnte und die kürzlich erst die Schule verlassen hatte, schönreden? Eins so mies wie das andere, fand sie und wischte sich mit Handrücken und Maus der Hand, in der sie den Umschlag hielt, die Tränen aus dem Gesicht. Schniefend öffnete sie den Umschlag und begann das Geld zu zählen. Tausend Euro, hat er sich was kosten lassen, mich so abzuschieben, dachte sie.
Zielgerichtet ging sie in das nahe gelegene Schreibwarengeschäft und kaufte sich dort eine neue Ausstattung für die Federtasche. Obwohl Nicole sehr kritisch bei der Auswahl des Füllhalters war und die Geduld der Verkäuferin strapazierte, war sie mit ihrer Wahl nicht zufrieden. Irgendwie hatte sie bei ihrem früheren Füller ein besseres Gefühl. Alles, was das Geschäft hier bot, lag wie ein Fremdkörper in der Hand und sie konnte sich nur für das am wenigsten kratzende Schreibgerät entscheiden. Einhundertundfünf Euro leichter verließ sie unzufrieden das Geschäft.
In der Nebenstraße sah Nicole die bunten Stände eines Flohmarkts. Flohmärkte fand sie interessant, manchmal konnte sie dort wirklich schöne Schnäppchen machen, manchmal fand sie es nur unterhaltend, was die Leute für Plunder anboten.
Dieser Markt sah gut aus, viele gewerbliche Stände mit alten Büchern, Schallplatten und Haushaltsgegenständen. Sie blieb lange vor einem Stand mit Geschirrteilen, Kerzenständern und altem Schmuck stehen. Nicole hatte den Wunsch, ihrer Mutter etwas Besonderes mitzubringen, etwas das ihr Freude machte, wenn sie aus dem Krankenhaus kam.
Sie entschied sich für einen kleinen Kristallspiegel mit Metallrahmen im Art-Deco-Muster. Der würde gut über das kleine Tischchen im Schlafzimmer von Mum passen, dachte sie. Zufrieden mit ihrer Wahl, verzichtete sie sogar auf das Vergnügen, den Preis herunter zu handeln und zahlte die geforderten fünfunddreißig Euro.
Am Ende des Verkaufstisches entdeckte sie eine Grabbelkiste, die mit den verschiedensten Utensilien gefüllt war, die bei Wohnungsauflösungen in Schreibtischschubkästen gefunden wurden. Brieföffner, Federschalen, alte Kugelschreiber, Füller. Obenauf lagen zwei unterschiedliche bunte Blechschachteln in Form von Mumiensärgen, verstaubte Mitbringsel aus einem Museumsshop. Die fand Nicole lustig und wählte sie für Morgana und für sich. Lässig fischte sie in der Kiste herum und hatte dann ein abgegriffenes, verdrecktes Lederetui in der Hand. Als sie es öffnete, entdeckte sie zwei metallene Füllfederhalter der gleichen Bauart, die sich in der Farbe leicht unterschieden. Einer war von der Farbe dunklen Kupfers, der andere war ebenfalls kupferfarben, aber hell. Auf jeder Kappe war ein fünfzackiger Stern eingraviert,das Markenzeichen, vermutete Nicole. Aber die scheinen in der Füllerfabrik etwas schlampig gewesen sein, bei dem dunklem Füller stehen zwei Zacken oben, bei dem hellen einer.
Sie schraubte die Kappen ab, bewunderte die schöne Federn, silbern mit goldenem Rand, ziseliert mit einer Ranke. Sie ließ sich vom Verkäufer erklären, wie man die Füller mit Tinte befüllt und machte damit Schreibproben, die sie begeisterten. Einer schrieb so gut wie der andere. Nicole schloss die Augen, drehte die Füllfederhalter mehrmals im Kreise und griff sich einen. Das sollte ihrer werden, der andere war dann für Morgana. Sie hatte sich den dunklen Füller erkiest, den sie ein bisschen eleganter fand als den hellen. Der Verkäufer nannte diese herrlichen Schreibgeräte No-Name-Fabrikate und kassierte zwanzig Euro von ihr. Zufrieden legte sie die Füllfederhalter in die von ihr dafür vorgesehenen Kästchen und freute sich schon auf Morganas Gesicht, wenn sie ihr den Miniatursarg überreichen würde.
Beschwingt ging sie weiter, flüchtig die bunten Auslagen der Schaufenster betrachtend, die sie nicht mehr reizten. Sie hatte sich satt gekauft und war nun begierig, ihre Schnäppchen zu bewundern und Morgana eine Freude zu machen. Als sie an ihrem Lieblingscafe vorbei kam, stellte sie fest, dass es diesmal überraschend voll war. Sie betrachtete die Gäste und fragte sich: Was ist denn los, Weltfrauentag? Sonst trafen sich hier Studenten und Kleinkünstler zu einem Kaffee Latte, Tee oder einem Glas Wein. Nun waren alle Plätze von ihr unbekannten Menschen besetzt, überwiegend von Frauen. So unterschiedlich sie auch aussahen, sie hatten etwas an sich, das sie an Morganas Mutter erinnerte. Irgendwie kleideten sich alle hier Versammelten unkonventionell, von aktuellen Modetrends unberührt und doch konnte man Gruppenzugehörigkeiten erkennen.
Gleich vorn an der Straßeseite saßen drei englisch sprechende Frauen in schwarzen Kleidern mit weißen Spitzenkragen Jede trug ein großes Kruzifix an einer langen Kette um den Hals. Nicole fühlte sich an Nonnen erinnert, aber diese Frauen hatten langes, kunstvoll frisiertes Haar. Dahinter saßen an einem Tisch drei Frauen in bodenlangen einfach geschnittenen weißen Leinenkleidern, die von bestickten Gürteln gerafft wurden. Sie unterhielten sich angeregt mit einem buddhistischen Mönch im weinroten Gewand. An Nicoles Lieblingstisch saßen zwei zierliche Inderinnen in bunte Saris gekleidet und eine Afrikanerin in einem stark gemusterten Kleid und kunstvollem Kopfputz. Am Nachbartisch sah sie Frauen in der grauen Schlabberkleidung, die manche Boutiquen anbieten. Sie waren mit Silberketten behangen, die Haare rot oder schwarz gefärbt. Sie unterhielten sich mit zwei älteren Männern in eleganten Straßenanzügen, die große Abzeichen an den Aufschlägen trugen. Eine alte Frau in einem blauen Trachtenkleid war in ein Gespräch mit zwei jüngeren Frauen in langen weinroten Kleidern vertieft.
In Nicole stieg der Gedanke auf, dass die Illustrationen aus einem Märchenbuch lebendig geworden wären. Vielleicht wird hier gleich gefilmt dachte sie, konnte aber keine Kameras entdecken.
Sie wollte nicht mehr so ungeniert auf die Leute starren und ging weiter, obwohl sie das Gefühl hatte, dass hier ein wichtiges Ereignis stattfand.

