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Kapitel 1


24.12.2011:



Da sich meine Tante die Mühe gemacht hat, mir Dich, liebes Tagebuch, zum Weihnachtsfest zu schenken, möchte ich ein guter Neffe sein, ihrem Wunsch nachkommen und Dir meine geheimsten Erlebnisse anvertrauen. Ich bin mir sicher, Du wirst mir ein guter Gefährte durch die nächsten hundert Jahre werden und mir die ab und zu aufkommende Langeweile vertreiben. Schreiben braucht Zeit. Und Zeit habe ich mehr als genug. Schließlich bin ich ein Unsterblicher.

25.12.2011:



Zuerst möchte ich Dir ein paar Dinge über mich erzählen. Vor rund einhundertelf Jahren sprang eine Katze über mein offenes Grab. Damit war mein Schicksal, sprich meine „Erweckung“, besiegelt. Diese Tiere sind übrigens –entgegen dem modernen menschlichen Glauben- noch heute als „unrein“ einzustufen, denn sie sind nach wie vor in der Lage, aus menschlichen Überresten Vampire entstehen zu lassen. Der Mensch als solcher glaubt nicht an das magische Wesen dieser Tiere. Im Gegenteil, er hat Hund und Katz´ entfloht, gezähmt und an Wohnungen gewöhnt. Lebt mit ihnen in trauter Gemeinschaft und liebt es, mit ihnen zu kuscheln. Komisch sind sie schon, diese Sterblichen…

Na, sei es, wie es ist. Damals jedenfalls rannten alle Besucher meiner Beerdigungszeremonie kreischend und heulend davon, wohl wissend, welches Schicksal mir beschieden war. Ich hingegen stieg aus meinem Loch und sah mich ratlos um. Glücklicherweise zeigten sich die anderen Untoten bald und nahmen mich in Ihre Gemeinschaft auf.
Nach und nach suchte und fand ich Familienmitglieder, denen es auch nicht vergönnt war zu sterben. Tante Philomena nahm sich meiner an – ich war damals gerade mal 22 Jahre alt. Sie behandelte mich, als wäre ich ihr eigener Sohn. Sie führte mich in die Geheimnisse des Gesellschaftstanzes ein und sorgte dafür, dass ich die schönsten Mädchen aus den besten Familien kennen lernte. Half mir über die ein oder andere unglückliche Liebe hinweg und bäckt noch heute Unmengen ihrer unglaublichen Teekekse für mich, die sie in einer silberfarbenen Keksdose auf dem Küchenregal lagert. Ich liebe diesen Duft nach Zitrone und Vanille! Kurz: Sie sorgte dafür, dass ich meinen Weg fand.

Sie unterstützte auch meinen Plan, als Austauschschüler nach Afrika (zu Tante Owamba) zu gehen und die Kunst des Vampirismus in Afrika

zu studieren. Mittlerweile bin ich wieder zurück, habe meine Doktorarbeit geschrieben und veröffentlicht. Nun bin ich „Dr. vamp.“

. Und darauf bin schon ein bisschen stolz.

26.12.2011:



So. Jetzt ist es geschafft. Das Weihnachtsfest ist um. Die Verwandtschaft strömt in alle Himmelsrichtungen davon. Nun wird es wieder etwas ruhiger hier. Ich denke, ich werde jetzt mit Tantchen eine schöne Tasse Tee trinken und ein paar dieser wunderbaren Kekse dazu essen. Endlich sind wir wieder allein!

27.12.2011:



Tantchen hat mir gestern beim Tee gesagt, dass sie zum Jahreswechsel ihre Schwester in Rumänien besuchen möchte. Ich werde hier bleiben und das Haus hüten. Was werde ich bloß unternehmen? Auf große Feierlichkeiten habe ich keine Lust. Mein Geist sitzt wohl noch in der afrikanischen Sonne…

28.12.2011:



Meine einsame Zeit ist angebrochen. Tante Philomena hat ihre Reise tatsächlich angetreten und Deutschland heute Nachmittag per Flugzeug in Richtung Bukarest verlassen. (Glaubt eigentlich immer noch jemand daran, dass wir Vampire Probleme haben, fließende Gewässer zu überqueren?).

