Im Reich der Seelen …
Sabera stellte Drag einen Napf mit rohen Fleischbrocken unter die Nase.
Der junge Höllenhund blickte zunächst zu Jason rüber, als ob er sich eine Genehmigung zum Fressen holen müsse. Dann schielte er zu Sabera hoch, die ihm wohlwollend zunickte und endlich stürzte er sich auf das Fleisch.
„Du bist in den letzten vier Monaten mächtig gewachsen. Jason wird dich nicht wiedererkennen, wenn er endlich aus seiner schützenden Dragwelt herausfindet.“
Seufzend streichelte Sabera Drag über den breiten, weißen Hundekopf und betrachtete Jason, der äußerlich immer noch wie eine verkohlte Leiche aussah. Sie wusste, sein Hirn trug Leben in sich, denn gelegentlich blitzte es aus seinen toten Augenhöhlen.
So gerne wie sie einen Blick in die Zukunft geworfen hätte, ihre Anwesenheit war in jeder Hinsicht an diesen Ort gebunden …
Nachdem Jason nicht auf dem eigentlich vorbestimmten Weg die Welt der Hexen und Menschen gerettet hatte, war es Sabera Dugal, Hüterin aller lebenden Dragots in allen Welten, aus Sicherheitsgründen nicht möglich, durch die Zeit zu reisen.
Die umherschwirrenden Seelenbegleiter könnten und würden Jasons Seele eigenmächtig ins Reich des Übergangs entführen - und somit den endgültigen Tod seines momentanen Lebens hervorrufen. Ein Umstand, den es unbedingt zu unterbinden galt.
So konnte sie nicht herausbekommen, wann er erwachen würde, denn dann könnte es zu spät sein um ihn in dieser Zeit zu retten. Tja, so könnte es im schlimmsten Fall Jahre dauern, bis er wieder erwachen würde!
Doch das ginge an diesem Ort ohnehin nicht …
Jason hatte die Zukunft verändert, sicher nicht unwiderruflich. Aber auf seinem ursprünglichen Weg wären seine Töchter Suja, Kaja und Elja durch Axas Fluch umgekommen. Es war nicht vorgesehen, dass Elja in der von Axa erschaffenen Blase noch bei Besinnung war. So konnte er die drei Seelenschreie seiner Töchter von denen der anderen sterbenden Wesen heraushören.
Ein Scharren an der Treppe des Tempels ließ Sabera aufhorchen, sie ging zu dem Durchgang, wo sie Charly erblickte.
„Endlich, warum hast du so lange gebraucht?“
‚Es ist nicht einfach, unerkannt in den Tempel der Dragots zu gelangen.‘
„Hast du die Heiligtümer?“
‚Ja, nimm sie mir aus der Tasche.‘
Der riesige Höllenhund legte sich zu Saberas Füßen. „Danke Charly. Geh dich stärken, dann mach dich wieder auf den Weg.“
‚Ich kann noch verweilen. Elaine schickte mich raus, um den vermeintlichen Spuren in der Unterwelt nachzugehen. Es ist nicht mehr lange zu verbergen, dass Jason hier ist, sie werden ihn finden.‘
Sabera überhörte den letzten Satz, denn sie wusste, keiner konnte ihnen hierher folgen.
„Wie geht es ihnen?“ Sabera reichte Charly, dem Höllenhund von Elaine, einen Trog mit Wasser.
‚Gesundheitlich sind alle wohlauf, nervlich eher am Ende. Jasons Töchter wissen, dass er nicht tot ist. Wie Wilde verfolgten sie jede noch so kleine Spur.‘
„Ich denke, es wird sich auch nicht ändern. Sei weiterhin vorsichtig. Ich möchte weder, dass sie erfahren, wo Jason ist, noch in welchem Zustand er sich befindet.“
‚Charlyn sollte aber - über kurz oder lang - Näheres erfahren. Sie driftet immer weiter ab, fühlt das Leid ihres Bruders. Ehrlich, sie ist von Allen am schlimmsten dran!‘
Sabera runzelte die Stirn. „Das glaube ich dir unbesehen. Doch so lange er sich nicht geistig mit mir auseinandersetzten kann, kommt niemand ihm zu nahe. Nicht auszudenken, was passiert, wenn sie ihn so sehen würde!“
‚Ich bräuchte auch Hilfe. Wie soll ich Rob den Panzer abnehmen? Er trägt ihn ständig.‘
Ja, dieser verdammte Dragpanzer … Rob hätte ihn schon lange ablegen müssen!
Sabera seufzte leise und umwanderte die auf einem länglichen Podest stehende gläserne Wanne, in der Jason in einer durchsichtigen blauen Gelflüssigkeit lag, damit seine Seele nicht entweichen konnte.
Tief in Gedanken versunken grübelte sie über eine sinnvolle Lösung nach, während sie geistig abwesend mit ihrem Zeigefinger über den Wannenrand strich. Wie könnte sie Charly behilflich sein, ohne ihn begleiten zu müssen? Oder gab es einen anderen Weg Jason aus seinem derzeitigen Zustand zu befreien?
Niemals zuvor war sie so macht- und ratlos gewesen, denn selbst in ihrem Buch der Zukunft waren alle Seiten wie ausradiert. Jason hatte wirklich alles maßlos durcheinander gebracht … schrecklich …
Es lag nur eine Lösung auf der Hand … alle Aufrüster mussten hier her, komme was da wolle!
„Wir müssen den Panzer bekommen. Jason braucht sämtliche Dragheiligtümer, sobald er Kontakt zu mir aufnimmt. Und je eher sie parat liegen, umso besser“, murmelte sie sich selber zu.
Warum war ihr Kopf nur so leergefegt? Sie nahm das von Drag hergebrachte Drachenherz und legte es auf dem überstehenden Podest der Wanne ab. Daneben sortierte sie die anderen sieben Dragaufrüster. Es fehlte nur noch der Dragpanzer mit dem Stab der Drachen.
„Ich würde ja selber Zeitreisen, aber die Gefahr ist nicht einzuschätzen. Kann ich aus irgendeinem Grund nicht hierher zurückkehren, ist Jason verloren.“
‚Vielleicht geben deine Hexbücher eine Lösung dafür her, wie ich ihn dazu bringen kann, den Panzer abzulegen?‘
„Was glaubst du, hab ich in den letzten drei Monaten getan? Seit ich weiß, warum diese Heiligtümer überhaupt hergestellt wurden, zerbreche ich mir den lieben langen Tag meinen Schädel. Wir müssen den Panzer und den Stab haben … um jeden Preis!“
Charly neigte seinen Kopf auf die Seite. ‚Du schlägst damit aber nicht vor, dass ich Rob töten soll?‘
„Nein, so weit dürfen wir nun auch nicht gehen! Solange das Buch leer ist, müssen alle Familienmitglieder den höchsten Schutz erhalten.“
‚Was auch nur noch eine Frage der Zeit ist. Es geht im Hexenreich rum, dass Axa ihre Häscher zusammentrommelt. Rob ist auch drauf und dran, die Insel zu verlassen. Er will nach Dragonrock zurück.‘
Verständnislos riss Sabera die Augen auf. „Warum? Er weiß doch, dass die Insel nicht mehr sicher ist. Wie kann er nur so verantwortungslos sein?“
Charly stellte sich neben die gläserne Wanne. ‚Er rechnet sich mehr Chancen aus, etwas über Jason herauszubekommen.‘
Sabera winkte ab. „Als ob irgendein dahergeflogener Hexer etwas wüsste. Sobald Jason fit ist, bilde ich Robert zum Dragdaan aus. Seine Einstellung ist inakzeptabel. Er bringt uns nur noch mehr in Schwierigkeiten.“
Mit einem neuen Gedanken wandte Sabera sich ihrem Kräuterregal zu, sie suchte einen Behälter heraus und füllte etwas in ein Döschen ab.
„Mach dein Maul auf.“
Fragend hob Charly den Kopf. ‚Was ist das?‘
„Etwas, das Rob eventuell dazu veranlasst, den Panzer abzulegen.“
‚Was ist es?‘
Nein, Charly war nicht gewillt etwas in sein Maul zu nehmen, das er nicht kannte.
„Es sind Sandtierchen, sie verursachen einen unangenehmen Juckreiz auf der Haut. Du musst die Dose zerbeißen und die Tierchen Rob auf den Körper pusten.“
Charly zog grinsend seine Lefzen hoch. ‚Es wird mir eine Ehre sein, ihm im Namen von Jason eine volle Breitseite zu verpassen.‘
Trotz dem Ernst der Lage entlockten seine euphorischen Worte Sabera ein winziges Zucken im Mundwinkel, das fast einem Lächeln ähnelte. „Charly, du bist unmöglich. Pass bitte auf, dass du nichts von der Ladung einatmest. Die Sandrappern wirken auch innerlich. Falls du doch einige von ihnen in deinen Verdauungstrakt bekommst, friss Kohle oder abgebranntes Feuerholz. Das mögen die Tierchen nicht und verziehen sich.“
Sandrappern mit Nebenwirkungen, Charlys Ohren spitzten sich. ‚Wohin?‘
Mit einem durchdringenden Blick in seine schwarzen Augen streichelte sie dem Höllenhund übers Ohr. „Hinten raus, sie flüchten davor.“
‚Eine nette Vorstellung.‘ Charly schüttelte sich.
„Und sauf auf keinen Fall Wasser. Sonst blähen sie sich auf und wachsen in dir fest, bis sie dich innerlich sprengen.“
Ein überaus beeindruckender Kamm richtete sich auf Charlys Rücken auf, der vom Nacken bis zum Schweif reichte. ‚Ich habe mir gerade überlegt, ob nicht - einfaches Juckpulver - denselben Effekt bei Rob erzielen würde?‘
„Sicher, das ginge auch.“
Ach …
Entnervt rollte Charly mit seinen schwarzen Augen, denn das breite Schmunzeln von Sabera machte ihn stutzig.
‚Du hast mich veräppelt, es ist Juckpulver!‘
„Ja natürlich! Meinst du, ich verschwende meine süßen Sandrappern wegen eines Panzers?“
‚Na wenigstens ist dir bei all dem Durcheinander nicht der Humor abhanden gekommen!‘
Mit großem Appetit stärkte Charly sich für den Rückweg und vor dem Tempel steckte Sabera ihm dann das verpackte Juckpulver in die Backentasche.
„Verschluck es nicht! Schlimm wäre es nicht, aber schade um den verpassten Versuch.“
Er nickte und hob ab.
„So, nun sind wir wieder allein.“ Sie setzte sich vor die Wanne und wiederholte ihr alltägliches Ritual der Seelenerweckung. Und wie jedes Mal musste sie es abbrechen, weil sie nicht durch die Barrikade seines letzten Drags dringen konnte.
Ausgelaugt legte sie ihren Kopf in den Nacken. „Warum kommst du nicht zurück?“
Was keiner wusste, der Drag, den Jason zur Rettung der Welt benutzt hatte, hielt ihn nun vom realen Leben ab. Zum Schutz seines Gedankenguts umhüllte der Drag sein Gehirn wie eine undurchdringliche, stählerne Schicht.
Und Sabera konnte diese Schutzschicht bisher nicht mal ansatzweise ankratzen.
Sie legte ihren Arm auf den Wannenrand und hielt ihre Hand in das blaue Gel, berührte sanft seine knochigen, kalten Fingerspitzen. Ratlos starrte sie in sein totes eingefallenes Gesicht. „Wir hatten doch noch so viel vor. Komm zurück mein alter Freund, das Kasino erwartet uns!“
Im Direktflug steuerte Charly die Insel der Drachenahnen an und landete am Strand. Es war tiefste Nacht. Müde vom ewigen Hin und Her, blieb er im Sand liegen und schlief ein. Die Dose mit dem Juckpulver rutschte aus seinem Maul.
Am nächsten Morgen weckte ihn das Krakeelen der halbwüchsigen Drachenmädchen schon von Weitem.
Charly stand mit steifen Knochen auf und schüttelte seine Flügel gleich mit aus.
Suja war die erste, die ihn fand und sie informierte sofort ihre Schwestern.
Gähnend warf Charly einen Blick nach unten und schaute grummelnd auf die Dose. Er musste handeln, bevor die Drachengören ihn erreicht hatten. Schnell schnappte er den Behälter und erwischte gleich eine Schaufel voll Sand gratis dazu. Knirschend schob er die Dose wieder in die Backe und versuchte vergeblich den restlichen Sand mit seiner Zunge aus dem Maul zu schieben.
Elja rannte mit Speed auf den Höllenhund zu, bemühte sich in die Luft zu kommen und flatterte Charly ungelenk auf den Rücken. Sie wollte - wie schon so oft -, dass Charly sie auf sich reiten ließ, denn dann guckte sie immer ganz stolz und majestätisch umher.
Doch Kaja zerrte sie am Bein wieder runter.
Das hielt Suja nicht davon ab, Charly mit Wasser zu bespritzen.
Endlich erschien die Rettung vor den wilden Drachenhühnern, Antron kam zwischen den Palmen hervor. „Lasst ihn in Ruhe! Charly hat sicher Hunger und ihr nehmt überhaupt keine Rücksicht darauf!“
Betreten sahen die Mädchen Charly an, wollten an seinen Gesichtszügen ablesen, ob Antrons Aussage stimmte.
‚Recht hat er! Lasst mich erst was essen!‘
Suja blinzelte in den Sonnenaufgang. ‚Gut, geh. Aber nachher darf ich auf dir reiten, versprochen?‘
‚Vielleicht!‘
Dass die Drachenmädchen mit Charly telepathischen Kontakt hatten, wusste keiner. Selbst vor Rob blieb es geheim. Was Charly zu Anfang etwas verwundert hatte, wusste er doch, dass Rob ebenso wie Jason, sich mit seinen Gedanken unterhalten konnte.
Müßig trottete Charly, über seinen Auftrag und den wieder aufkeimenden Hunger nachdenkend, zum Haus. Musste er doch auch vor den Drachenladys sein wahres Wissen über Jasons Aufenthaltsort verheimlichen.
Elaine saß auf der Terrasse, die Charly wegen seiner Größe mühelos einsehen konnte. Schon von Weitem erkannte er die Sorgenfalten auf ihrer Stirn. Um sich den quälenden Fragen sofort zu entziehen, schüttelte er gleich den Kopf. Niedergeschlagen senkte Elaine ihr Gesicht und vergrub es in ihren Händen.
In den letzten Wochen hatte sie an Bauchumfang zugelegt. Die Hälfte der Schwangerschaft lag aber noch vor ihr.