Nun stand sie vor dem Geschäft von Morganas Mutter und las die Mitteilung, die an der Tür
befestigt war:

Hallo, Ihr Lieben, leider ist das „Arkana“ wegen einer Veranstaltung geschlossen.
Es tut uns so leid, dass Ihr Euch umsonst auf den Weg gemacht habt.
Übermorgen sind wir wie gewohnt für Euch da.
Licht und Liebe für Euch
Esther und Team

Aha, dachte Nicole, dann scheint Morgana wirklich nicht krank zu sein, bestimmt hat sie wegen dieser Veranstaltung in der Schule gefehlt. Und schon öffnete Morgana ihr freudig
die Tür. Aber wie ungewöhnlich sah sie aus, ihre rotblonden Haare waren kunstvoll zu einem Zopf geflochten, der mit Blumen geschmückt war. Über ihren engen Jeans trug sie eine schwarze goldbestickte Tunika. Nicole ahnte nun, dass all die Leute im Cafe und das geschlossene Arkana zusammenhingen.
„Was ist denn los, “ platze es auch ihr heraus, „warum warst du nicht in der Schule? Und was sind das für Leute im Cafe? Warum siehst du so anders aus?“
“Ist kompliziert zu beantworten deine Frage.“ erwiderte Morgana. Dann fragte sie erstaunt nach „Gefalle ich dir so nicht?“
„Doch, doch“sagte Nicole, „Irgendwie siehst du aus wie eine Fee oder so“.
„Oder so passt“ grinste Morgana. „Ich weiß aber auch nur in Bruchstücken was los ist. Wenn du es nicht weitersagst, erzähle ich es dir.“
„Ist doch selbstverständlich“ antwortete Nicole, „außerdem, wem soll ich schon was erzählen?“
Du weißt doch, dass meine Mutter eine Wicca ist. Und irgendwie haben einige der Wicca in der letzten Zeit immer wiederkehrende Träume oder andere Visionen gehabt, in denen es um Jachin und Boas, die zwei Säulen vor dem Tempel Salomons geht und um Gefahr, die für unsere Stadt von ihnen droht.“
„Die gibt’s doch gar nicht mehr, die Säulen.“ sagte Nicole. „Und was sollen die mit unserer kleinen Stadt zu tun haben?“
„Ich hab doch auch keine Ahnung.“ erwiderte Morgana. „Fakt ist, die Wicca vom Luna-Coven waren von den Träumen beunruhigt und meine Mutter hat einen Artikel in „Wicca heute“ darüber geschrieben, der in anderen Ländern auch veröffentlicht wurde. Es zeigte sich, dass es auch in anderen Ländern Leute gibt, die von den Säulen Salomos irgendwie besessen sind, forschen zu dem Thema oder haben Visionen. Deshalb findet hier ein Treffen statt, aber es sind nicht nur Anhänger der Wicca- Religion hier, alle möglichen Magier und Leute, die magischen Praktiken gegenüber aufgeschlossen sind, haben sich eingefunden.“
„Ist irgendwie gruselig“ meinte Nicole.
„Ja, finde ich auch. Ich bin froh, dass du hier bist. Da kannst Du mir auch gleich helfen die Gläser waschen. Ich versorge die Leute hier mit Getränken und so.“
„Mach ich gerne“ sagte Nicole „aber irgendwie sieht mein t-shirt so in der Runde dann blöd aus, sind alle so zurechtgemacht, und ich…“
„Klasse,“ lachte Morgana „wir machen Partnerlook. Oma hat mir die gleiche Bluse noch in ockergold mit schwarzer Stickerei geschickt.“
„Hallo Nicki“ sagte Morganas Mutter, die plötzlich in der Tür stand.„Schön, dass du hier bist, da ist Morgana nicht so allein.“
Esther sah müde aus, aber auch wunderschön. Sie trug ein Kleid, das aus dem Kostümfundus eines Märchenfilmes stammen konnte. Nachtblau war es, mit silbernen, abnehmenden, zunehmenden und vollen Monden bestickt und die kleinen durchsichtigen Steine dazwischen glitzerten wie Sterne. Ihr feuerrotes Haar hatte sie hochgesteckt und unter ihrem Scheitel, mitten auf der Stirn, hing ein Amulett, das drei weibliche Gesichter in einem zeigte. In der Mitte ein Frauengesicht, im linken Profil das Gesicht einer alten Frau und im rechten Profil das Gesicht eines jungen Mädchens.