Natürlich hat sie mir vor ihrer Abreise noch eine ordentliche Ration Teekekse gebacken!

29.12.2011:



WOW! Ich habe beim Einkaufen Milenda Wagenbauer getroffen! WOWWOWWOW! Vor meinem Aufenthalt in Afrika haben wir viel Zeit miteinander verbracht. Wir haben uns stundenlang über die „wirklich wichtigen“ Dinge des Lebens unterhalten. Ich kann nicht fassen, dass ich sie fast vergessen hätte! Sie hat mich gefragt, was ich am Silvesterabend tun werde und mir ihre Telefonnummer gegeben. Natürlich habe ich nicht zu erkennen gegeben, dass ich keinerlei Pläne habe. Ich habe den ganzen Tag darüber nachgedacht. Ich glaube, ich weiß jetzt, was ich tun werde! Ich werde sie zum Essen einladen. Tantchen hätte bestimmt nichts dagegen.

30.12.2011:



Sie hat zugesagt! Morgen Abend um 19 Uhr wird sie zum Essen erscheinen! Was koche ich bloß? Oje, ich muss noch putzen, einkaufen, kochen… Was ziehe ich an? Ach, das ist alles egal, Hauptsache, sie hat zugesagt!
Habe mich entschieden. Es wird knuspriges Hühnchen nach Tante Philomenas Rezept geben, dazu geröstete Maroni und Wurzelgemüse. Danach werden wir uns an den Kamin setzen und ein lauwarmes Tässchen afrikanischen Blutes mit Sahnehäubchen und Zimtstaub obendrauf genießen. Und um Mitternacht haben wir vom Balkon aus einen wunderbaren Blick auf die ganze Stadt. Oh Mann, ich freu´ mich drauf!

01.01.2012:



So darf ein neues Jahr beginnen! Mit Funken und Leuchten und – mit Milenda! Pünktlich um 19 Uhr stand sie vor der Tür. Schön wie eh und je. Sie trug ein kurzes (ein sehr kurzes) rotes Kleid und um die Schultern hatte sie einen schwarzen Schal gelegt. Schwarze Pumps und eine ebenso schwarze Handtasche rundeten das Bild ab. Die Haare trug sie kunstvoll hochgesteckt. Sie hatte sich auf diesen Abend vorbereitet!
Mir blieb fast die Luft weg, als ich ihr öffnete!

Das Essen gelang mir wunderbar. Eigentlich hätte ihm mehr Aufmerksamkeit zukommen müssen, aber wir waren damit beschäftigt, uns in nervöser Konversation zu üben. Immer, wenn ich ihr in die Augen sah, fühlte ich eine gewisse Schwerelosigkeit, gepaart mit Bauchkribbeln. Mit welcher Grazie sie die Schenkelknochen des Hühnchens mit ihrem elfenbeinweißglänzenden Eckzahn durchknackte! Alles in allem: Sie war eine Augenweide. Später, sitzend am Kamin, nahm die Nervosität endlich ab. Wir unterhielten uns wie früher und verpassten um ein Haar den Countdown. Aber nur um ein Haar. Jedoch begann sie zu frieren – wie es Frauen so eigen ist. So hängte ich ihr mein Jackett um, sie schmiegte sich an mich und im Schein eines Bengalischen Feuers küssten wir uns lange. Erst heute morgen machte sie sich auf den Weg nach Hause. „Anständige Mädchen kommen am Tag heim“, sagte sie lächelnd.

Ich freue mich auf heute Abend, denn da wird sie wieder zu mir kommen. Und wir werden noch lange alleine sein, denn Tante Philomena steckt in Rumänien fest. Die Straßen dort sind wegen der ein oder anderen Schneeverwehung nicht mehr passierbar.
Ich hoffe nur, dass die Teekekse reichen…

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Tag der Veröffentlichung: 06.01.2012

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