Rob trat aus der riesigen Palmenhütte und stellte sich ans Geländer. „Wieder keine Spur?“, fragte er Charly, der darauf abermals verneinend den Kopf schüttelte.
„Elli, ich breche heute noch nach Dragotan auf! Die hohen Dragots müssen entscheiden, ob sie Sabera kontakten. Es kann nicht angehen, dass keiner weiß, wo Jason ist.“
Charly horchte auf, das war zum jetzigen Zeitpunkt das ungünstigste, was ihm passieren konnte. Sobald Rob herausbekam, dass alle Heiligtümer verschwunden waren, legte er den Panzer mit garantierter Sicherheit nie ab. So konnte Charly keinen günstigen Moment mehr abwarten, sondern musste handeln.
Doch auch der eventuelle schnelle Plan mit dem Juckpulver wurde vorübergehend behindert, denn Bilwer und Zakton landeten in diesem Augenblick auf der Terrasse.
An den Gesichtern der beiden Dragots konnte Rob sehr wohl ablesen, dass es sich nicht um einen Höflichkeitsbesuch handeln würde.
„Packt eure Sachen!“, verlangte Zakton.
Elaine guckte genau so überrumpelt wie Rob aus der Wäsche. „Warum?“, wollte sie wissen.
„Ihr zieht nach Dragotan um!“, brummte Bilwer.
Elaine klappte der Mund auf. „Und ich?“
„Du trägst zwei Drachenwandler unter deinem Herzen. Die hohen Dragots haben beschlossen, dass diese nicht hier, sondern auf Dragotan geboren werden sollen“, erklärte Zakton.
Trotz seines aufbrodelnden Blutes blickte Rob Bilwer überaus ruhig an. „So schön der Gedanke ist ... wir bleiben!“
Keiner durfte sich ihm und dem Entscheid der hohen Dragots widersetzen, Bilwer konnte nicht glauben, was er da gerade gehört hatte. „Was ‚in Dragots Namen‘ erdreistest du dich, den hohen Dragots zu widersprechen? Kannst du die Tragweite deiner Worte fassen?“ Sein Gesicht lief unter seinem weißen Bart rosa an.
Doch Rob blieb unbeeindruckt. „Sicher kann ich das.“
Bilwer drehte sich zornig weg.
„Ich kann dir auch erklären, warum wir nicht nach Dragotan kommen.“
„Da bin ich aber gespannt!“, knurrte Bilwer.
„Ich ehre sehr, dass es Elaine gestattet wird, unsere Insel zu betreten, und wenn es auch nur wegen der ungeborenen Kinder ist. Wobei ich mir die Frage stelle, woher ihr wisst, dass es mehr als ein Kind wird?“
„Es sind zwei Tafeln neben Jason und Charlyn entstanden - noch unbeschrieben - aber da.“
Elaine schaute schmunzelnd zu Rob auf, denn bisher wollte er ihr auch nicht glauben, denn Zwillinge waren selbst im Hexenvolk eine Seltenheit.
„Fahre fort“, brummte Bilwer Rob an.
Rob stellte sich zu Raika. „Entschuldige!“, sprach er sie an und wandte sich Bilwer wieder zu. „Es ist mir möglich auf Elaine zu achten, doch mit ihr kommen zwei weitere Dragotinnen auf die Insel, davon eine geschlechtsreif.“ Dabei sah Rob Raika an. „Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass wir bisher mit der Männerwirtschaft auf Dragotan gut ausgekommen sind. Doch wenn plötzlich Frauen auf die Insel kommen, schürt das den Neid. Sicher, Charlyn ist aufgrund ihres Alters in der Lage, sich dessen zu entziehen. Aber Antron ist zu jung, um gestandene Dragots von Raika abzuwehren.“
Zakton grinste hinter Bilwers Rücken und nickte.
Antron sah das spöttische Grinsen des Friedhofswächters. „Danke auch!“, kommentierte er Robs Aussage.
„Halte du dich da raus!“, fuhr Rob Antron scharf an.
Bilwer atmete hörbar durch die Nase aus. „Sicher, das ist nicht von der Hand zu weisen. Aber ich kann nicht die Entscheidung treffen, dem allgemeinen Hexenweibsvolk den Zutritt auf die Insel zu gewähren. Das Risiko, dass sich unter den erwählten Hexen Wächter oder schwarzes Hexenpack befinden könnte, ist nicht einzuschätzen und darüber hinaus für mich unerträglich.“
„So sehe ich das auch“, murmelte Rob, während er sich ein Schmunzeln nicht verkneifen konnte.
Mit einem Patt standen sich die beiden Dragots gegenüber.
Diese sturen Drachendickschädel …
Obwohl es ihm wiederstrebte … Zakton ergriff das Wort, denn so kämen sie nicht auf ein sinnvolles Ergebnis. „Es geht aber kein Weg daran vorbei. Deine Hexe muss mitkommen!“
„Was fällst gerade du mir in den Rücken? Du solltest doch am besten wissen, wie recht ich hab!“, entrüstete sich Rob.
„Das ist mir klar, Rob. Aber solange Jasons Körper nicht auftaucht, wird es für euch hier immer schwerer.“
Elaine sprang wütend auf. „Wie kannst du es wagen, so über Jason zu sprechen, als ob er schon ...“ Das Satzende kam nicht über ihre Zunge, denn das Wort ‚tot‘ wollte sie im Zusammenhang mit ihrem Sohn nicht aussprechen.
Zakton rollte mit den Augen, auch wenn er Elaine verstand, musste gehandelt werden. „Viel mehr ist er momentan ja auch nicht. Doch Axa ist weiterhin tätig. Die kappt gerade fleißig alle Versandhexereien, torpediert die Rattenpost und eine Menge Wächter glauben, wenn sie überlaufen, ihren Arsch zu retten. Dragotan ist wieder sicher, was dir Rob bestätigen kann. Diese Insel ist es über kurz oder lang nicht mehr.“
„Warum nicht?“, wollte sie wissen und fügte hinzu: „Das hier ist die Insel der Dragahnen. Selbst die Nebeldrachen konnten ihr nichts anhaben. Da beißt Axa sich die Zähne dran aus.“
Tja, auf dieser Insel bekam Elaine die Neuigkeiten leider nicht mit, Zakton schüttelte den Kopf. „Nun, Axa hat einen Fehler gemacht. Mit den Wächtern hat sie keinen guten Fang getan. Trotz der Stärke der Wächter, hat sie eines übersehen. Einem brachte sie zu viel Vertrauen entgegen und dieser las in ihren Gedanken. Und wie wir alle wissen, hängen die Wächter mit ihren Hirnen zusammen. So wussten alle übergelaufenen Wächter Bescheid.“
Elaine schaute auf. „Ja und?“
Zakton grinste hämisch. „Nun ja, sagen wir es mal so. Vor Kurzem ist mir einer dieser Wächter über den Weg gestolpert, und ich kam nicht umhin, ihn von meinem Seelenblick zu beeindrucken. Axa war uns damals auf den Fersen, sie kannte also den Tunnel, den wir nahmen. Nicht unbedingt das Ziel, aber die vage Richtung. Nun sind ihre Häscher mit Booten unterwegs und suchen euch.“
„Die Insel ist schon lange abgeschottet. Jede Strömung wird magisch umgeleitet!“, entgegnete Elaine trotzig.
„Das ist zweifelsohne gut. Aber bist du dir absolut sicher, dass jeder Zentimeter mit Hexerei versiegelt wurde? Auch auf Dragonrock ist es den höchsten Harmwächtern nie gelungen, die Insel gänzlich zu versiegeln.“
Zakton sah Elaine in die Augen, erkannte den aufkeimenden Zweifel in ihrem Blick. „Ihr seid nirgends mehr sicher. Nur unsere Insel ist wieder unauffindbar, dank eines Dragdaan.“
Rob wusste sofort, dass Zakton von sich selber sprach. War er doch nach Jasons Verschwinden an seiner Seite und versiegelte das Tor zur Dämonenwelt.
Dragotan glich einer durchsichtigen Festung. Uneinnehmbar und sicher der schwerste Stein, der Axa auf der Seele, so sie eine hatte, brannte.
Gab es keinen anderen Weg? Rob musterte die beiden Dragots, bevor er sich seinem Hexenweib wieder zuwandte. „Ich muss gestehen, er hat Recht. Kein noch so kleiner Fleck, egal in welcher Welt, ist so sicher wie Dragotan.“
Nun steuerte auch Bilwer wieder etwas hinzu. „Die Welten stehen vor einem Wandel, man nimmt die Verbindung mit Axa langsam hin, nur um ihren Zorn nicht zu erregen. Allen Sehern ist bekannt, die Zukunft wurde durch Jason verändert. Die Schriften der Prophezeiungen sind leer. Kein Seher ist in der Lage vorauszuschauen, und das zieht sich aller Wahrscheinlichkeit nach solange hin, bis Jason endlich wieder auftaucht!“
Derweil auf einem anderen Fleck dieser Erde …
„Herrin, wir haben die Insel gesichtet. Wie Sie vermutet haben, steht die Versiegelung nicht im korrekten Verhältnis.“
„Ich habe nichts vermutet!“, schrie Axa den Wächter an. „Wie gelangen wir auf die Insel?“
„Nur über den Seeweg. Von oben ist sie nicht einzunehmen, da sie unauffindbar ist, sobald man empor fliegt.“
„Wenigstens etwas. Wir brechen sofort auf!“ Ein teuflisches Lächeln umspielte ihren Mund. „Bald habe ich mein Ziel erreicht. Nichts und niemand kann mich jetzt mehr aufhalten. Sobald er wieder unter uns weilt, wird der Bengel ‚verdammt noch mal‘ endlich das Schlüsselelement zu meinem Plan.“ Zügigen Schrittes verließ Axa ihr düsteres Schloss, in dessen Grottensystem Jasons Großmutter, Vanilla McPowerstone, den endgültigen Tod durch ihre Hand gefunden hatte.
Ohne sich durch irgendetwas aufhalten zu lassen betrat Axa den Steg zu ihrem gewaltigen Drachenschiff. „Hievt den Anker. Eine widerspenstige Familie erwartet meinen Besuch“, fuhr sie ihre schwarzen Gefolgsleute an, die an Deck bereits auf sie warteten.
Bolak, der ehemalige Drachensucher der Dragots, stützte sich an der Reling ab und grollte seiner cholerischen Hoheit ins Gesicht. „Kann ich ihn diesmal fertig machen?“
„Du wirst deinen Spaß noch mit ihm haben, doch zuvor brauche ich alle lebend.“
Mürbe von ihrer nervigen Art und Weise, mit der sie ihm entgegentrat, sowie ihren geheimen Plänen, an denen sie ihn nicht teilhaben ließ, richtete Bolak sich auf und blickte der Hexe in die satanisch funkelnden Augen. „Dann sag doch endlich, was du vor hast?“
„Nein, je mehr wissen, um was es geht, desto größer ist die Gefahr, dass es scheitert und in der Vergangenheit ist zu viel falsch gelaufen.“
Wütend, dass sie gerade ihm kein Vertrauen entgegenbrachte, starrte Bolak sie kurz an, bevor er ihr seinen Frust darüber ins Gesicht schleuderte. „Dann scheiß dir doch ins Hemd!“
Ungerührt strich Axa eine Strähne ihres blauschwarzen Haares aus ihrem bleichen ovalen Gesicht. „Nur weil du ein Dragot bist, kannst du dir nicht alles erlauben. Vergiss das nicht!“
Wie wahr, Bolak rieb sich den Nacken und knurrte in Axas Richtung. „Ja, ja, ich bin deine unendliche Nummer acht. Dann lass mich jetzt in Ruhe!“
Die Muskeln über Axas Wangenknochen zuckten. Sie hasste es, wenn er ihr gegenüber so aufmuckte. „Kümmre dich mit den anderen um die Segel, und halt endlich dein Maul!“, schnauzte sie ihn gereizt an.
Wenig später waren auch die drei von Axa per Hex georderten Aquabells da, die das Drachenschiff aus der Strömung zogen.
„Wann sind wir endlich auf Kurs?“, murrte Bolak zu dem Steuermann rüber.
Dieser zeigte ungerührt auf zwei im Wasser stehende Felsen. „Wenn wir an denen vorbei sind.“
Kaum, dass sie die Hindernisse passiert hatten, trieb Bolak die Aquabells, indem er eine Feuersalve ins Wasser hinter den Tieren stieß, zur Höchstleistung an.
„Bring sie nicht gleich um! Sie müssen die ganze Strecke durchhalten!“, brüllte Axa ihn an und verzog sich in ihre Kajüte.
Bolak sah Axa hinterher und folgte ihr mit einem breiten gierigen Grinsen.
Während der ganzen Überfahrt ließ sich keiner der beiden sehen, erst als der Hexer im Ausguck - Land in Sicht - brüllte, kam Axa mit entspannten Gesichtszügen aus der Kajüte und stellte sich zum Steuermann. Fein, wenigstens ihre gehorsamen Hexen standen schon parat an Deck, allesamt bewaffnet mit ihren Z-Stäben und ihren Besen.
Bolak war dann der erste, der den Strand direkt über der Wasseroberfläche anflog, gefolgt von Axa auf ihrem Besen.
„WARERSUKAS SINDA EXTERMA!“, schrie Axa dem Inselinneren zu und von allen Seiten stürmten die schwarzen Hexen auf ihren Besen die nun wieder sichtbare Landschaft.
„So mein Schätzchen, gleich hab ich dich wieder!“, flüsterte sie vor sich hin.
Ihr Ziel war zum Greifen nah, nach einem Findehex konnte sie das große Holzhaus bereits sehen.
Durch einen weiteren gewaltigen Lähmhex, den sie Vanillas Kraft entzog, bewegte sich alles so langsam, dass man die Bewegungen der Luft in den Palmen kaum wahrnahm. Axa hatte es nicht eilig, alles auf der Insel würde nun auf sie warten.
Müßig bequemte sie sich auf die Terrasse und setzte sich. „Bringt mir die Bewohner, alle!“, fuhr sie ihren Dragot an.
Bolak durchsuchte alle Zimmer und kam mit leeren Händen zurück. „Es ist niemand da!“
„Dann warten wir. Meine Späher finden sie schon.“
Drei zähe Stunden wartete Axa, bis sie sich bequemte nach etwas Essbarem in der Küche zu suchen. Einige der Schränke waren mit Hexenutensilien bestückt, mehrere mit Geschirr. Sie öffnete den letzten Vorratsschrank, in dem ein großer Zettel hing, der durch ihren Atem kurz hin und her flatterte. Axa streckte ihre Hand ohne weiter zu überlegen danach aus und begann zu lesen. Gleichzeitig aktivierte sie damit unwissentlich einen versteckten Fluch.