Morgana griff Nicoles Hand und zog sie in ihr Zimmer. „Hier ist die andere Tunika, die schenke ich Dir. Sie passt auch viel besser zu dir als zu mir. Man braucht dunkles Haar dafür.“ Wow, dachte Nicole, ist das schön! Schnell machte sie sich frisch und zog die Bluse an. „Schade, dass ich keine langen Haare habe, dann könnte ich auch solch Blumen einflechten.“ meinte sie, als sie sich im Spiegel betrachtete.
Morgana nestelte eine der Blumen aus ihrem Zopf, befestigte sie auf eine Haarklammer und steckte sie in Nicoles Haar. Die Mädchen stellten sich gemeinsam vor den Spiegel und kicherten über ihre Verwandlung.
Sie waren so gleich und so gegensätzlich und sahen so schön aus, es schien, als betonte die eine mit ihrer Schönheit die Schönheit der anderen.
Viel Zeit, sich an ihrem Aussehen zu erfreuen, hatten sie nicht. An die fünfzig Gläser waren zu spülen, zu trocken und viele Teekannen und Wasserkaraffen zu befüllen.
Morgana verteilte verschiedenen Teesorten auf die Kannen und Nicole goss das kochende Wasser auf.
„Was sind das denn für Tees?“ fragte sie.
„Ach, das ist unterschiedlich. Die Frauen, die alten Hexenbräuchen anhängen, trinken gerne Beifußtee, das soll sie in ihrer Hellsichtigkeit unterstützen. Andere trinken gerne ajurvedische Teemischungen mit Fenchel oder arabische Mischungen mit Zimt, andere wieder lieber grünen,schwarzen oder weißen Tee.“
„Und deine Mum?“
„Kaffee!“
Stimmengewirr beendete das Gespräch der Mädchen, die Teilnehmer der Besprechung waren zurückgekehrt und die Mädchen nun damit beschäftigt, sie mit Getränken zu versorgen, verbrauchtes Geschirr wegzuräumen und Nachschub zu bringen. Als Nicole gefüllte Wasserkaraffen in den Schulungsraum trug, blieb sie, um Unruhe zu vermeiden, solange im Raum, bis der Redner, einer der Herren im Anzug, seine Ansprache beendete.
„Wir alle hier kommen aus verschiedenen Schulen und werden uns wohl nicht auf die damalige Bedeutung der Säulen einigen können. Wir sollten nun nicht länger darüber diskutieren, ob diese Säulen nun für das höhere und für das niedere Ego, für den schwarzen und den weißen Gott, für das männliche und das weibliche Prinzip, für Chochma und Sefira, also Weisheit und Intelligenz steht; oder ob die Säulen symbolisch das Universum trugen.
Was wir wissen ist, dass sie von Hiram-Abi aus Tyrus, einem Phönizier also, erbaut wurden und dass sie als nicht tragende Säulen im Vorhof des Tempels standen. Sie hatten somit eindeutig einen dual-symbolischen, wenn nicht sogar einen magischen Zweck. Weiter ist unstrittig, dass mit der Babylonischen Eroberung Jerusalems im Jahr 586 v.Chr. Stadt und Tempel zerstört wurden. Anzunehmen ist, dass diese Säulen, die ein technologisches Wunder waren, als Kriegsbeute nach Babylon gelangten. Da die damalige Bevölkerung ebenfalls nach Babylon deportiert wurde, lässt sich nachvollziehen, warum keine weitere Kunde von diesen Kultgegenständen vorhanden ist.
Der Hauptgott der Babylonier war Marduk, welcher die Urmutter Tiamat in zwei Hälften spaltete und aus ihr Himmel und Erde schuf . Gemeinsam mit seinem Vater Ea schuf er aus dem Blut des Chaosdrachens Kingu und aus Lehm den Menschen.
Es gibt noch viele duale Elemente in dem zu finden, was wir über diese Religion wissen, genug, um sicher zu sein, dass die Säulen in das Heiligtum des Marduk gelangten.“

Nicole fand das alles sehr aufregend, so interessante Leute, aber irgendwie komisch. Immer, wenn sie mit Morgana allein in der Küche war, ließ sie sich etwas über die Teilnehmer erklären. So wusste sie nun, dass die englisch sprechenden Frauen in schwarz, die mit den Kruzifixen, aus Amerika kamen und sich christliche Hexen nannten. Sie versuchten, Christentum und Hexerei zu praktizieren. Die zwei Herren in Anzügen, die Abzeichen im Revier trugen, waren Freimaurer aus verschiedenen Logen. Die Frauen in den weißen Leinenkleidern nannten sich „die Dienerinnen Gajas“ und beteten in Felsgrotten zur Erdgöttin. Sie hatten eine ökologische Gartenbau-Genossenschaft gegründet.

