Sie begleitete ihn immer. Eingesperrt in ein vasenähnliches Gefäß. Nie ging er ohne sie. Er fühlte sich schuldig. Schließlich war es sein Verrat, der sie bewog zu gehen. Er nahm seine Schlüssel, sperrte die Tür zu ihrem gemeinsamen Wochenendhaus auf. Staub tanzte in einem Lichtstrahl, der durch ein Fenster schien. Früher tanzte sie so. Schmerzhafte Erinnerungen stiegen auf. Er sah sie wie eine Feder durch den Raum gleiten, sorglos lachend. Damals, in ihren Flitterwochen. Langsam zog er die Bettlaken vom Mobiliar und ließ sie zu Boden gleiten. Hier saßen sie oft. Tranken Wein, unterhielten sich. Zumindest am Anfang. Später gab es keine Zeit mehr dafür. Später war er der erfolgreiche Geschäftsmann mit Mercedes vorm neugebauten Haus. Für alles hatte er seine Leute. Eine Reinigungskraft, einen Gärtner, einen Fitnesstrainer und die ein oder andere Geliebte. Und dann, dann stand plötzlich die Polizei vor der Tür. Seine Frau - weiß wie die Wand - brachte die zwei Uniformierten in sein Arbeitszimmer. Sie durchsuchten sein ganzes Haus. Nahmen Akten mit. Nahmen seinen Computer mit. Nahmen ihn mit. Da saß er dann. Eineinhalb Jahre. In U-Haft. Dass seine Gläubiger in der Zwischenzeit seine Frau besuchten, wusste er damals nicht. Sie erwähnte es mit keiner Silbe. Bei ihren Besuchen nicht und auch nicht in den vielen Briefen.
Wie konnte es nur so weit kommen? Er kannte die Antwort:
Das Gesetz hatte versagt. Er war nie schuldig gesprochen worden. Als er endlich entlassen wurde, freute er sich.
Er hatte lange Zeit gehabt, sich auf das Wesentliche zu besinnen. Er wollte mit seiner Frau noch einmal ganz von vorn beginnen. Geld zum Leben war noch genug da. Er hatte sich abgesichert. In ihrem Wochenendhaus auf dem Land wollte er mit ihr leben. So hatte er sich das gedacht. Sicher würde sie sich freuen. Sie war immer sehr gerne da und außerdem hatte sie sich oft beschwert, dass er so viel arbeitete. Kinder hatten sie keine. Sie hatten nie den richtigen Zeitpunkt gefunden – und dann war es plötzlich zu spät. Sie sprachen nie darüber, aber er glaubte zu wissen, dass sie sehr gerne Kinder gehabt hätte. Er ging zum Treppenaufgang, der ins Dachgeschoss führte, wischte die Spinnweben mit einer fast liebevollen Geste weg, stieg hinauf und öffnete die Luke. Er spürte die staubige Hitze des Sommers. Ja, Sommer war es damals auch, als er nach Hause kam. Er wunderte sich etwas, weil sie ihn nicht erwartete. Auch vermisste er den geliebten Apfelkuchenduft. Es gab immer frisch gebackenen Apfelkuchen, wenn er nach Hause kam. „Vielleicht ist sie einkaufen gegangen“, dachte er bei sich, nahm einen Whisky, setzte sich auf die Couch und wartete. Sie kam nicht. Er ging ins Schlafzimmer. Ihre Kleider hingen im Schrank, sie hatte ihn jedenfalls nicht verlassen. Im Arbeitszimmer fand er sie schließlich. Sie lag zwischen unzähligen Kartons, gefüllt mit seinen Akten, die die Polizei mittlerweile freigegeben hatte.
Als er sie ansprach, reagierte sie nicht. Er ging zu ihr, um ihr beim Aufstehen behilflich zu sein, er wollte sie in die Arme schließen. Doch sie rührte sich nicht. Er beugte sich ihr zu – sie atmete nicht. Ihr Körper fühlte sich kühl an. Auf den Wangen glitzerten Tränenspuren. In der Hand hielt sie zwei Briefbögen.
Eine Hotelrechnung für ein Doppelzimmer, Speisen und Getränke, ausgestellt auf das Ehepaar... Er musste nicht weiter lesen. Er wusste nur zu gut, dass ihn damals seine Sekretärin begleitet hatte. Seine Frau wartete zu Hause auf seine Rückkehr. Natürlich ahnte sie nichts.
Der zweite Bogen enthüllte die Rechnung eines Juweliers - rund 8.000 Euro für ein Armband. Damit hielt er eine seiner Gespielinnen bei Laune. Seine Frau hätte solch erkennbar teuren Schmuck niemals getragen.
Der sofort herbei gerufene Arzt sagte ihm nur, dass ihr Herz offensichtlich einfach aufgehört hatte zu schlagen. Als ob sie selbst den Not-Aus-Schalter betätigt hätte. Es gab keine gesundheitlichen Gründe für den Stillstand.
Er stand noch immer auf dem Dachboden. Durch die bunte Glasscheibe des Dachfensters schien die Sonne. Ein sehr schönes Nachmittagslicht. Es erzeugte genau die richtige Stimmung für sein Vorhaben. Er stellte die Urne auf den Fußboden ins Sonnenlicht, sodass sie leuchtete wie ein Rubin. Rot wie die Liebe, die er für sie empfand. Immer noch. So viele Jahre danach. Er stieg auf einen Stuhl, warf das mitgebrachte Seil über einen Deckenbalken, knüpfte den Knoten. „Ich küsse Dich mein Engel“ sagte er, legte die Schlinge um seinen Hals. „Ich hoffe, ich werde Dich finden!“ Er stieß den Stuhl mit den Füßen weg, zuckte noch zwei, drei Mal, aber dann war es vorbei. Endlich vorbei. Zumindest in dieser Welt.
Texte: Andrea Senf
Bildmaterialien: Andrea Senf
Tag der Veröffentlichung: 15.02.2012
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