Hallo Axalein,
leider ist es uns nicht möglich dich gebührend zu empfangen, da wir vor Kurzem umgezogen sind. Doch mach es dir ruhig bequem. Wir haben, wenn du die Insel in deinen Besitz nehmen willst, auch noch einige persönliche Geschenke hinterlassen. Wir hoffen, der Aufenthalt hier bringt deinem aufbrausenden Gemüt ein wenig Entspannung.
Verreck, du verdammtes Stück Scheiße!
Deine Dich hassende
Familie Dragonblood
Axas Augen weiteten sich. Aus der Ferne hörte sie Geräusche, die gewaltigen Explosionen glichen - nur schleppender. Das Haus unter ihren Füßen begann zu zittern, ein Ruck durchzog die gesamte Insel. Axa schaffte es nicht mehr aus dem Haus heraus, denn es explodierte, nachdem es ihren Hex durchbrochen hatte, in Echtzeit.
Bolak, der unten vor dem Haus stand, fluchte augenblicklich los, denn Axas Körperfetzen flogen ihm samt den Trümmern um die Ohren. „Scheißdreck, jetzt muss ich die Zicke schon wieder zusammenkochen!“
Es war keine zwei Jahre her, da hatten die Wächter ihre Chance genutzt und Axa in der Hexenstadt Ompla fast mit einem mächtigen Sammelhex zerstückelt … Nun musste er abermals ihre Fetzen einsammeln …
Von den übrigen schwarzen Hexen, die sich auf der Insel herumtrieben, war keine mehr am Leben. Zakton hatte für den nötigen Drag gesorgt, er hob ab und folgte den anderen. „Nun haben wir Zeit zum Luftholen.“ Inständig hoffte er, diese Zeitspanne würde ausreichen, um Jason zu finden.
Ebenso wie auf der Insel der Ahnen, mussten alle anpacken, um eine Erweiterung für Robs Hütte zu schaffen. Während Raika und Charlyn sich um die Drachenmädchen kümmerten, die immer mal wieder zwischen Rob und Antron herumwuselten, verteilte Elaine einige der Möbel aus ihrem Inselhaus auf einem kleinen Tisch vor der Hütte. Sie hatte die Möbel so weit geschrumpft, bis sie alle in ihre Umhangtasche gepasst hatten.
Derweil hatte Rob sich für einen zweigeteilten Hausbau entschieden.
Über den Wasserfall, an dem seine Hütte stand, verlief nun eine hübsche gebogene Brücke, die zum Bereich von Raika und den drei Mädchen führte. Raika teilte sich mit ihren Töchtern und Antron das neue Reich. So konnte Charlyn nach Belieben bei ihren Eltern oder ihren Nichten schlafen.
Unterdessen hatte Bilwer sich zum Tempel verzogen.
Dem regen Treiben vor seiner feuchten Nase konnte der Höllenhund nichts abgewinnen, sein Ziel war ja anders gelagert. Um auf eine günstige Chance zu lauern, hatte Charly in geringer Entfernung seinen Posten bezogen. Er schob die Dose mit dem Juckpulver von einer Wangentasche in die andere. Damit er flink reagieren konnte, hatte er sich mit dem Strick an seinem Halsband geschrumpft. Ein weiterer Zug an dem Seil würde dann ausreichen und er hätte wieder seine eigentliche Größe.
Leider schuftete Rob pausenlos mit seiner Hexenkraft um das Haus von Raika aus dem Boden zu stampfen. Es wollte sich einfach keine Gelegenheit ergeben, dem Dragot das Juckpulver unterzujubeln.
Zu allem Überfluss kam nun auch noch der kleine Wirbelwind auf Charly zu. Nein, bitte nicht! So konnte er doch noch weniger reagieren! Irritiert blickte der Höllenhund zu Elaines jüngster Tochter, denn Charlyn gesellte sich zu ihm und kuschelte sich an ihn ran. „Ich helfe dir, wenn du mich bald zu Jason bringst.“
Erstaunt hob Charly seinen Kopf und sah zu Charlyn.
„Guck nicht so, ich weiß, dass du die Heiligtümer geholt hast. Bilwer wird bald über die Insel brüllen, dass die Bäume wackeln, wenn er das Fehlen der Aufrüster bemerkt. Dir fehlt Papas Panzer und der Stab, stimmt´s?“
Charly konnte nicht anders, die Zeit drückte, er nickte.
Das war ihr Stichwort. Charlyn sprang auf und verschwand in der Hütte, in der Rob arbeitete.
Konnte das gutgehen? Charly rechnete damit, er müsste nun Rob alles erzählen, doch die kleine Hexe kam schon kurz darauf allein mit dem heißersehnten Aufrüster samt Stab, der in der Halterung am Panzer befestigt war, zurück.
„Ich hab Papa erzählt, ich würde den Panzer in den Tempel bringen um nicht so nutzlos herumzustehen. Sobald Jason sich wieder bemerkbar machen kann, holst du mich ab. Bis dahin bleibe bei ihm, okay?“
Charly nickte, schleckte ihr durchs Gesicht und stupste die kleine Hexe dankbar an.
„So, und nun gib mir das, was du da die ganze Zeit im Maul hast.“
Erleichtert streckte Charly die Zunge mit der Dose vor, er wollte sie am liebsten fragen, wie sie es herausgefunden hatte. Doch sie drückte ihm den Panzer einschließlich des Stabs ins Maul und zog an seinem Halsband. „Los, verschwinde endlich!“
Von dem Tumult, der in den nächsten Minuten über die Insel hereinbrach, bekam Charly nichts mehr mit. Er war auf dem Weg zum Untertor der Grabwelt.
Mit geübtem Blick suchte er aus der Luft nach einem großen Friedhof der Menschen. Auf jedem größeren Totenacker mit Gruft befand sich günstigerweise ein Tor zur Hexenwelt.
Es war Nacht und somit konnte er ungehindert landen. Wolken verdeckten den Vollmond über einem Mausoleum, das Charly genauer unter die Lupe nahm. Mit der Nase am modrigen Boden fand er seinen Weg. Sein harter Schädel drückte ohne großartigen Kraftaufwand das schmiedeeiserne Tor lautlos und langsam ein.
Doch so käme er nicht hindurch … Charly schrumpfte sich mental auf die normale Größe einer Dogge, das konnte er auch schon vorher. Doch diese Fähigkeit hätte weitere Fragen mit sich getragen, ergo hatte er sich bisher an die Spielregeln der Hexen gehalten.
Durch die vergitterten Fenster drang so wenig Licht, dass es Charly nicht weiterhalf. Vor ihm gähnte ein schwarzer Abgrund.
Lautlos schlich der Höllenhund an den steinernen Särgen vorbei, doch seine düstere Laune sorgte trotzdem für ein angespanntes Klima in der Totengruft.
Aufgeschreckt flatterten Fledermäuse unter der Decke umher. Mittig im Grabmal blieb er plötzlich wie angewurzelt stehen. Ein ihm bekannter Geruch drang in seine empfindliche Nase.
Im fahlen Licht ihrer gezückten Stäbe erkannte er drei Wächter, die ihm den Weg zum Tor in die Grabwelt versperrten.
„Höllenbrut, dir ist es nicht gestattet das Tor zu durchschreiten. Weiche!“
In seiner kleinen Gestalt war es Charly nicht möglich, einen ausreichenden Feueratem in die Runde zu leiten. Auch der Panzer in seiner Schnauze behinderte ihn. Loslassen konnte er den Aufrüster aber auf keinen Fall, denn wenn den Wächtern dieser Schatz in die Hände fallen würde, wäre es mit Jason aus und vorbei.
Die Wächter warfen sich gegenseitig einen schnellen Blick zu, vermutlich wollten allen synchron angreifen, bis sie den Höllenhund erledigt hatten.
Charly wusste, ihm blieben nun nur noch Sekunden, um einen Gegenangriff einzuleiten. Was ihm momentan an Größe fehlte, machte er jetzt mit der Wendigkeit seiner Flügel und der optimalen Ausnutzung der Dunkelheit wieder wett. Er hob im letzten Augenblick in die tiefe Schwärze der Gruft ab.
Die Blitze der Z-Stäbe leuchteten die Gruft nicht ausreichend aus. Charly flog hinter einem der Steinsärge in Deckung. Er roch den ersten sich nähernden Wächter.
Die Ausdünstungen des Hexers ließen Charlys Augen rot aufglühen. Leise stupste er den Panzer mit seiner Nase unter einen erhöhten Sarg.
Fein, das rechte Bein des Wächters stand direkt vor seiner Schnauze.
Man sollte einen Höllenhund niemals unterschätzen, selbst in seiner gegenwärtigen Größe durchtrennte er mit nur einem kraftvollen Biss das rechte Bein des Hexers. Der Wächter stürzte und wollte schreien, doch Charly schnappte erneut zu.
Auch wenn sein Magen mal wieder wegen mangelnder Nahrungszufuhr krampfte, spuckte er das Gesicht des Wächters in den Gang. Die Zeit für einen Snack reichte leider nicht aus, denn der nächste Gegner würde sicher nicht warten, bis er seinen Bissen durchgekaut hätte.
Irgendwie trieb ihn nun der Hunger an, schneller zu handeln, der zweite Hexer wurde für Charly ebenso zur leichten Beute. Zuerst traf sein messerscharfes Gebiss auf den Arm, der den bereits Blitze versprühenden Stab hielt. Dann schnappte der Höllenhund nach der Kehle des Gegners und durchtrennte sie samt Genick.
Charly machte seinem Ursprung alle Ehre. Er handelte schnell und mit tödlicher Sicherheit. Höllenhunde waren präzise, todbringende Killer!
Mit dem entsprechenden Blutrausch hechtete er lautlos dem dritten und letzten Wächter von hinten in den Rücken.
Vom Nacken bis zum Steißbein riss er dem Feind die Wirbelsäule aus dem Fleisch und noch während er die Knochenkette umher schleuderte, loderte ein siegessicheres Feuer in seinen düsteren Hundeaugen auf. Das Blut spritzte kreuz und quer durch die Gruft.
Gut, dass es keiner sah, denn nun stillte Charly seinen Hunger, indem er seine Beute emporschleuderte, sein Maul überdimensional aufriss und mit einem Happs verschlang. Kaum geschluckt, hielt Charly abermals inne und reckte seine Nase hoch.
Es kam Nachschub!
Ahnend, dass es weitere Harmwächter waren, die sich von der anderen Seite nähern würden, rannte er zum Panzer und versteckte sich hinter einer Säule neben dem Übergang. Nicht, dass er dem Kampf ausweichen würde, es war der Zeitmangel, der ihm im Fellnacken saß!
Aus dem Tor begann Kälte über den steinernen Boden wabern. Nacheinander flogen mehrere Wächter in die Gruft. Charly wartete den vermutlich letzten ab und kroch knapp über dem Boden durchs Tor.
Er hatte es geschafft, er war in der Grabwelt.
So weit das Auge reichte, säumten Gräber aller Unterweltwesen die graue Landschaft ein. Jeder Hügel war bedeckt mit den steinernen Wegweisern derer, die verblichen unter ihnen weilten.
Ähnlich wie auf dem Unterweltdrachenfriedhof, war es auch hier den Lebenden nicht gestattet zu fliegen. So schlich sich Charly von einem günstigen Versteck zum nächsten. Den Wächtern würde schnell auffallen, dass ihr Gegner entkommen war und sie würden ausschwärmen, um ihn zu töten.
Wieder einmal musste er diesen unliebsamen Weg gehen. Zu allem Überfluss war er durch die falsche Gruft geschritten.
Dieser Zugang lag wirklich und wahrhaftig am anderen Ende seines Ziels.
Ungestüm begann er sich zu dem Durchlass des Seelentors vor zu schnüffeln. Für einen Höllenhund war das durchaus leicht, da sie die absteigenden Düfte der Seelen, die sich auf dem Weg zum Durchlass befanden, von ihrem irdischen Duft stückweise befreiten.
Was so viel hieß, wie: Je näher sie dem endgültigen Seelendurchlass kamen, desto besser und reiner wurde die Luft knapp über den Erdboden.
Allerdings nahm ihm der Panzer in seinem Maul die Sicht auf den Boden direkt vor seinen Pfoten.
Scheinbar unendliche Stunden kämpfte sich der Höllenhund durch das Land der Toten, jedenfalls fühlte es sich so an, denn wenn man nicht richtig voran kam …
Hier und da wurden vor langer Zeit die magischen Gebeine entfernt, wodurch klaffende Löcher entstanden. Auch ragten sporadisch Knochen von ungenügend verscharrten Leichen aus der stark nach Fäulnis riechenden Erde.
Charly fluchte ununterbrochen. Mehrere Male trat er auf Knochen, die sich schmerzhaft in die Zwischenräume seiner Pfoten bohrten.
Das stetig fallende Laub der Immerherbstbäume sorgte zusätzlich dafür, dass er sich vor zu schnellen Schritten hüten musste. Der Höllenhund hatte auch schwer damit zu kämpfen, den rufenden Seelen, die auf ihre Begleitung warteten, zu entkommen. Jedes Mal, wenn er an einer wartenden Seele vorbei musste, versuchte diese sich an ihn zu klammern. Aber er war kein Begleiter, nur ein Torwächter der verschiedenen Dimensionen.
Endlich, nach gefühlten Wochen, die hier keine waren, denn die reguläre Zeit stand in dieser Zone überwiegend still und so waren vielleicht ein paar Minuten oder Stunden vergangen, konnte Charly sein Ziel erspähen.
Ein grabfreier Hügel, inmitten von acht heiligen Stäben, die locker dreizehn Meter in die Höhe ragten, erschien in seinem Blickfeld. Bedrohliche Mahnmale, diesen Hügel nie lebend zu betreten.
Bei diesem Hügel vereinten sich die Seelen der Übergänger. Kein sterbliches Wesen durfte dieses Tor durchschreiten, außer es waren Dragots oder Höllenhunde mit höheren Bestimmungen.
Und es hatte Sabera damals viel Geduld gekostet, mit den Herrschern der Seelenbestimmer ein Abkommen für diese beiden Rassen zu beschließen.
Mehrere Jahrzehnte musste sie Beweise - durch ihre Zeitreisen - sammeln, um den Durchlass zu begründen. Mit Jasons Bestimmung der Friedenbringer zu sein, gelang ihr dann der entscheidende Durchbruch.