Als sie wieder frisch gebrühten Tee in den Raum trug, sprach gerade eine der Frauen mit den vielen Silberketten über ihre Visionen.
„Jede Nacht träume ich denselben Traum. Ich sehe zwei Säulen aus Metall, im Abendrot schimmernd. Zwischen ihnen steht ein Mensch und aus jeder Säule kommt ein langer Blitz, der den Menschen trifft und ihn vernichtet. Ich sehe die Säulen am Euphrat stehen, sehe sie am Persischen Golf, sehe, dass sie die Ursache von Seebeben im Indik sind und riesige Sunamis verursachen. Dann sehe ich sie, schon kleiner geworden, über dem Atlantik kommend in der Nordsee Sturmfluten verursachen. Das letzte, was ich sah, die Säulen sind den Rhein entlang über Nebenflüsse bis in dieses Städtchen gekommen. In meinem Traum werden die Säulen kleiner, aber die Blitze aus ihnen sind groß und vernichten den, den sie treffen.“
„Meine Vision ist anders.“ sagte eine der christlichen Hexen. „Ich sehe eine menschliche Gestalt vor der Säule mit Namen Boas sitzen und eine andere vor der Säule Jachin. Sprechen die Menschen gemeinsam ein Wort, schleudern beide Säulen Blitze, die ein gemeinsames Ziel in dieser Stadt treffen. Spricht jeder für sich, dann flammen kleine Blitze, wie Stromschläge etwa, und wenn sie gegensätzliche Worte sagen, dann treffen sich die Blitze am Himmel und wandeln sich in Polarlicht. Fragt mich bitte nicht, was das bedeutet.“

Als die Tagung vorbei war, zogen sich die Mädchen todmüde in Morganas Zimmer zurück.
Nicole fiel ein, dass sie Morgana eigentlich die Erlebnisse des Tages, die ihr so zugesetzt hatten, erzählen wollte. Aber nach dem, was sie dann erlebt hatte, waren die plötzlich ganz unwichtig geworden und nun, da sie sich in das Gästebett kuschelte, waren ihr andere Gesprächsthemen lieber.
„Bist du auch eine Wicca?“ fragte Nicole.
„Nein, ich bin nichts.“ antwortete Morgana.
„Gibt es da keinen Ärger mit deiner Mutter?“
„Nicht doch, ich muss meinen Weg selbst finden.“
„Weißt du schon, was dein Weg ist?“
„Nein, noch nicht. Hab aber auch noch gar kein Bedürfnis, den zu suchen . “
„Na, wirklich zaubern zu können fänd ich nicht schlecht.“ meinte Nicole.
„Wicca zaubern nicht, sie beschwören. Wenn du so willst, ist es eine Form, sich der richtigen Wünsche bewusst zu werden, die zu formulieren und dann danach zu leben.“
„Wenn ich eine Wicca wäre, würde ich mir wünschen, dass mein Vater und meine Mutter wieder ein Paar wären.“ überlegte Nicole.
„Ich glaube, das wäre kein richtiger, guter Wunsch“ erwiderte Morgana gähnend.
„Warum möchtest du das eigentlich?“
„Dann wäre meine Mutter nicht mehr allein und nicht mehr so traurig. Und ich hätte meinen Vater wieder.“
„Dann ist dein eigentlicher Wunsch wohl, dass deine Mutter gesund und glücklich wird und dass dein Vater mehr Zeit mit dir verbringt.“
„Hmm, vielleicht…“
„Mehr zu wünschen doch nicht mehr dein Thema, sondern das deiner Eltern.. Sieh mal, Nicki, was ich gerade mache“ sagte Morgana und zeigte Nicole dicke Hefte im A4 Format, deren feste Einbände sie mit Leder bezogen und verziert hatte.
„Hübsch, wirklich hübsch.“ meinte Nicole.
„Die verkaufen wir im Laden als „Buch der Schatten“ und „Buch der Wünsche“.
Da kann man dann seine Wünsche oder Zaubersprüche reinschreiben. Kannst dir eins aussuchen.“
„Toll“ sagte Nicole, ist ja richtig schwer sich zu entscheiden. Ich nehme das hier.“ Sie griff zu einem Heft im blauen Ledereinband, der mit Pentagrammen und Blüten appliziert war.
„Ich habe auch was für dich“, schau mal, hab ich ertrödelt.“ Sie kramte in ihrer Tasche und reichte Morgana die kleine Blechschachtel, die sie für sie bestimmt hatte.
„Ohh, süß, ich liebe ägyptisches…“ dann öffnete Morgana die Schachtel und pfiff leise. „Der sieht ja edel aus! Mit dem schreib ich mein Tagebuch, der ist für die Schule zu schade.“
„Ich hab auch so eine Schachtel für mich gekauft.“ erzählte Nicole. „Tagebuch schreiben ist eine gute Idee, das hier wird mein Tagebuch werden.“
Darauf konnte Morgana schon nicht mehr antworten, sie war eingeschlafen.
Nicole lauschte noch auf die murmelnden Stimmen der Frauen, die nach der Versammlung noch geblieben waren um sich auszutauschen und das Geräusch brachte ihr den Schlaf, bevor sie sich Gedanken über das Erlebte machen konnte.

Nicole erwachte noch vor Morgana. Sie dachte kurz an den gestrigen Tag, dann stand sie auf, setzte sich an Morganas Schreibtisch und schrieb die ersten Sätze in ihr Tagebuch:
Lieber Schattenwunsch, gestern war ein ganz unglaublicher Tag. Und gestern habe ich Dich, schönes Buch und diesen wunderbaren Füller bekommen. Ihr werdet mir nun helfen, meine Wünsche festzuhalten, dass ich lerne, was „richtiges wünschen“ ist.
Morgana erwachte und Nicole schloss ihr Tagebuch. Sie begann, ihre Sachen zusammen zu packen, überlegte kurz, ob sie die schöne Tunika wieder anziehen sollte, entschied sich aber dagegen, weil sie noch den wöchentlichen Besuch im Krankenhaus machen wollte. Mum würde bei einem neuen Kleidungsstück gleich an Dad erinnert werden, dachte sie, über den will ich lieber nichts erzählen.
Am Montag hatte Nicole fast verschlafen und sie musste das letzte Stück zur Schule rennen, um nicht zu spät zu kommen. Erste Stunde bei der Krassnik, da würde Zuspätkommen gleich eine mündliche Leistungskontrolle nach sich ziehen. Und die setzt die Schwierigkeit dann oft genug höher an, als im Unterricht.
Als Nicole die Klassentür öffnete, wurde sie von dem verhassten Wiehern empfangen. Morgana lächelte sie an. Sie tuschelte Nicole zu, dass Frau K. schon in der Klasse war, aus dem Fenster schaute und sagte: Da kommt ja Nicole angetrabt, ach was sag ich, Trab, das ist eindeutig Galopp.
„Morgana, so redefreudig am frühen Morgen, da machen Sie doch bitte hier vorn weiter, Leistungskontrolle.“
Abends saß Nicole an ihrem Schreibtisch und nahm bedachtsam den Füller aus seinem Behälter. Er faszinierte sie noch immer, er sah so edel aus und lag so gut in der Hand. Sie öffnete ihr Tagebuch und schrieb:
Lieber Schattenwunsch, mein Tag heute war wie alle Tage sonst auch.
Ich hatte heute bei meinem Vater angerufen und von seiner Anna erfahren, dass sie nun doch keine Hochzeitsfeier machen, weil sie lieber nach Vegas fahren und dort heiraten wollen. Na, da wünsche ich ihr, dass sie ganz schnell reif wie mein Vater wird.
In der Schule wurde ich von meinen Mitschülern gehänselt, aber das ist ja nichts Neues. Ich weiß nicht ganz, ob ich meiner Wahrnehmung wirklich trauen kann, aber wenn Frau Krassnik die ständigen Bemerkungen über mich in der bösen Absicht macht, die ich vermute, dann wünschte ich, dass sie die ganze Wucht ihrer Gemeinheit am eigenen Leibe zu spüren bekommt.
Lisa war heute auch wieder sehr einfallsreich, wie sie sich in den Mittelpunkt spielen kann und dabei andere zu blamieren versucht ist schon erstaunlich. Ihr höhnisches Grinsen, wenn ich bewiehert werde, ihr schadenfrohes Lachen, als Morgana sich heute in der brutalen Leistungskontrolle recht und schlecht über Wasser halten konnte. Ich weiß ja nicht, woher sie ihre Selbstverliebtheit nimmt, aber wenn sie das verlieren würde, was bliebe dann wohl von ihr übrig? Ich wünschte, ihr Aussehen würde ihrem Charakter entsprechen, dann wäre vieles leichter.
Über Tanja mag ich mir gar keine Gedanken mehr machen, früher war ich enttäuscht über sie, weil sie mich so aufgegeben hatte, aber jetzt ist sie mir egal. Vermutlich wäre es für sie lehrreich, auch einen Verlust zu erleben, damit sie nicht so gemein mit Menschen umgeht, die ihr mal was bedeutet haben.
Den Blödmännern, die ständig wiehern um mich zu ärgern, wünschte ich , dass sie am eigenen Leibe erfahren, wenn ihnen solch eine Missachtung ihrer Person entgegenschlägt.