Da auch noch hinzukommend - zum jetzigen Zeitpunkt - zu viele Seelen nicht zum Tor fanden, was Axa durch das Gefangennehmen eben dieser Seelen verhinderte, war Sabera der letzte Beweis für die Wichtigkeit ihres Handelns zugeflogen.
Allerdings ließen sich die Seeleneinsammler auch nicht überrumpeln.
Sabera musste versprechen, Jasons Seele den Bestimmern zu überlassen, wenn er es nicht binnen eines Jahres aus seinem Zustand herausschaffen würde.
Was soviel hieß wie: sollte es Sabera - beziehungsweise Jason - nach diesem befristeten Zeitrahmen nicht gelingen, wieder richtig zu leben, dann müsste Sabera die Seelenzone verlassen ... oder sich selbst sowie Jasons Seele opfern.
Natürlich dachte Sabera zuvor, dass alles seiner Prophezeiung folgen würde. Sie konnte ja nicht ahnen, dass Jason mit seiner unvorhergesehenen Handlung die Zukunft vernebeln würde. Erst als sie keinen Zugang zu ihm fand, was eigentlich hätte gelingen sollen, schickte sie Charly los, um alles zu überprüfen.
Seit sie zeitreiste und um die vorher sichere Zukunft wusste, war Charly vorerst dazu abgerichtet, die Familie um Jason und ihn selber zu schützen.
Ein kurzes Gespräch mit der damals schwangeren Vanilla reichte aus, dass ein Höllenwesen vier Jahre später in der Familie liebevoll aufgenommen wurde. Vanilla selbst war es, die Charly aus Saberas Armen entgegennahm, als Elaine und Rob gerade den Koboldgarten unsicher machten.
Charly würde seine Familie, unter deren Obhut er sich befand, bedingungslos beschützen. Doch auch darum gab es ein weiteres Geheimnis, das Sabera Vanilla nicht anvertraut hatte. Unter keinen Umständen durfte die Hexe damals erfahren, wer Charly wirklich war …
Mit der Nase fast im Dreck tastete Charly sich an die heiligen Stäbe heran, er musste die richtigen beiden finden. Ginge er ziellos durch die achteckig angeordneten Stäbe, liefe er ins Körperlose. Dann würde sich seine Seele vom Fleisch lösen und in den Seelenwald entschwinden.
Doch zur Sicherheit hatte er die beiden Stäbe mittels Duftmarke veredelt, so verriet ihm seine Nase die richtigen Durchlassstäbe. Er warf einen Blick zurück, Wächter waren nicht zu sehen. Gut, es würde ihm sowieso keiner folgen können, aber sicher war sicher. Vorsichtig durchschritt Charly die Stäbe.
Im nächsten Moment stand er in einer Landschaft, die jedem bekannten Naturgesetz widersprach. Hier wuchs alles dorthin, wo es wollte. Falls es wuchs!
Wovon Charly aber keine Notiz nahm.
Bäume in den verrücktesten Farben wuchsen schräg aus Hügeln - und dennoch kerzengerade - heraus. Violette Grasinseln schoben ihre Wurzel an glatten Steinen empor und streckten ihre Halme waagerecht weg. In einem kleinen Flüsschen floss das Wasser schräg an der linken Steinuferböschung empor, um dann im Bogen durch die Luft auf die andere Seite zu fließen. Schräge Mauern, von denen niemand sagen konnte, wer sie je erbaut hatte, standen so schief, dass sie laut dem Gesetz der normalen Schwerkraft längst umgefallen sein müssten.
In der Ferne erstreckte sich ein Gebirge, das auch nichts klar erkennen ließ. Es sah wie aus steinernen Seifenblasen geformt aus.
Schier aus Langeweile flog Charly sie im letzten Monat an, um sie näher zu betrachten. Was ihm auch keine Erklärung bot, denn von Nahem glichen die einzelnen Blasen eher undurchsichtigen Kristallen, die vereinzelt pulsierten und Leben in sich zu tragen schienen.
Selbst das Fortbewegen war hier so unterschiedlich wie abwegig. Charly bevorzugte den Flug, welcher ihm durch Übung schon recht gut gelang. Die Seelenwinde trieben ihn mal hier hin mal dorthin. Anfangs hatte er wie ein Irrer versucht, gegen die Luft anzukämpfen, was ihn aber immer weiter von seinem Ziel entfernt hatte. Dass alles in dieser Welt von den Seelen beeinflusst wurde, musste Sabera ihm erst richtig erklären.
Die Seelen wussten, wohin er wollte und übernahmen den Transport.
Einige von ihnen zeigten sich dann und wann als Nebelschwaden, manchmal waren sie nur glühende Punkte oder sie erschienen in der Form ihrer früheren Körper. Dass Höllenhunde sich nicht sonderlich ängstlich zeigten, konnte man sich denken, doch hier war alles anders. So hatte es Charly einige Überwindung gekostet, sich ohne Kontrolle treiben zu lassen.
Um Jason ein einigermaßen normales Umfeld zu erschaffen, bat Sabera, damals bei ihrer Ankunft mit seiner körperlichen Hülle, die Seelen einen Tempel zu erschaffen, in dem er ruhen könne.
Fast machte es den Anschein, als ob die Seelen sich freuten einer sinnvollen Bestimmung zu folgen, denn bereitwillig erschufen sie umgehend einen Tempel, den sie Jasons Erinnerungen abrangen: Den Tempel der Dragots auf Dragotan.
Nun lag er dort seit gut vier Monaten in einer Gelflüssigkeit, die seinem körperlichen Verfall Einhalt gebot und seine Seele hielt.
Ab den Stufen zum Tempel war es den Körperwesen gestattet, sich in den Gesetzen der Schwerkraft zu bewegen. Charly nahm mit jedem Sprung drei Stufen auf einmal.
Alles war ruhig, Sabera schlief auf ihrem Bett und Charly sah keinen Grund sie zu wecken. Er platzierte den Panzer bei den restlichen Aufrüstern und legte sich neben Drag, der ihn müde anschielte.
Wenig später schnarchten die Höllenhunde um die Wette. Hier lauerte keine Gefahr.
Flüchtige Blitze durchzuckten Jasons intaktes Gehirn, sein kleiner, knöchriger Finger zuckte, doch niemand bemerkte es.
Fernab von dieser Welt in einer anderen Zone …
Seitdem die Welt durch Jasons Opferung ihrem normalen Ablauf folgte, ging es zwei Personen seelisch ganz besonders schlecht. Die eine war seine Schwester, jedoch wohlwissend, ihr Bruder würde noch existieren, die andere lebte in einem Hexenheim. Skyla konnte sich auf nichts konzentrieren. Selbst Jamalin konnte sie nicht trösten. Bei jeder Gelegenheit weinte die Junghexe steinerweichend.
Kein Hexdoktor konnte ihr helfen. Alle angewandten Mittelchen vermochten es nicht, sie aus ihrer Traurigkeit zu holen.
In den Abständen, in denen Jason Blitze durchzuckten, durchzog es Skyla mit Trauer und Tränen. Ihr klarer Verstand konnte diesen Zustand nicht deuten. Doch ihr Gefühl sagte, dass sie etwas tun musste.
Während die anderen Kinder in Gruppen Zonenhotels besuchten, um von Gästen zu lernen, musste Skyla meist im Heim zurückbleiben.
Zu Anfang nahmen die Gäste ihre Gefühlsausbrüche hin, doch mit den Wochen kümmerten sich so viele Gäste um sie, dass die anderen Kinder nichts zu tun hatten. Dem tieferen Grund ihrer Traurigkeit kam keiner an die Wurzel, und an lernen war bei ihr nicht einmal ansatzweise zu denken, so blieb sie im Heim.
Wie auch die Male zuvor, saß sie am liebsten vor dem Bild, welches Jason ihr über das Bett gehext hatte. Als er es ihr zeigte, bat er sie mit dem Finger darüber zu streicheln, worauf sich die Person darin zum Drachen verwandelt hatte.
Jeden Abend wiederholte sie es vor dem Zubettgehen.
Doch seit diesem einen Tag vor etwa vier Monaten war alles anders. Wie üblich wollte sie die Wandlung sehen, aber anstelle derer, durchfuhr sie ein schmerzvoller schwarzer Blitz, der ihr bis zum Hirn gefunkt hatte.
Die Person auf dem Bild verschwand und mit ihr Skylas normales Leben.
In den letzten zwei Wochen gesellte sich eine bittere Leere hinzu und mit jeder Sekunde vergrößerte sich die Gewissheit, sie würde diesen Ort verlassen müssen, um ihren eigenen Weg zu gehen.
An diesem frühen Morgen, nachdem alle gefrühstückt hatten und in die Zonenhotels geflogen waren, war es so weit. Skyla sah auf den jetzt schwarzen Seelenkristall in ihrer Hand und verstaute ihn in einem Lederbeutel, den sie sich mit einem robusten Band um den Hals knotete. Ihre Hexereiutensilien packte sie in den Rucksack. Etwas Proviant und ihren Stab brachte sie im Umhang unter.
Mit festem Schritt griff sie im Vorbeigehen ihren Besen und öffnete die Tür ihrer Unterkunft.
Draußen war es still, denn alle waren unterwegs. Skyla warf einen Blick in den grauen Hexenhimmel über sich. Die Wetterhexen schienen ihren trüben Seelenzustand zu ahnen. Sie schwang sich auf den Besen und hob ab.
Niemand außer einer lächelnden Krähe beobachtete Skyla, wie sie ihren Flug ins Ungewisse antrat.
Sie überflog den dichten Wald, in dem das Hexenheim lag und folgte der falschen Sonne am violettblauen Himmel. Heute - genau auf den Tag - war ihr zwölfter Geburtstag. Und mit dem Tagesanbruch war ihre letzte Hoffnung verflogen. Seit sie die Augen aufgeschlagen hatte, wusste sie, dass Jason nicht mehr zurückkommen würde, vielleicht nie mehr kam. Alles um sie herum war schlagartig noch unwichtiger geworden, als es ohnehin schon war, sie folgte dem Seelenschrei in ihr.
Den Wetterhexen war es egal, wer durch die Hexenwelt flog. Sie sandten Regen aus dämonischen Wolken ins Reich. Ein kalter Sturm trieb aufgewühlte Regentropfen unter Skylas Umhang.
Auf der Insel der Dragots …
Das Donnerwetter, welches über Dragotan fegte, war eines der schlimmsten, das Rob je erlebt hatte.
Bilwer ließ die Erde auf der gesamten Insel erbeben.
Umgehend steuerten alle Dragots den Vulkan an.
Schon aus der Ferne konnten alle Bilwers Drachenwut erkennen. Mit seinem erhobenen langen Gehstock in den Himmel drohend stand er am Krater. Seine Haare standen durch die Winde wirr von seinem Kopf ab. Er hatte sich öffentlich zum Großdragot gewandelt. Was in den vergangenen Jahren, seit seiner Ernennung zum Anführer der Bewohner Dragotans, nie mehr geschehen war.
Blitze aus seinem Stock formten eine in sich wirbelnde grauschwarze Wolke über dem Vulkan. Die Dragots wagten sich nicht zu landen.
Es vergingen etliche Minuten, bevor Bilwer die tosende Wolke auf eine ungewisse Reise schickte.
Rob traute sich als erster näher.
Seinem Beispiel folgten die hohen Dragots.
Bilwer warf ihnen einen Blick zu, der alle in der Bewegung einfrieren ließ. Er breitete seine Flügel aus und hob Richtung Tempel ab. Wortlos und in sicherem Abstand folgten ihm die anderen.
Bilwer landete direkt vor dem Eingang des Tempels, die anderen vor den Stufen. Keiner traute sich ihm sofort hinterher, erst nachdem alles ruhig war, schritten die hohen Dragots die Stufen empor.
Auf dem Podest der Throne, mit dem Rücken zu allen stehend, starrte Bilwer auf die Wand, auf deren Absatz die Heiligtümer der Dragots lagern sollten.
Alle nahmen nach den hohen Dragots Platz und warteten, dass Bilwer sich ihnen zuwenden würde.
Die Stille, die nun herrschte, irritierte alle.
Ohne sich umzudrehen dröhnte Bilwer jählings los. „In den ganzen Jahren meines Lebens ist auf dieser Insel nichts, aber auch gar nichts abhanden gekommen!“
Bilwer drehte sich um, sah in die Gesichter der anderen. Rob schaute an ihm vorbei und war sprachlos. Auch die hohen Dragots auf ihren Plätzen sahen alle auf die Mauervertiefung, in der die Aufrüster liegen müssten.
Mit einem Handschlag ebnete Bilwer die Nachbildung von Axas Festung, die nach wie vor inmitten der hohen Dragots auf einem Podest stand, ein.
„Anhand der Dragtafeln kann es sich bei dem Dieb nicht um einen der Unseren handeln, denn alle Dragots sind noch da. Wo also sind die Heiligtümer?“ Finster blickte Bilwer in die Runde.
Viele zuckten ratlos mit ihren Schultern. Rob verschwieg aus familiären Gründen lieber, dass er seiner Tochter den Panzer anvertraut hatte, denn auch dieser Aufrüster war weg.
„Ihr schwärmt aus und kommt mir nicht ohne die Dragheiligtümer zurück. Sucht die ganze Insel ab! Dreht jeden Stein um! Wenn sie nicht hier auf der Insel sind, lege ich meine Führung ab und kehre erst nach Dragotan zurück, wenn ich sie selber gefunden habe!“
Ein Raunen erfüllte den Tempel.
Charlyn betrat unbemerkt den Gang zum Hauptsaal. Sie blieb vor den Tafeln stehen und streichelte über die Tafel ihres Bruders, worauf der sehr blasse Schriftzug aufglühte. Still lächelnd ging sie unbeeindruckt aller Blicke, die sie auf sich zog, zu ihrem Thron und ließ sich darauf plumpsen.
Bilwer kraulte seinen ellenlangen Bart nervös. „Mylady, ich bin untröstlich Ihnen mitzuteilen zu müssen, dass die heiligen Dragaufrüster gestohlen wurden. Hiermit verpflichte ich mein Leben der Suche nach ihnen! Ich werde keinen Tag ruhen, ehe ich nicht alle unversehrt an ihren Bestimmungsort zurückgeführt habe!“
Seelenruhig lächelte Charlyn ihn an, was Bilwer nicht richtig deuten konnte.
„Mir ist bewusst, Ihr könnt den Wert dieser Gegenstände noch nicht einschätzen. Doch noch bevor Ihr es wisst, werden sie wieder hier sein.“
Charlyn lächelte ununterbrochen weiter. Rob ahnte bereits, sie wusste mehr, als jeder andere hier vor Ort.