Schattenwunsch, hab vielen Dank für die Geduld, mit der du meinen Frust aufnehmen musstest . Es tat gut, sich mal auszuschütten und ich verspreche, es nicht wieder zu machen.
Es wäre schön, wenn es meiner Mum wieder besser ginge
Am Dienstag fiel die Französischstunde aus, weil Frau Krassnik nicht in die Schule kam. Weder Morgana noch Nicole waren darüber traurig. Die Jungen sprachen laut über eine Fernsehsendung, in der Kandidaten für ein neues Sendeformat gesucht wurden. Die Teilnahme schien ihnen erstrebenswert und sie beschlossen, statt in der Schule herumzusitzen, sich dem Auswahlverfahren zu stellen. Die Mädchen hatten noch Sportunterricht. Sie waren gerade im Umkleideraum, da schrie Tanja plötzlich auf und hielt entsetzt ihre Haarbürste hoch, die voller Haare war.

Am Nachmittag erhielt Nicole einen Anruf von ihrer Mutter, wie es ihr ginge, wollte sie wissen und ob sie auch regelmäßig essen würde. Nicole freute sich über diesen Anruf, den sie als Zeichen nahm, dass ihre Mutter sich langsam aus den Fängen der großen Traurigkeit befreien würde. Sie rief gleich danach Morgana an, um es ihr zu erzählen. Auch Morgana war froh über diese Nachricht, ihr letzter Satz war: „Siehst du, man muss es sich nur richtig wünschen.“

Mittwoch früh betrat die Direktorin den Klassenraum und teilte den Schülern mit, dass Frau Krassnik einen Unfall hatte und verstorben ist. Lisa hatte die Tageszeitung dabei und las den Unfallbericht von der letzten Seite vor, in dem stand, dass die erfahrene Sportreiterin Sybille K. gestern Nachmittag von ihrem scheuenden Pferd Nicola gegen den Kopf getreten wurde und noch am Unfallort an ihren Verletzungen verstarb.
„Zeig mal her“, sagte Tanja und beugte sich über die Zeitung. Dabei fiel ihr Haar vor und legte einen kreisrunden kahlen Fleck auf ihrem Kopf frei, der ihr höhnische Bemerkungen von einigen Klassenkameraden einbrachte.
Ein ungutes Gefühl überkam Nicole und sie sah Morgana an, die ebenfalls betroffen guckte.
„Die Arme!“ meinte sie. „Wenn sie auch fies war, sterben hätte sie ja nicht gleich gemusst.“
Morgana nickte. „Hast du gesehen, Tanja bekommt eine Glatze!“ „Ja, und schau mal, Lisa hat plötzlich ganz viele riesige Pickel im Gesicht, so große habe ich ja noch nie gesehen.“
„Also, ich weiß nicht ob das mit rechten Dingen zugeht. Du bist Dir sicher, dass die Wunschbücher, die du machst, keine wirklichen Zauberbücher sind?“
„Warum fragst Du, hast du dir so was gewünscht, fette Pickel für Lisa und kahlen Kopf für Tanja?“
„Nee, nicht so direkt, aber ich habe über sie geschrieben und über die Krassnik.“
„Über die Krassnik habe ich auch geschrieben.“ stellte Morgana fest. „Sie sollte mal soviel Bosheit am eigenen Leibe erfahren.“
„Mein Wunsch war so ähnlich“ meinte Nicole. „Ob das was mit den komischen Säulen zu tun hat?“
„Wo sollen die sein, hast du je vor einer gesessen, ich nicht?!“
„Ich weiß ja auch nicht, wir können ja den Religionslehrer fragen, was der über die Säulen weiß. Am besten, wir fragen gleich beide, jeder einen.“
Die Jungen erzählten laut von ihren Erlebnissen beim Casting, wie toll das war, alles ganz easy, und schon heute Abend wird es ausgestrahlt.

Am Nachmittag bekam Nicole wieder einen Anruf von ihrer Mutter. Sie erkundigte sich nach Nicoles Befinden und berichtete von der Arbeitstherapie, die sie begonnen hatte, Malen und Gestalten. Sie hätte nie gedacht, dass ihr das liegen würde.
Froh rief Nicole Morgana an, um ihr wieder davon zu erzählen und um sich über die Gespräche mit den Religionslehrern auszutauschen. Morgana meinte, sie solle den Fernseher anschalten, auf dem Sender TAS kämen gleich die Blödmänner aus ihrer Klasse, sie hätte das Aufzeichnungsgerät schon programmiert. Und dann berichtete sie:
„Also, wegen der Säulen, der Herr Euler hat gesagt, dass die Säulen aus Kupfer waren, helles Kupfer und dunkles Kupfer. Hast du noch was bei Frau Schmitt erfahren können?“ wollte Morgana wissen.
Als Nicole das hörte, bekam sie so ein Zittern in den Knien, das sie sich setzen musste.
Im Fernsehen sah sie, wie Jannik, der Junge, der ihr in der Klasse am meisten zusetze, erfuhr, dass er in der Sendung als Tieranimateur eingesetzt würde. Er solle den Hühnern zeigen, wie sie zu gackern hätten, damit diese das aufs Stichwort täten. Jannik gackerte aus Leibeskräften und wurde dafür vom Moderator mit Lob bedacht. Dann steigerte man die Leistungsforderung und nun sollte er die Hühner dazu bringen, aufs Stichwort Eier zu legen. Nicole konnte nicht fassen, was sie sah. Merkte der nicht, dass man sich über ihn lustig machte?
„Morgana, Frau Schmitt hat mir einen ellenlangen Vortrag gehalten, warum ich mich nur für so unwesentliche Dinge wie die metallenen Säulen vor Salomons Tempel interessiere, wo die Bibel so viel Interessantes zu bieten hat.
Aber jetzt habe ich eine Vermutung. Versprich mir, nicht mehr mit dem Füller zu schreiben, den ich dir geschenkt habe.“
„Och warum? Der ist toll, so was hatte ich noch nie! Warte mal, hast du nicht gesagt, du hast auch einen? Ist deiner etwa von anderer Farbe?“
„Ja, dunkler.“ antwortete Nicole.
„Ach du Scheiße!“
„Hab ich auch gedacht.“
„Sind wir etwa Schuld, dass die Krassnik ...?“
„Ich komme am Freitag mit zu dir nach Hause, da können wir ja deine Mutter um Rat fragen. Ich bringe mein Tagebuch mit, du wirst deins wohl auch zeigen müssen.“
„Na super, wer zeigt seiner Mutter schon gern sein Tagebuch. Aber in so einem Notfall…klar.“