„Ich ehre deine Loyalität unserem Volke und meiner Stellung gegenüber. Doch in den kommenden Monaten brauchst du die Dragaufrüster nicht suchen. Sie befinden sich an dem wohl sichersten Ort dieses Planeten und seiner Zonen.“ Sie stand auf, wandelte sich zur Dragotin und flatterte auf das Podest.
Räuspernd wandte Bilwer sich Charlyn zu. „Entschuldigt meinen Widerspruch, die Aufrüster gehören in den Tempel. Nirgendwo anders sollten sie aufbewahrt werden. Ihre Macht ist viel zu groß! In unwissenden Händen können sie gewaltigen Schaden anrichten.“
Charlyns Blick verfinsterte sich, ihre Augen funkelten Bilwer an. Sie wusste um ihre Führung der Dragots und sie mochte es überhaupt nicht, wenn ihr in solch einer ernsten Angelegenheit widersprochen wurde. Doch um sein Gemüt zu besänftigen sprach sie weiter. „Sie sind im Tempel meines Bruders und er wird sie zu gegebener Zeit tragen um als das, was er seiner Bestimmung folgend ist, wiederzukehren. Nun gehe du deiner Bestimmung folgend deiner Tätigkeit nach und führe unser Volk. Nicht mehr und nicht weniger!“
Mehr als ratlos starrte Bilwer in die Gesichter der hohen Dragots, die alle nickend der kleinen Dragotin zustimmten.
„Papa, bringst du mich zurück? Ich bin hungrig.“
Rob reichte seiner Tochter die Hand und verließ mit ihr den Tempel. Gemeinsam spazierten sie den Strand entlang.
„Wer hat die Aufrüster zu Jason gebracht?“, wollte er wissen, obwohl die Antwort nicht anders als Charly lauten konnte, was er bereits geschlussfolgert hatte.
Charlyn bestätigte ihm das.
„Woher weißt du, dass Jason sie braucht, um mit ihnen zurückzukommen?“
Sie sah zu ihrem Vater auf. „Ich weiß es nicht, nichts weiß ich. Es ist nur eine Ahnung.“
Rob entglitten die Gesichtszüge. „Dann wollen wir inständig hoffen, dass du nicht zu hoch gepokert hast.“
„Wenn er es nicht schafft, hat Axa mit ihrem gigantischen Plan eh gewonnen. Nur Jason allein kann sie aufhalten.“
Rob blieb abrupt stehen. „Was für ein Plan?“
„Axa muss etwas sehr Großes planen … ich sprach mit Jason, ehe er ging. Er erzählte mir von den Tätowierungen, die du, Zakton und er haben. Darauf sah ich in die Nacken der anderen Dragots, selbst Bilwer trägt eine Nummer. Auch die Drachenmädchen haben, seitdem sie auf Dragonrock waren, eine Nummer im Nacken. Nur ich fehle noch, deshalb hab ich dir ja gesagt, du musst mich beschützen. Axa darf mir keine Nummer in den Nacken hexen, sonst kann sie auch ohne Jason machen, was sie vorhat. Ich wäre ein vielversprechender Ersatz für meinen Bruder.“
Sie setzten ihren Weg weiter fort. „Was in Dragots Namen hat sie vor?“, grübelte Rob.
„Ich weiß nur aus meinen Träumen, dass sie einen Dragot braucht, der die Schwelle zum Tod überschritten hat um wiederzukehren, sicher ist das Jason. Einen, der in ihr war, was immer das heißt, keine Ahnung. Einen, der ihr treu ergeben ist und drei unschuldige Wesen, sicher die Mädchen. Und zu guter Letzt den Wächter der Toten, für die Kraft der Seelen, also Zakton. Die restlichen Dragots verstärken ihr Vorhaben ins Unermessliche, so kann sie tun, was immer sie plant.“
Rob kratzte sich an der Stirn. „Hat es Sinn, Bilwer darüber in Kenntnis zu setzen?“
„Nein, wozu auch? Jason muss her oder Axa schlägt zu, wenn ich die Nummer der Dragführerin im Nacken trage, ob mit Bilwers Wissen oder ohne.“
Ratlos sah er zu seiner Tochter runter und setzte sich in den Sand. „Woher weißt du das alles?“
„Das flüstert mir meine Seele im Schlaf zu“, sagte sie wie selbstverständlich, während Rob sich wieder am Kopf kratzte.
„Und Jason, was sagt dir deine Seele über ihn?“
„Ich soll die Hoffnung im Herzen bewahren, mehr nicht. Es sind eh immer nur verschiedene Fetzen über die anderen, die ich mir zusammenstückeln muss. Aber es ergibt sich daraus dann immer ein Gesamtbild. Seit ein paar Tagen ändern sich meine Träume, vielleicht werde ich bald wissen, was Axa vor hat.“
„Eins passt aber nicht ins Gesamtbild. Wie kann sie auf Jason verzichten, wenn sie einen Dragot braucht, der schon einmal tot war?“
„Zakton würde diese Lücke füllen, ebenso wie du, aber ihr passt ja eher in die anderen Positionen. Ich bin nur die Ersatzlösung, um das fehlende Glied eines sehr hohen Dragots, also Jason, zu ersetzten. In ihren Augen ist Jason bestimmt tot und kommt nicht wieder.“
Bei dem Gedanken lief Rob eine Gänsehaut den Rücken runter.
Anderorts … bei einem eher seltsamen Puzzleteilsuchspiel …
Akribisch genau sammelte Bolak mit einem Findehex alle Fetzen seiner Herrin zusammen. Dann legte er sie in einen Kessel und bereitete ein Feuer, über dem er die Überreste Axas erhitzen würde.
Dass sie nicht auf diese Weise getötet werden konnte, wusste er nur zu gut. Sicher könnte sie ihre sterbliche Hülle allein zusammensetzen, doch das würde Wochen dauern und diese Zeit hatten sie nicht.
Als letztes fand Bolak ihren linken Augapfel samt den halben linken Gesicht, wirr rollte das Auge hin und her, dann starrte es ihn an.
„Is ja gut, hab dich gleich zusammen.“ Herzlos schmiss er den Rest von ihr in den Kessel. Sein Feueratem brachte diesen schnell zum Glühen. Axas Überreste kochten zusammen, es roch nach Fäulnis und verbrannter Haut.
Bis in die tiefe Nacht köchelte der Axa-Sud vor sich hin, bevor Bolak mit schwarzen Hexsprüchen ihre Auferstehung einleitete.
Axa entfuhr vom Haarschopf bis zu den Füßen dem Kessel. Ihre Körperfetzen und Knochensplitter setzten sich von oben nach unten zusammen. Damit sie nicht irgendwo aneckte, reichte Bolak ihr seine Pranke, sie entstieg dem Kessel und streckte ihre Glieder, wobei einige ihrer Knochen knackten. Die Hände in die Hüften gestemmt stand sie Bolak gegenüber und es knallte heftig, als ihre Hand seine Wange erwischte.
„Was fällt dir ein, so zu trödeln? Beim nächsten Mal werde ich dir die Flügel stutzen!“, brüllte sie ihm ins Gesicht.
Jäh brauste Bolaks Temperament vor Wut auf, er schubste Axa um. Sie hatten ihre ganz besondere Art miteinander zu kommunizieren.
In dieser Nacht zeugten sie in den Trümmern des Hauses ihr erstes und einziges Kind miteinander … ohne Axas Wissen, denn eigentlich wollte sie keinen Nachwuchs mehr haben.
Im Land der Seelen …
Sabera erwachte als erste, die Höllenhunde schliefen noch tief. Beglückt stellte sie fest, der Panzer war endlich da. Nun konnte sie mit ihrem Drag-Ritus beginnen. Sie weckte die Höllenhunde und schickte sie vor den Tempel, wo sie auf den Stufen Platz nahmen.
Liebevoll streichelte Sabera über das Buch der himmlischen Drags, nahm es hoch und positionierte es auf dem steinernen Stehpodest. Sie schlug die Seite der Wiederkehr auf.
Ihre Finger glitten über die nur für sie leserlichen Schriftsymbole, denn niemand außer ihr durfte dieses Ritual beschwören.
Die Worte der Drachenbelebung vor sich her murmelnd, holte Sabera den ersten Gegenstand der Aufrüster, den Dragschädel der Dragots. Sie hielt ihn über Jasons Kopf. Wie von selbst glitt der Schädel in die bläuliche Gelflüssigkeit und berührte Jasons eingefallenes Gesicht.
Die Zeit des Wartens schien endlos zu sein. Sekunden zogen sich dahin wie Stunden. Sabera stand neben dem Becken, schaute ängstlich auf den im Becken liegenden Jason. Doch ihre Furcht war unbegründet. Der Schädel verschmolz mit Jasons Haupt und sein Gesicht reproduzierte sich.
Wäre Jason wirklich tot gewesen … das Ritual hätte nicht angeschlagen und der Schädel wäre auf den Boden des gläsernen Sarges gefallen.
Freudestrahlend seufzte Sabera auf, eine Träne des Glück lief über ihre Wange, in drei Tagen würde sie Jason das nächste Heiligtum zuführen.
Leider mussten laut Überlieferung drei Dragtage zwischen den Aufrüstern der Wiederkehr liegen.
Sie konnte es sich nicht verkneifen, tauchte mit ihrer Hand in die zähe Flüssigkeit ein und musste Jason über die heile Wange streicheln. „Nun ist dein Gesicht wieder hübsch. Und um den Rest kümmere ich mich auch bald.“
Beschwingt verließ sie den Tempel, um die frohe Kunde den Höllenhunden mitzuteilen.
Beide strahlten und zogen ihre Lefzen hoch.
‚Wann ist er wieder da?‘
„Rede normal mit mir, hier erkennt dich keiner. Wandle dich!“
Irritiert blickte Charly Sabera an. Niemals zuvor hatte sie ihm erlaubt sich zu dem Wesen zu wandeln, das er wirklich war.
„Tu es und guck nicht so trottelig“, forderte sie ihn nochmals auf.
Nun denn, Charly stellte sich auf die Hinterbeine und wandelte sich in seine wahre Gestalt. Überall musste er bisher seine echte Identität verbergen, denn er war der ungekrönte Fürst der Höllenhunde und stand auf Axas Abschussliste ganz weit oben.
Sein stolzer Vater führte einst sämtliche Völker der Höllenhunde. Ein unbeugsamer Herrscher, bis zu dem Tage, an dem Axa die weiße Hexe Satana vernichtet hatte und ungehindert das Reich der Höllenhunde bekämpfen konnte. Sicher, alle Höllenhunde leisteten erbitterten Widerstand, doch diese Hexe kämpfte mit dunkler Dämonenkraft.
Ein Rudel nach dem anderen wurde von Axas schwarzen Hexen ausgerottet, bis Faradamm, Charlys Vater, sich der Dämonenhexe in den Weg stellte. Er wollte sein Volk beschützen.
Axa ging unter einer Bedingung auf den Handel ein, dass Faradamm dafür durch ihre Hand - vor seinem Volk - sterben musste. Seither streunten die Rudel durch die verschiedenen Unterwelten, um sich vor ihr zu verbergen. Sehnsüchtig warteten sie auf die Rückkehr des einzig verbliebenen Fürstensohnes. Denn auch wenn Faradamms noch recht junger Wurf mit ihm ausgelöscht wurde, so wusste doch jeder einzelne Höllenhund, dass ein Welpe fehlte …
Versteckt vor Axas Augen erlernten sie in kleinen Gruppen ihre natürliche Magie, die der Urhöllenhunde. Sie wollten Rache nehmen an … allen … Hexen.
Das musste allerdings unter allen Umständen verhindert werden … doch momentan konnte Sabera nicht handeln, denn die Zukunft war ja nicht einsehbar …
Charly sah nun von seiner Statur einem zweibeinigen Werwolf ähnlich. Das Fell war kurz, schwarz und glänzend. Sein Hundeschädel im Vergleich zur normalen Höllenhundgestalt um ein Viertel schmaler, die Ohren hingen nicht mehr, nur seine Flügel waren weiterhin fledermausähnlich. Allerdings zum aufrechten Körper proportional größer. Seine Pfoten wandelten sich zu Klauen, mit denen er durchaus zugreifen konnte. Der breite Nacken und die gut verteilten Muskeln ließen erahnen, dass Charly eines der mächtigsten Wesen der Unterwelt war. Seine Züge strahlten nun etwas Aristokratisches aus, man sah ihm den Fürsten buchstäblich an. Auch in seinem Blick lag dieser gewisse Stolz eines Regenten.
Durch seine stattliche Größe war er jetzt gute zwei Köpfe größer als Sabera, die auch nicht gerade zierlich mit ihren eins neunzig war.
„Du bist ganz dein Vater, wirst ihn gut vertreten, wenn nicht besser. Ich kann äußerlich keinen Unterschied feststellen, außer vielleicht das fehlende graue Haar.“
Charly wandte sich dem gläsernen Sarg zu. „Ich kann mich nicht an meinen Vater erinnern. Soweit ich weiß, war ich ein Welpe, als du mich zu Vanilla brachtest. Und eigentlich sollte ich ja kein Thronfolger werden.“
Eine unwichtige Nebensächlichkeit, Sabera zuckte mit den Schultern, ihr allein hatte das Höllenhundvolk es zu verdanken, dass überhaupt einer der letzten Rüden überlebt hatte. „Was sollte ich tun? Der ganze Wurf deiner Eltern wurde umgebracht. Axa wollte um jeden Preis verhindern, dass ein Nachfolger überleben würde. Bedauerst du den Weg, den du durch uns gehen musstest?“
Zunächst schweigend setzte Charly sich auf eine der steinernen Treppen, um Sabera in die Augen zu sehen. „Keine Sekunde war bedauernswert. So lernte ich, nicht alle Hexen sind schlecht. Und dass es durchaus Wesen gibt, die ebenso gut leben sollten wie mein Volk.“
„Es wird nicht einfach sein, dein Volk zu führen. Viele feste Regeln werden mit Axas Tod gekippt werden müssen, um ein soziales Leben führen zu können.“
Sein Blick wich ihrem um keinen Deut aus. „Ja, doch sicher werde ich zu Anfang deine Hilfe benötigen.“
„Davon hält mich keiner ab, bis es eine Nachfolge für Satana gibt. Wenn du willst, lehre ich dich die Urkraft der Höllenhunde. Ich studierte sie zu Beginn meiner Zeitreisen.“
Ähnlich, wie Rob zu Anfang Jason mit Konzentrationsübungen an seine Energie geführt hatte, so begann Sabera Charly, oder - Fararot - wie er richtig hieß, auszubilden.