Am nächsten Morgen gab es Unruhe auf dem Schulhof. Jannik wurde von den Schülern der Nachbarklassen ausgelacht, alle hatten diese Sendung gesehen, sie machten seine Eierlegebewegungen nach und gackerte ausgelassen. Anfangs nahm Jannik es als Scherz hin, aber mit der Zeit nervte ihn das Gegacker sehr und er hatte Mühe, die Haltung zu bewahren.
"Vermutlich ärgert er sich jetzt über seine Dummheit, an diesem Casting teilgenommen zu haben." tuschelte Morgana ihrer Freundin ins Ohr.
Lisa war heute gar nicht in die Schule gekommen, Tanja schon, aber sie hatte ein Tuch fest um den Kopf gebunden. Darauf angesprochen, brach sie in Tränen aus und erzählte schluchzend, dass sie ihre Haare verloren hätte.
Nicole tat das so leid, dass sie beinahe mitgeweint hätte. Das schlechte Gewissen plagte sie, den das Gefühl ließ sie nicht los, dass die Visionen der Frauen im Esoterikladen und die Füller irgendwie zusammenpassen.
Morgana nickte verstehend, als sie zu ihr von ihren Schuldgefühlen sprach.

Am folgenden Morgen hatten die Schüler der anderen Klassen nun auch Grund, sich über den schönen Ole lustig zu machen, der sich als Ziegenanimateur versucht hatte.
Lisa kam noch immer nicht zum Unterricht,aber Tanja war bewundernswert,meinte Morgana. Sie war trotz ihres Missgeschicks zur Schule gekommen.
Irgendwie war das alles traurig, fand Nicole. Aber irgendwie auch schön, dass niemand in der Klasse stänkerte. Nicole wurde nicht gehänselt und es fiel auch niemanden aus der Klasse ein, dumme Bemerkungen über die Missgeschicke der anderen zu machen.