Dadurch, dass er der letzte im Wurf war, wurde ihm nicht automatisch die Urkraft mitgegeben, denn das stand nur dem Wurfersten zu.
Laut Höllenhundregel durfte nur der erste männliche Welpe der Leithündin zum Nachfolger werden. Doch Sabera würde ihrem Wesen nicht gerecht werden, wenn sie nicht vorgesorgt hätte. Sie behielt stets den Überblick in ihren Zeitreisen und verdankte ihren ausführlichen Aufzeichnungen vieles, das ihr nun helfen würde.
Es kam in der Geschichte der Höllenhunde nur ein einziges Mal dazu, dass der Erstgeborene eines Fürsten starb. Eben diese Seele des verstorbenen männlichen Nachkommen, beschwor Sabera gleich nach seinem Tod und zwang sie, ihr Wissen um die Urkraft an Fararot weiter zu geben.
Die nächsten drei Tage verflogen in der Seelenzone. Fararot lernte schnell, ihn bedrückten keine Sorgen, die ihn ablenken konnten. Auch war er älter und verstand die an ihn gerichteten Aufgaben besser. Jason war in seiner Nähe und der Rest der Familie war in Sicherheit.
Beste Voraussetzungen.
Während sich der kommende Höllenhundfürst auf seine Kräfte konzentrierte, bereitete Sabera das nächste Ritual für Jason vor. Sie schlug die Seite des himmlischen Dragbuches auf. Während sie las, zuckte Jasons kleiner Finger wieder ein wenig.
Nachdem sie den folgenden Beschwörungsritus verinnerlicht hatte, eröffnete Sabera das Ritual, sie murmelte den zweiten Dragseelenwecker und nahm das Drachenauge. Wie der Schädel zuvor, schwebte auch das Auge über Jasons Kopf und glitt lautlos in die Flüssigkeit. Vorbereitend auf die Ankunft des Auges öffnete sich ein Spalt in seiner Stirn. Das Drachenauge wurde von dieser Öffnung angezogen und versank darin, wurde zum inneren Auge.
Eine weitere Regenerationsphase trat ein. Jasons Körper bildete sich neu. Bis auf die Flügel, die schwarz und verkümmert unter ihm zusammengefaltet waren, diese regenerierten sich noch nicht. Erst, wenn der silberne Flügel im dritten Ritual zum Einsatz käme, würden auch seine Schwingen zu neuem Leben erweckt werden.
Die gleichen drei Tage flog Skyla mit wenigen Pausen im Hexenreich einem Ziel entgegen, das sie nicht kannte.
Ihre Vorräte waren seit gestern aufgebraucht. Müde und hungrig landete sie in der Nähe eines alten verrotteten Hauses. Sie war durchgefroren. Alle Knochen waren vom Wind und den vielen Flugstunden steif und ungelenkig, ihre Finger zitterten so stark, dass sie sich kaum noch auf ihrem Besenstiel halten konnte.
Die schlechte Laune der Wetterhexen war an ihren Kleidern deutlich zu erkennen, denn es hatte fast ununterbrochen geregnet. Doch ihre Angst, von den Harmwächtern wieder ins Heim gebracht zu werden, war größer als ihre nassen Sachen, der Hunger und die Müdigkeit. Für eine dringend nötige Pause, setzte Skyla sich auf eine halb zerfallene Mauer, die entlang der kleinen Schotterstraße verlief.
Den ganzen Weg über hatte sie größere Ansiedlungen im Hexenreich gemieden. Wo es nicht anders ging, lief sie an Dörfern im großen Bogen vorbei. Versteckte sich im Unterholz, wenn andere ihren Weg kreuzten.
Nun wanderte ihr müder Blick in den Himmel. Weitere gefühlt tausend dunkle Wolken zogen auf, ihre Formen glichen diesmal seltsamen Höllenwesen. Tränen sammelten sich in ihren Augen und rannen mit dem Regen ihre Wangen entlang.
Mitten im dicksten Regensturm überkam Skyla eine dunkle Leichtigkeit, es wurde schwarz vor ihren Augen und sie kippte von der Mauer.
Zeitgleich öffnete Jason jäh die Augen, doch sie glitten langsam wieder zu. Auch aus seinem Augenwinkel rann eine Träne herab und verband sich mit dem blauen zähflüssigen Gel, in dem er lag.
Eine kuschelige warme Decke umhüllte Skyla. Der Duft von frisch gebackenem Brot kitzelte in ihrer Nase.
War alles nur ein böser Traum? Sie öffnete die Augen, bis auf ein Feuer im Kamin war es dunkel in dem großen Raum, in dem sie auf einem Bett lag. Und doch konnte sie im Schein der Flammen immer mehr erkennen, denn auf dem Tisch stand ein Teller mit frisch geschnittenem Brot, zwei Becher und eine schlichte Kanne.
Alles hier war fremd, Skyla richtete sich zu schnell auf und ihr Kreislauf ließ Sternchen vor ihr kreisen. Sie kniff die Augen zu und öffnete sie wieder.
„Stärk dich, dann geht’s dei’m Blutdruck besser.“
Die männliche Stimme kam aus dem Bereich, den Skyla nicht einsehen konnte.
Nur ein heruntergebranntes Feuer glühte dort noch schwach vor sich hin.
Der große ältere Mann entzündete eine Fackel an der Wand, sodass Skyla seinen Umriss sehen konnte. Unwillkürlich schaute Skyla an sich runter, sie trug nur ihre Unterwäsche. Der Beutel mit dem Seelenkristall war noch da. Verlegen zog sie sich die Decke bis zur Nasenspitze hoch.
„Ich musste deine Wäsche trock’n. Hier, zieh sie an. Ich heiß übrigenst Toraper.“
Der Mann warf ihr ihre Sachen zu. Schnell streifte Skyla sich ihren Pullover über, dann den Rest.
Zu dem frischen Brotgeruch gesellte sich der Duft von gebackenem Hähnchen. Skyla lief das Wasser im Mund zusammen und ihr Magen knurrte hörbar.
„Ich beiß nich. Steh auf, stärk dich.“ Der Hexer trat aus dem Schatten an den Tisch heran, stellte zwei Teller ab und setzte sich.
Skyla schlüpfte in ihre Schuhe und nahm ihm gegenüber Platz. „Danke!“
Ein mit Falten übersätes Gesicht lächelte sie an.
„Kann ich dich mit’m Namen anred’n, oder haste kein?“
Skyla aß erst das Stück Brot auf und überlegte. „Werden Sie den Harmwächtern sagen, dass Sie mich gefunden haben?“
„Ach, bist ne Ausreißerin. Was haste denn verbroch’n? Haste ein’n umgebracht?“
Skyla schüttelte energisch den Kopf.
„Wenn du dich nich strafbar gemacht hast, brauch ich dich auch nich meld’n! Allerdings solltest du mir dein Alter verrat’n.“
„Ich bin zwölf.“
„Na, denn brauchste eh keine Bedenk’n hab’n, ab zwölf biste eh laut Hexgesetz in der Lage, dich selbigst zu versorg’n. Watt ich aba bei dir nich glaub. Wie lange biste denn schon auf’m Bes’n?“
„Drei Tage.“
Ihr Gegenüber musterte sie abschätzend. „Und warum haste dir nich watt zu ess’n gesucht?“
„Ich kenne mich hier nicht gut aus.“ Unbeholfen schnitt sie ein Stück von dem Hähnchen ab.
„Wenn ich nich irre, haste bei den Mensch’n gelebt oder watt?“
Skyla nickte.
Der alte Hexer führte seinen Z-Stab am Hähnchen entlang und teilte so das Fleisch von Knochen. „So machste das. Die Sumpfspringer war’n etwas zäh, aba leckerer wie die Fledermäuse in dieser Gegend. Ess erst ma auf, dann red’n wir ein bissch’n.“
Skyla lächelte und biss hungrig ins Fleisch.
Der Mann kippte ihr eine grünlich-weiße Flüssigkeit in den Becher und musste schmunzeln. An ihren großen Augen konnte er prima ablesen, dass die Junghexe dieses Getränk nicht kannte.
„Is bloß Baummilch, schmeckt etwas harzig, vertreibt aba den Durst korrekt. Wennste es nich magst, kann ich dir Wasser bring’n.“
Unhöflich wollte Skyla nicht sein, wenigstens einen Schluck wollte sie probieren. Der Geschmack war wirklich gewöhnungsbedürftig, löschte aber wahrhaftig gleich den Durst.
„Datt Zeuch pack ich mir immer ein, wenn ich weit flieg, da musste nich ständig anhalt’n um zu pinkeln. Mit ’ner Flasche kommste gut ne Woche ohne Pinkelpause hin.“
Skyla musste grinsen, solch eine ehrliche Haut war ihr bisher selten untergekommen. „Mein Name ist Skyla.“
„Schön Skyla, kannst mich Toraper nenn’n, is mein Name.“
Die beiden aßen schweigend weiter.
Dass der Hexer ihr einen Locker angehext hatte, wusste sie nicht, aber es war auch nicht weiter tragisch. Ein Locker stimulierte lediglich das Vertrauen und ließ Hemmungen im Kopf fallen, die unnütz waren, solange der Hexer nicht geistigen Eintritt suchte.
Nach dem Essen hexte Toraper den Esstisch und die Holzstühle um. Eine Couch samt Tisch bildete sich daraus. „So spar ich Platz, is nich groß, mein Häusch’n.“
Wo er recht hatte ... aber Gemütlichkeit brauchte nicht die Ausmaße einer Villa. Es war ohnehin behaglicher, wenn man enger beisammen saß.
Im Kamin knisterten die rohen Holzstücke vor sich hin ... sehr angenehm.
Mit vollem Bauch und dem schönen Gefühl, dass sich jemand um sie sorgte, kamen bei Skyla die Tränen wieder.
„Was is’n, is dir watt nich bekomm’n?“
Weinerlich schaute sie zu Toraper. „Ich habe das seit ein paar Monaten, da heul ich zu jeder Gelegenheit rum“, schniefte Skyla und zog den Rotz hoch.
„Ach nee. Biste auf der Suche nach watt?“
„Weiß ich nicht. Aber ich bin irgendwie nach irgendwo unterwegs“, antwortet sie ehrlich.
„Watt du da hast, is’n Trauersucher. Eigentlich hab’n den nur ältere Hex’n, de ihren Partner verlor’n hab’n. Für sowatt biste doch noch viel zu jung … oder?“
Die sich verkrümelnde Farbe in Skylas Gesicht bestätigte Torapers Verdacht. „Ach nee, de Jugend fängt auch immer früher mit den Liebelei’n an. Watt is denn mit dem passiert?“
Skyla wurde bei dem Gedanken, Jason könne etwas passiert sein, übel. Dicke Tränen rollten ihre Wangen hinab.
„Nu wart ma. Is ja nich gesagt, dass dem sein’n Bes’n bröselt. Ich seh ma nach.“ Toraper nahm ihre Hand und las in ihr. „Oh, oh, das seh ich selt’n. Deine Liebelei lebt am Rande des Daseins, keine günstig’n Voraussetzung’n, aba er lebt noch. Du hast ein’n lang’n Weg vor dir, ihn zu find’n. Er ist weder hier noch in einer der mir bekannt’n Welt’n. Kennste dein Ziel?“
Skyla schluckte. „Nein.“
Toraper kratzte sich am Kopf, was Skyla ein Lächeln ins Gesicht hexte. „Das macht er auch immer, wenn er nicht weiter weiß.“
„Junge, junge, watt mach ich mit dir? Kennste denn wenigstens de Richtung, oder fliegste einfach drauflos?“
Skyla zuckte mit den Schultern.
Stöhnend atmete Toraper ein. „Dann muss der Bengel ja ne mächtige Person sein, wenn er dir mit sein’m Seelenschrei beiruft.“
„Es wird behauptet, dass er der Friedenbringer ist oder wird“, sagte sie nicht ohne stolzen Unterton.
„Ach nee. Von dem hab ich im Dorf schon gehört, keiner weiß, wo der is und ob der noch lebt. Gut, dass de nich dort gefund’n wurdest, de hätt’n de letzten Information´n aus dir rausgequetscht. Sämtliche Seher sind arbeitslos, seit dein Liebch’n sich erdreistete de Zukunft zu vernebeln. Alle wart’n auf seine Rückkehr.“
„Dann muss ich ihn finden!“
„Immer sachte mit dem Drachenpferdch’n! Wenn de nich weißt, wo der is, wie willste ihn denn find’n?“
Skyla grübelte. „Vielleicht, wenn ich seine Familie finden würde?“
„Sach mir ein’n vollständig’n Nam’n und ich such ma de Kugel ab.“
„Charlyn Dragonblood, den vollständigen Namen der anderen kenn ich nicht genau.“
„Reicht vielleicht, ich seh ma.“ Toraper kreiselte vom Sofa aus Richtung Wand mit seinem Z-Stab, kurz spiegelte sich matt das Kaminfeuer in der kopfgroßen Kristallkugel, die zum Tisch schwebte. „Hallo Berta, ich muss mich bei dir entschuldig’n. Hab dich lange nich geputzt.“ Er wischte gefühlvoll die dicke Staubschicht von der Kugel in den Lappen. „Ich gab ihr schon als kleiner Bub ein’n Nam’n, sie is da sehr empfindlich.“
Skyla schien einen ungläubigen Gesichtsausdruck zu machen.
„Denk nich datt ich plemplem bin. Berta’s Alter liegt weit üba tausend Jahre, se wurde in meiner Familie immer ans erste Kind weiter gegeb’n. Jeder gab ihr dann gleich ’nen Nam’n. So, nu woll’n wa sehn, ob se watt weiß.“ Behutsam legte Toraper seine Hände auf die Kugel, und in ihr begann ein Sturm zu toben.
Bis der Sturm abgeebbt war, hielt er seine Hände über ihr. „Wie heißt dein Freund? Ich merk, dass Berta voller Arbeitswut is, vielleicht spuckt se den Ort aus.“
„Sein Name ist Jason M. Dragonblood.“
„Wofür steht’n datt M?“
„Ich habe keine Ahnung, das hat er mir nie erzählt.“
„Dann woll’n wa mal sehn.“ Dreimal sprach er Jasons Namen aus.
Berta sah in die Vergangenheit, im Blitztakt verfolgte die Kugel Jasons Weg, seit er in der Hexenwelt ankam. Das Krankenhaus seiner Geburt, Vanillas Haus, bis zu einem Punkt, an dem die Kugel sekundenlang schwarz blieb, dann tauchte Dragonrock wieder auf, wieder Schwärze. Die Insel der Ahnen und Dragotan blieben der Kugel verschlossen.
„Ein reichlich beladenes Leb’n führt der Knabe. Besucht Orte, die den Wächtern nich zugängig sind?“
„Keine Ahnung, er sagte mir nichts davon, aber woher weiß Ihre Kugel das?“
Toraper grinste schelmisch. „Ich hab dich nich verrat’n. Nu darfste mich nich verrat’n.“
Skyla nickte.
„Berta is ne besondre Kugel, se zapft de Hirne der Wächter an.“
„Das ist ja cool, und wo war Jason nun zuletzt?“
Sein Gesicht verfinsterte sich. „Vor der Schwärze hab ich datt Tor gesehen, durch datt er reinkam. Ein Ort, der den letzt’n Gang eines jed’n von uns nimmt, er is in der Nähe der Grabwelt.“
Skyla wurde es schlagartig schwindelig. War er doch schon tot? Rief nur noch seine Seele nach ihr?
„Watt ma, ich hab doch gesagt, dass der noch lebt, wenn auch am Rande. Vielleicht kriecht er auf’m Friedhof rum, auszuschließ’n is datt nich. De Wächter zerr’n da kein weg.“
Dann musste sie nun aufbrechen, Skyla stand energisch auf, wollte gleich losstürmen. „ Ich muss da hin!“
„Nu bleib ma locker mit de Drachenpferdch’n. Um überhaupt annähernd an de Grabwelt ranzukomm, musste durch ein’n Teil der Hexenwelt, dann zu den Menschlein und wieder in de Hexenwelt, dann in de Unterwelt. Von dort aus führt eins der zwei Tore in de Grabwelt, datt andere über Gruftzugänge in der Menschenwelt. Kein einfacher Weg fürn kleines Hexlein.“
… nicht jede Hexe oder Hexer wusste, was einem Höllenhund schon von Geburt an im Blut lag … da führten nur Umwege zum Ziel …
Erneut füllten Tränen ihre Augen.
„Ich bring dich so weit ich kann, is datt watt? Ich kann doch nich ne kleine Hexe in ihr Unglück renn lass’n.“
Erleichtert nickte Skyla, denn wenn Toraper ihr half, konnte sie endlich etwas erreichen und zu Jason kommen.
„So, und nu schlaf bis morg’n.“
Gleich mit dem ersten Lichteinfall erwachte Skyla. Toraper war schon auf, er stopfte verschiedene Dinge in einen großen Jutesack.
„Wie wollen Sie den riesigen Sack denn mitkriegen?“, fragte Skyla verwundert.
„Mädel, Mädel, du kennst dich ja gar nich aus.“ Er verschnürte den Sack. „FIXUS SCHRUMPIG!“ Der Sack schrumpfte auf Hosentaschengröße runter. „Nimm den auf’m Tisch, hab für dich auch watt eingetütet.“ Er selbst steckte seinen Sack in die Hosentasche. „Hier nimm.“
Toraper drückte Skyla ein Bündel leere Zettel in verschiedenen Größen in die Hand. Sie musste so verdattert gucken, dass er grinste.
„Falls wir uns ma verlier’n musste dran reib’n, dann nehm’n se de Währung dett jeweilig’n Landes - in dem de bist - an. Wenn de Mensch’n uns beim Hex’n sehn, dann is immer der Luzi los. Kauf de Sach’n de du brauchst lieber, is einfacher.“
„Merken die Menschen das denn nicht?“
Verwundert schaute sie immer noch auf die blanken Zettel in ihrer Hand.
„Du meinst, es könnt Falschgeld sein? Ne is es nich, datt Zettelch’n tauscht sich geg’n echte Scheinch’n, de eh im Mixer end’n. Merk’n de Menschlein gar nich, der Verlust durch uns is gering, höchstens ein bis zwei Milliönch’n im halb’n Jahr. Da verlier’n de Menschch’n mehr auf’n Straß’n. So, geh ma vor de Tür, ich komm gleich nach.“
Skyla stellte sich vor dem Häuschen in den kleinen Wildgarten. Sie schaute in den Himmel. Die Wetterhexen hatten endlich bessere Laune. Außer ein paar Wattewölkchen in Form einer Mauntyherde war der Himmel klar.
Sie ging langsam den Weg zur Straße runter, setzte sich auf die flache Mauer. Die Haustür klappte hinter ihr zu. Sie achtete nicht darauf, sah weiter der Mauntyherde zu.
„Wir könn’n los.“
Erschrocken drehte Skyla ihren Kopf. Die Stimme gehörte nicht dem alten Hexer.
„Guck mich nich so an, wenn wir zwei hübsch’n durch de Mensch’nwelt gehn und du de ganze Zeit flennst, denk’n de doch, datt ich watt mit dir mach und bucht’n mich ein.“
Tja, den Gedanken würde nun niemand mehr haben, denn eine mittelgroße schlanke Frau stand vor ihr.
Skylas Blick wanderte vom braun gelockten, langen Haar in ein ovales nettes Gesicht. Einzig die Augen konnte Skyla erkennen. Auch die Kleidung sah normal aus. Dunkelblaue Jacke, weiße Bluse, Jeans und Turnschuhe in Weiß.
Dann ging Toraper ein paar Schritte an Skyla vorbei und dabei musste sie unwillkürlich lachen. Rein äußerlich eine durchweg hübsche Frau, die o-beinig wie ein Cowboy lief.
„Watt is’n, ach ich weiß, ich bin viel zu schön für de Menschlein oder watt?“
Skyla griente. „Könnte man so sagen.“
Auf ihrem langen Flugweg durch die Hexenwelt gab Skyla alles, um einen Funken Weiblichkeit in Toraper zu bekommen.
Zwei Tage flogen sie durchs Hexenreich und auch Toraper nutzte die Zeit, um dem jungen Hexlein so einiges beizubringen. Skyla wurde über viele Regeln in dieser Hexenwelt aufgeklärt und lernte sich in der Wildnis zu orientieren. Außerdem lernte Skyla, wie sie sich von der meist seltsamen Natur ernähren konnte und ein paar sinnvolle Hexereien.
„So, nu muss ich dir watt sag’n, das wichtig is. Wir sind in wenig’n Stund’n am Tor zur Menschleinwelt, da stehn Wächter, mindestens ein Bursche. De könn’n meine Gedank’n nich lesen, weiß nich warum, klappt halt bei mir nich. Is aba für uns echt gut. Solang du deine Schnute hältst, komm’n wir durch, wenn de quatscht, sind de sofort in dein’m Schädel. Bei einfach’n Hex’nfräuleins unter fünfzehn Jahre, könn’n de dein Hirn zerleg’n. Krieg’n alles watt de denkst raus, und dann dampft de Kacke. Haste datt verschluckt?“
Mittlerweile hatte Skyla sich an die seltsame Ausdrucksweise ihres Begleiters gewöhnt und nickte.
„Gut, ich sach denen, datt de stumm bist, datt klappt.“
Gegen Nachmittag steuerte Toraper eine kleine Hexenstadt an. Genau wie Jason musste Skyla nun im Eiltempo lernen, was bei den Anflugtürmen zu beachten sei. Was ihr weniger schwer fiel als Jason.
So ging alles reichlich flott vonstatten und sie durchquerten die Stadt, um in das zentral gelegene Hotel zu kommen.
Zum ersten Mal betrat Skyla ein Hotel zum Reisen. An der Rezeption wurden sie von einer Hexe gefragt, was ihr Ziel wäre.
„Menschenwelt, zwecks Studium und Besuch eines Freundes“, antwortete Toraper knapp.
„Wollen Sie umgehend reisen oder Wissen vermitteln?“
Toraper lächelte die Hexe freundlich an. „Heut nur reisen.“
„Gut, begeben Sie sich in den vierten Stock, das Menschenreich ist in fünfundvierzig Minuten offen.“ Die Hexe zeigte zur Treppe.
Skyla ging Toraper schweigend hinterher, ihr war doch glatt entgangen, dass ihre momentan weibliche Begleitung sich bei dem Gespräch normal artikuliert hatte … seltsam.
„Datt is ma gedieg’n, de hab’n nen Lifter, willste den benutz’n, oder Trepp’n hoch klappern?“
„Wie benutzt man denn einen Lifter?“
„Du setzt dich auf’n Bes’n und wirst in den viert’n Stock geschleudert. Echt irre im Bauch, is auch einfach.“
„Na gut, ich mach’s.“ Skyla stellte sich in den offenen kleinen fahrstuhlähnlichen Raum.
„Welche Etage?“, fragte sie eine freundliche Stimme.
„Vierte Etage.“ Sie klammerte ihre Finger um den Besenstiel.
Von unten kam ein laues Lüftchen, das nichts bewirkte. Fragend sah sie Toraper neben sich an, der grinste nur. Da stieß sie plötzlich ein Luftdruck vom Boden ab, der so stark war, dass sie ängstlich nach oben blickte. Irrsinnig schnell kam die Decke auf sie zugerast, ihre Augen weiteten sich immer mehr. Sie sah bereits ihre Innereien an der Decke kleben, da bremste ein Gegendruck sie ab und katapultierte sie in den Flur der vierten Etage. Leichenblass fiel ihr der Besen aus den Händen.
„Is vorbei, setz dich auf’n Sessel, gönn dein’m Mag’n ne Pause.“
Sie nickte und ließ sich von Toraper zu einem Sessel leiten.
„Is nich jedermanns Ding, einfach gewöhnungsbedürftig.“ Er reichte ihr eine Papiertüte. „Falls watt rauskommt, mach de Einrichtung nich schmuddelig.“
Im Seelenreich …
Der dritte Tag begann im Reich der Seelen wie jeder andere Tag. Fararot wurde von Sabera nicht geschont. Sie schickte ihn zu den Seelen, die ihm alles denken unmöglich machten.
Ein Höllenhundfürst, der immer das Gefühl der Macht in sich trug, musste diese aus den Krallen legen.
Und es kostete ihn beinahe den Verstand.
Sabera widmete sich unterdessen den Vorbereitungen, um Jason den dritten Aufrüster zu senden. Sie schlug das Buch der Drags auf und blätterte auf die Seite für den entsprechenden Aufrüster. Diesmal musste sie die Formel des Rituals summen.
Sie nahm den Flügel und sah zu, wie er in das blaue Gel glitt, Jasons Flügel waren über seinem Kopf an den Gelenkknochen gekreuzt. Der silberne Flügel berührte und verband sich mit beiden Flügeln gleichzeitig, worauf sie sich regenerierten. Rein äußerlich war Jasons Körper wieder der alte, doch weiterhin wie tot.
Sabera versprach sich große Hoffnung, wenn das Dragherz - nach dem Dragpanzer - an der Reihe wäre. So es die Draggöttinnen wollten, stimulierte das Herz dann wieder das fließende Blut und sein Gehirn.
Nun, da alles an ihm wiederhergestellt war, nahm Sabera einen Lederfetzen, der ausreichend war, seinen Schritt zu verbergen und ließ ihn durch die Flüssigkeit an sein Ziel gleiten. Sicher müsste das nicht sein, da außer ihnen keiner einen Anstoß daran nehmen würde. Aber für Jason wäre es sicher besser zu wissen, er wäre nicht gänzlich nackt.
Sabera beobachtete ihn wie gewohnt aus ihrem Sessel. Anhand der alten Prophezeiungen und ihren Zeitreisen, müsste Jason schon lange geistig mit ihr reden.
„Wie kann das Leben dreier kleiner Drachenmädchen von so bedeutendem Einfluss sein, dass nichts mehr von der Zukunft zu sehen ist? Was hat die Vorsehung mit uns vor?“
Wovon Sabera nichts wusste, da sie dem keinerlei Bedeutung beimaß, waren die Gefühle zwischen Skyla und Jason. Alles Vermeintliche hatte sie gesehen, doch dieser lebenswichtige Aspekt fehlte in ihrer persönlichen Zukunftsrechnung.
Ab dem Moment, da Jason Skyla aus dem Heim holte, hatte sie ihren Auftrag von Axa - Elaine zu töten - ihr tiefstes Inneres verdrängt.
Unwissentlich übte Jasons Urinstinkt bei ihrem ersten Treffen seinen Einfluss auf sie aus, als er ihr in die Augen sah. Er hatte in diesem Moment die Macht alles zu ändern und durchbrach die natürliche Zeitsperre für Liebesgefühle, beiderseitig.
Manchmal wird die Geschichte umgeschrieben ... mit einem Augenaufschlag.
Zeitlich gesehen hätten die beiden nie so zueinander gefunden.
Dass Jasons Töchter überlebten, war ein wesentlicher Aspekt dessen, denn sie waren und wussten mehr. Durften aber nichts sagen, da sie als Draggöttinnen eine höhere Position innehielten.
Zeit oder Raum waren für Sabera kein Hindernis, doch Draggöttinnen legen sich auch nicht gerne fest. Sie änderten gelegentlich ihre Meinung, um von ihrem Standpunkt den respektableren Weg zu ebnen. So er ihnen zusagte.
Sie hatten in diesem Fall die Entscheidung einem kleinen Jungen überlassen, der reinen Herzens nun seiner ersten Bestimmung folgen sollte.
Er war und blieb der Friedenbringer.
Und die Draggöttinnen hatten noch viel mit ihm vor.
Ab dem Endergebnis seiner Entscheidung, wie er die Erde aus seiner Sicht erretten wollte, wurde die Zukunft neu geschrieben. Zu lange schon stand fest, wie alles Leben auf der Erde bald sein Ende fand, denn den Draggöttinnen wurde es zusehends langweiliger. Sie konnten den geplanten Untergang den Sehern und Sabera durch Gaukeleien lange vorenthalten.
Und nach Jasons Entscheidung würde es den Sehern für eine gewisse Zeit wieder möglich sein, die Zukunft zu ergründen.
Es war auch das erste Mal, dass die Göttinnen selber den Platz zwischen den Lebenden erwählt und nicht nach ihrem üblichen Plan gehandelt hatten.
So kurz nach ihrer Geburt die sterblichen Hüllen zu verlassen, reizte sie nicht mehr. Sie hatten Jason ausgebildet, sahen seinen Mut und spürten die Gefühle zwischen dem Jungen und seiner Skyla.
Da gaben sie ihren alten Plan auf.
Nichts war für die Draggöttinnen so abwendbar wie die Zukunft. Und eins war sicher, es war an der Zeit für einen Lauf der Dinge - ohne ihr Zutun. Jason würde freie Hand gelassen werden, sowie auch allen anderen, die danach kamen.