Nachmittags las Esther Nicoles Tagebuch und sah sich dann die Eintragungen von Morgana an. Erstaunt betrachtete sie die beiden Füller.
„Und du sagst, deiner Mutter geht es jetzt besser?“
„Ja, zum Glück.“ Antwortete Nicole.
"Hmm, habt ihr beide gewünscht für sie. Und schaut mal, hier hat Morgana geschrieben; Die Krassnik sollte mal am eigenem Leib ihre Bosheit erfahren, Nicole hat geschrieben: wünschte ich, dass sie die ganze Wucht ihrer Gemeinheit am eigenen Leibe zu spüren bekommt.
Ich glaube nun auch, ihr hattet hier ein gefährliches magisches Gerät in den Händen, aber getötet habt nicht ihr die Lehrerin, sondern ihre Bosheit. Leider hatte sie nun nicht mehr die Chance sich zu wandeln und freundlicher, ausgeglichener zu werden, was bestimmt irgendwann geschehen wäre.
Aber den anderen wird wohl noch zu helfen sein, falls die Füller wirklich aus Jachin und Boas gemacht wurden. Wie geht es eigentlich der jungen Braut deines Vaters?“
„Warum fragst du das denn jetzt?“ wollte Morgana wissen.
„Na schau doch mal, was Nicki hier geschrieben hatte: Na, da wünsche ich ihr, dass sie ganz schnell reif wie mein Vater wird. Das hört sich doch an, als altere sie mal schnell mehr als dreizig Jahre."
„Ich ruf da an“ sagte Nicole, „das lässt mir jetzt keine Ruhe.“
„Hallo Dad,“ grüßte Nicole am Telefon. „Ich wollte mal wissen, wie es euch so geht. Ihr fahrt doch bald nach Vegas, nicht wahr?“
„Ach Mäuschen, das ist ja nett, dass du anrufst, die Anne ist im Krankenhaus. Sie hat ganz plötzlich starke Schmerzen bekommen und konnte sich kaum noch bewegen. Den Ärzten ist sie ein Rätsel. Jeder vermutet was anderes, Rheuma, MS, alles schlimme Sachen. Die arme Anne, so jung und so krank, wenn ich ihr nur helfen könnte.“
Nicole hatte genug gehört. Sie verabschiedete sich und ließ Anna einen Gruß bestellen.
„Können wir das rückgängig machen?“ fragte sie hoffnungsvoll Esther.
„Ich weiß nicht, ich überlege gerade.“
Morgana fragte: “Die Vision von dieser christlichen Hexe, wie ging die noch mal?“
Nicole begann zu zitieren: "Sprechen die Menschen gemeinsam ein Wort, schleudern beide Säulen Blitze, die ein gemeinsames Ziel in dieser Stadt treffen. Das Ziel war Frau Krassnik und meine Mum, da hatten wir gemeinsame Worte, zwar nicht gesprochen sondern geschrieben, aber beide haben wir der Krassnik was Schlechtes und meiner Mum was Gutes gewünscht."
Morgana nickte und ergänzte: "Spricht jeder für sich, dann flammen kleine Blitze, wie Stromschläge - das ist dann wohl der Mist, den die jetzt durchmachen, Lisas Pickel, Tanjas Haare, Annas Rheuma, und die Blamage im Fernsehen.
Aber was bedeutet nun: und wenn sie gegensätzliche Worte sagen, dann treffen sich die Blitze am Himmel und wandeln sich in Polarlicht?"
Esther überlegte: „Nicole hat ihre Worte schon gesprochen, jetzt sollte Morgana mit ihrem Füller gegensätzliches Schreiben, damit die Kraft nicht gegen die Person wirkt sondern verpufft. Nicole, hast hier geschrieben: Na, da wünsche ich ihr, dass sie ganz schnell reif wie mein Vater wird. Was wäre ein gegensätzlicher Wunsch?“
„Das sie ewig ein junges Mädchen bleibt?“ schlug Nicole als gegensätzlichen Wunsch vor.
„Als Gegensatz formuliert, schreib auf,Morgana: Ich wünsche Nicoles Vater, dass er sich lange an Annas Jugend erfreuen kann."Esther atmete tief ein. "So, nun zu Lisas Problem. Hier steht: Ich wünschte, ihr Aussehen würde ihrem Charakter entsprechen, dann wäre vieles leichter.“
„Wenn ich jetzt schreiben würde, ich wünschte, ihr Charakter wäre wie ihr Aussehen, würde sie die Pickel wohl nicht mehr los werden.“ kicherte Morgana.
„Ich wünschte, dass ihr Charakter so freundlich wird, wie ihr Gesicht hübsch war.“schlug Nicole vor.
Esther drängte:„Jetzt zu Tanja, das ist nicht so einfach. Hier steht: Über Tanja mag ich mir gar keine Gedanken mehr machen, früher war ich enttäuscht über sie, weil sie mich so aufgegeben hatte, aber jetzt ist sie mir egal. Ich wünschte, sie würde einen Verlust erleben, damit sie nicht so gemein mit Menschen umgeht, die ihr mal was bedeutet haben.“
Morgana sagte, ach das ist leicht und schrieb :„Über Tanja mache ich mir viele Gedanken, sie ist mir nicht egal. Ich wünschte, sie würde eine Bereicherung aus dem Umgang mit den Menschen, die ihr früher was bedeutet haben erleben.“
„Was ist mit den Jungs?“ fragte Esther.
„Och, die Jungs können das durchstehen.“ meinte Nicole.
„Genau, die brauchen das.“ ergänzte Morgana.
Esther zuckte mit den Schultern und musste lächeln. "Vermutlich stimmt das." meinte sie.
„Was machen wir nun mit den Füllern?“ fragte Nicole.
„Ohh, nein, ich möchte meinen nicht hergeben,“ quengelte Morgana. “Der schreibt so gut. Wenn ich damit nichts mehr wünsche, kann ich den dann behalten?“
„Ist zu gefährlich, wir müssen die Federhalter loswerden.“ bestimmte Esther.

Am nächsten Morgen, in aller Frühe, standen Esther, Morgana und Nicole auf der Brücke und warfen feierlich die Füller in den Fluss.
Flussabwärts angelte ein älterer Mann nach Fischen.

ENDE


Fakten


Jachin und Boas waren die Namen, die den beiden Säulen am Tor zum Eingang vom Tempel in Jerusalem gegeben wurden. König Salomo hatte sie nach biblischer Überlieferung von Hiram Abif, dem aus Tyros stammenden Architekten des Tempels anfertigen lassen.
• Rechte Säule: Jachin (Heb.: יָכִין ) (Bedeutung: „Ich (Gott) werde aufstehen!“ oder „Ich werde aufrichten!“, Grundverb: „kum“, Kof, Waw, Mem))
• Linke Säule: Boas (Heb.: בועז) (Bedeutung: „In ihm (Gott) ist Stärke!“)
• Erbauung: ca. 950 vor Chr.
• Zerstörung: 587 vor Chr. durch Babylonier nach Babylon gebracht
• Material: Bronze
• Höhe: je 18 Ellen (ca. 27 Fuß, 8,2 Meter)
• Umfang: je 12 Ellen (ca 18 Fuß, 5,47 Meter)
• Wandstärke: 4 Fingerbreit (ca 7,6 cm)
• Hohl

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 19.04.2010

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