Das andere vorbereitete Sonnensystem konnte mit der Vollendung noch ein paar Jahrtausende warten. Die Draggöttinnen hatten keine Zeitnot. Sie banden ihre Vorhaben nie an einem sturen Plan fest.
Die Spannung stieg … Wie würde es ohne den Eingriff der drei laufen? Welche Richtung würde eingeschlagen werden, wenn man die Bewohner selbst entscheiden ließe?
Alle drei wollten hellhörig in die Zukunft lauschen.
Fararot stand im Eingang. „Wie geht es ihm?“
„Unverändert, ich verstehe das nicht. Was läuft falsch? Irgendetwas habe ich übersehen, aber was? Es muss so bedeutungsvoll sein.“
„Vielleicht braucht er doch die Kraft seiner Familie?“
„Ich würde dem widersprechen, doch ich kann in der jetzigen Situation keine Entscheidungen treffen. Was, wenn ich falsch liege? ... warten wir die restlichen Aufrüster ab.“
In der Hexenwelt …
Eine Hexe kam aus dem Lifter, schritt an allen vorbei und hexte eine freistehende Wand zur Falttür um. Skyla sah der Prozedur neugierig zu. Niemals zuvor durften die Kinder, die das Hotel betraten, bei der Öffnung eines Tores dabei sein.
Toraper band sich inzwischen die Haare zusammen.
Skyla wollte fragen, warum er das tat, doch er hielt sich den Zeigefinger vor den Mund, sie schwieg. Zwei schlichte Schiebetüren waren hinter der Wand verborgen.
„Treten Sie beiseite! Reisende der Zonen kommen an“, sprach die Hexe und alle wichen an die Wände zurück. Nur Skyla blieb zu weit im Raum stehen.
Toraper zog sie zu sich. „Kein’n Mucks!“
Die Schiebetüren glitten lautlos auseinander. Gähnende Schwärze breitete sich im Tor aus.
Die Atmosphäre des Warteraums schnürte Skyla die Kehle zu.
Mit einem Mal hatte sie das Bedürfnis, lieber mit dem Schiff zu reisen, selbst wenn es Wochen dauern würde.
Mehrere Hexen und Hexer traten aus der Schwärze in den Raum, schüttelten sich die wirren Haare aus und sahen sich verunsichert um. Einige hatten Tiere bei sich, die verstört umherliefen. Erst auf Zurufe ihrer Besitzer konnten sie sich orientieren.
Ein Wolfshund schnüffelte nervös die wartenden Gäste ab und eine große rote Katze sprang über die Sessel. Alles in allem kamen um die zwanzig Reisende durch das Tor.
Zuletzt kamen zwei Männer hindurch, von denen Skyla einen nur zu gut in Erinnerung hatte. Es war ein rothaariger dicklicher Mann, Cliff Drenzo, der Vater von Satana.
Er wurde von einem dunkelhaarigen großen Hexer begleitet. Skyla konnte nicht ganz nachvollziehen, was Rob hier wollte, doch dann fielen ihr die grauen Schläfen und die leichten Falten im Gesicht des Mannes ins Auge. Auch seine Frisur war anders, er trug die Haare schulterlang und zum Zopf gebunden.
Sein Blick blieb ebenso an ihr haften, denn Cliff Drenzo sagte etwas zu ihm, worauf sich seine Augen verfinsterten.
Um zu den Treppen zu gelangen, mussten die beiden an Skyla vorbei.
Toraper hatte den abschätzenden Blickkontakt verfolgt und schob Skyla hinter sich, er grinste die Männer unverhohlen an. Als ob der dunkelhaarige Hexer ahnen würde, dass keine richtige Frau vor ihm stand, sah er angewidert weg.
Die Hexer hatten bereits den Treppenabsatz erreicht, als der, der Rob so ähnlich sah sich nochmals zu Skyla umdrehte und düster lächelte, bevor er die Treppen hinab stieg.
„Du musst mächtige Freunde hab’n, wenn du solch’n Feind’n frei ins Gesicht schaust.“
„Wieso Feinde? Ich kenne den rothaarigen nur als Vater eines Mädchens, das auch auf Dragonrock lebt. Den anderen kenn ich gar nicht, er sieht bloß einer Person ähnlich, die ich sehr gut kenne.“
„Nun, wenn mich einer so angafft, dann weiß ich, datt ich vorsichtig sein muss.“
Skyla zuckte mit den Schultern. Unwissentlich hatte sie dem Erzeuger von Rob und Leonard gegenüber gestanden.
Hingegen wussten die Männer offensichtlich, wer sie war und wie sie zu Jason stand.
„Wir sind dran. Wo haste denn bei den Menschlein gewohnt?“
„In Deutschland, warum willst du das wissen?“
„Erklär ich dir dann. Welche Stadt genau?“
„Bremen.“
„Du meinst datt, watt in Norddeutschland liegt?“
„Ich denke ja, gibt es denn mehrere?“
„Is nu nich wichtig, gib mir die Hand.“ Toraper ging mit Skyla auf die Hexe neben dem Tor zu. Er flüsterte ihr etwas ins Ohr, sie nickte und kreiste mit ihrem Z-Stab vor dem schwarzen Schlund. Skyla konnte ihre Augen nicht von der gähnenden Schwärze abwenden. All ihre Sinne schlugen Alarm. Wie sollte man durch das Nichts reisen?
„Komm Kleines.“ Er tauchte in die Schwärze und zog die sich mächtig sträubende Skyla hinterher.
Dunkelheit umklammerte die beiden, höchstens drei Schritte waren sie gegangen, als sie aus einer Wand wieder heraus traten.
Grelles Licht schien ihnen entgegen. Skyla wollte unweigerlich losschreien, aber Toraper hielt ihr die Hand vor den Mund.
„Sei still, wir sich doch hier nich in ’nem Horrorfilm“, zischte er ihr ins Ohr.
Mit seiner, nein momentan ihrer Hand vorm Mund blinzelte Skyla ins Licht und erkannte, wo sie standen. In einem Kino. Genauer gesagt, mitten in einer Vorführung. Sie waren direkt hinter den sitzenden Besuchern aus der Wand getreten, zum Glück hatte niemand ihre Ankunft bemerkt.
„Komm mit, oder willste den Film erst zu Ende seh’n?“
Musste nicht sein, war nur ne Dokumentation und auch so hatte sie kein Interesse. Skyla schüttelte den Kopf und sie verließen den Kinosaal.
Eine junge Frau in der Dienstbekleidung des Kinos kam ihnen auf dem Gang entgegen. „Halten Sie Ihre Karten bereit, wenn Sie zurückkommen“, forderte sie die beiden auf.
Toraper lächelte und nickte der Frau zu. Langsam, ohne auffällig zu erscheinen, gingen die beiden durch das Foyer des Kinos nach draußen. Skyla fiel sofort auf, wo sie waren und strahlte übers ganze Gesicht.
„Na, kennste dich hier wech? Dann klär mich ma auf.“
„Wir sind am Hauptbahnhof von Bremen“, gab sie voller Stolz kund.
„Na, denn kannste bestimmt auch sag’n, wo datt nächste Kino is.“
Skyla sinnierte kurz. „Mir fällt so spontan nur das beim Weserpark ein, warum?“
Toraper stieg die Treppen vor dem Kino hinab. „Weil wa da hineier’n müss’n. Datt is auch der Grund, warum wa in ne Stadt musst’n, die dir bekannt is. Sonst hätt’n wa uns dusselig gesucht.“
Einleuchtend ... Skyla folgte ihm schweigend, erst vor der Treppe hielt sie ihn fest. „Nicht, dass ich was dagegen hätte durch halb Bremen zu fahren, doch wir stehen direkt vor einem Kino!“
„Klar, hatt ich fast vergess’n. Du kennst dich mit’m Reis’n ja nich wech. Wir dürf’n nich datt selbigste Kino benutz’n, durch datt wa gekomm’n sind. Sonst kann’s passier’n, datt wa wieder zurück geh’n oder datt datt Tor off’n bleibt. Zu viel Hexerei an ’nem Mensch’nort kann ins Auge geh’n.“
„Wieso sind eigentlich Kinos die Tore zu den Menschen? Und was ist, wenn die geschlossen haben? Muss man dann warten, bis die öffnen?“
Toraper verdrehte die Augen, bemühte sich dann aber dennoch Skyla eine Erklärung zu liefern. „Im Mittelalter ham wa Brückenausgänge gehabt, da ging datt noch. Doch heut läufste ja gleich de Menschlein in de Finger. Ging also nich mehr. Bahnhöfe waren auch ma in Gespräch, aba auch da is zu viel Trub’l. Nich datt wa im Gewühl auffall’n, aba es kommt halt ma vor, datt de nich gut rüberkommst. Ich mein durchs Tor, und dann wirste blöd angegafft. Vor Besoffen’n is datt nich tragisch, aba dafür sauf’n zu wenige. Kinos sind seit’n paar Jahr’n aktuell, manchma gehn auch öffentliche Klos, aba datt is auch nich gut. In Kinos is es dunkel und datt schafft wenig’r bis gar keine Sicht’r.“
„Und wenn der Film noch nicht angefangen hat?“
Toraper kraulte sich das Kinn, was nicht gerade weiblich aussah. „Oh Mann, du machst mich fertig. De Hexe vor’m Tor macht datt so, datt de richtig landest. Wenn de datt nächste ma reist, fragste de, wie de datt macht. Gibt auch noch andre Tore, dazu sag ich jetzt aba nichts. Sonst bekomm ich von dein’n Frag’n noch Löcher im Hirn. Könn wa jetzt weiter? Ich bin nich gern unter den Menschlein.“
„Mich stört das nicht. Dann gehen wir jetzt Fahrkarten kaufen.“ Skyla steuerte die ihr bekannte Haltestelle des Busses an, der in die Richtung fuhr, wo sie vor nicht allzu langer Zeit noch zu Hause war. An der Haltestelle stand sie unschlüssig vor einem Automaten, an dem man Fahrkarten ziehen konnte. „Ich habe kein Kleingeld, und nun?“
Toraper griff in seine Hosentasche. „Welche Währung?“
„Euro.“
„Nich mehr D-Mark?“
Skyla schüttelte den Kopf. „Schon lange nicht mehr.“
Er zog die Hand mit einer Menge Münzen hervor. „Da, such dir de richtig’n raus.“
Skyla peilte in die Richtung, aus der der Bus kommen würde und zog die Karten. Sie guckte auf die Anzeigetafel der Haltestelle. „Der Bus kommt in drei Minuten. Ist das schlimm, wenn ich den direkten Weg von hier aus zum Weserpark nicht kenne?“
„Nee, aba wir sind doch hoffentlich nich Stund’n unterwegs?“ Gequält schaute Toraper über den großen Platz, auf dem so viele Menschen durcheinander wuselten.
Das stetige Wechseln der Busse und Bahnen machte ihn auch nervös.
„Ich glaube nicht, ich bin auch noch nie von hier aus bis ganz zum Weserpark gefahren. Aber mehr als eine bis anderthalb Stunden sind wir sicher nicht unterwegs.“
„Dann geht’s ja. Bleib bloß in meiner Nähe.“
Der Bus kam pünktlich nach Fahrplan, sie stiegen ein und setzten sich nach hinten. Skyla war so aufgeregt, dass sie rote Wangen bekam. Sie drückte ihre Nase an der Fensterscheibe platt, als sie an dem Platz vorbeifuhren, auf dem im Herbst immer der Freimarkt stand. Sie fühlte sich das erste Mal, seit Jason sich verabschiedet hatte, etwas leichter.
Alle bekannten Stellen ließen ihre Erinnerungen förmlich explodieren. Bis sie sich immer mehr der Haltestelle näherten, die sie immer ausgestiegen war, um nach Hause zu kommen.
Die Leichtigkeit verflog, wie sie gekommen war.
Schwermütig sackte sie im Sitz zusammen. „Mama“, flüsterte sie leise. Tränen bahnten sich ihren Weg an ihren Wangen hinunter. Niemand würde da sein, alle waren fort oder tot.
Keiner nähme sie in den Arm um sie zu trösten. Ein elendiger Druck baute sich konstant um ihr Herz auf und sie wollte am liebsten aufschreien. Toraper, der ein feines Gespür für andere hatte, legte seinen Arm um ihre Schulter.
Die dritte Haltestelle vor der Endstation stiegen sie aus. Skyla brauchte frische Luft. Sie konnten nicht an der Endstation in den Bus steigen, der sie zu der Straßenbahn fahren würde, die sie ihrem Ziel näher gebracht hätte.
Skyla schaute an den Mehrfamilienhäusern hoch.
Wie oft war sie diesen Weg zu ihrer Schule gegangen?
„Wir müssen über die Brücke da laufen. Hinter der Berliner Freiheit fährt die eins, die bringt uns weiter zum Weserpark.“
„Watt is ne Berliner Freiheit?“ Toraper sah die viel befahrene Brücke hoch.
„Das ist ein Einkaufszentrum. Da bin ich immer mit Jason hingegangen, wenn wir einkaufen mussten.“
„Gib’s da watt zu ess’n? Mein Mag’n, schreit nach watt zu mampf’n.“
„Klar, ist ja ein Einkaufszentrum.“
Sie überquerten die Brücke und gingen zur linken Seite eine Treppe runter. Kurz darauf standen sie auf dem freien Vorplatz zum Einkaufszentrum. Skyla sah unweigerlich zu dem Eiscafé rüber, dann wanderte ihr Blick zu einer Bank. Dort hatte sie sich im Sommer öfter mit ihrer Mutter ausgeruht und ein Eis gegessen. „Können wir uns beeilen, ich mag das hier alles nicht sehen.“ Skyla zog an Torapers Jacke, doch der blieb wie angewurzelt stehen.
„Nee, du erzählst mir jetzt ma, watt gescheh’n is. Ich merk doch, datt de gleich losschreist.“
Skyla schlug den Weg zum Vahrer See ein, dort ließ sie sich auf eine Bank plumpsen. Stockend begann sie sich ihren Seelenschmerz von der Leber zu reden. Sie erzählte Toraper ihren gesamten Weg, von hier bis zu ihrer Begegnung.
„Datt is nich fein. Axa is
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Das Copyright liegt bei mir! Text oder Textabschnitte zu kopieren ist verboten!
Bildmaterialien: Mein Bild, Finger weg!
Lektorat: Sorry, konnte mir weder ein professionelles Lektorat, noch ein Korrektorat leisten!
Tag der Veröffentlichung: 18.12.2016
ISBN: 978-3-7396-8919-7
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Vielen Dank an Sunny, die mir beim Lektorieren unter die Arme gegriffen hat!