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Dann brach das neunte Ehejahr an. Es blieb mir nicht viel Zeit zu grübeln. Mein Ehehimmel trübte sich ganz plötzlich durch einen Brief vom Gericht. Alf wurde wegen Hasardspiel zu 500 Schilling Strafe verurteilt. Mein geliebter Alf?! Nun wusste ich wo er seine Nächte verbrachte und wie Recht Mutter hatte. Ich war ehrlich bestürzt. Zum ersten Mal gab es bei uns Zank. Zum ersten Mal harte Worte.

Unsere Freunde rieten mir, die Buchhaltung in die Hand zu nehmen, um so einen Überblick über die Geschäftsgebahrung zu erhalten und zugleich die Einnahmen zu verwalten. Alf war schuldbewusst und sofort einverstanden. Er kam mir wie ein gemaßregeltes Kind vor – und er tat mir leid…. Aber es gab keinen anderen Ausweg. Ich musste Geld einteilen und die Strafe wenigstens in Raten abzahlen um Alf vor dem Arrest zu schützen.

Es ging alles wieder seinen geregelten Gang. Hansi ging in die Piaristenschule, Alf arbeitete fleißig und ich führte den Haushalt und die Buchhaltung.



Hansi in Schuluniform


Und doch war es nicht mehr wie früher…

Alf saß oft verdrossen und grübelte. Wenn er abends weggehen wollte gab’s Verdruss. „Du gehst ja doch wieder Kartenspiel. Wenn du mich liebst, dann beweis es mir und bleib zuhause!“ Aber immer nahm er wortlos seinen Hut und ging fort. Das wiederholte sich zwei- bis dreimal wöchentlich. Und sonntags war kein Geld für einen Ausflug da. Es reichte nur für einen Spaziergang in den Volksgarten. Trotzdem Alf fleißig arbeitete, war nie mehr Geld da, als für die notwendigsten Ausgaben. Die Kunden zahlten nicht, selbst ein Prinz A. nicht. Später erfuhr ich, dass Alf alles für seine eigene Tasche einkassierte. Oft lief ich zu den Eltern um Geld auszuborgen. Aber es fiel mir schwer. Konnte ich es doch selten zum vereinbarten Termin zurückzahlen.

Und so trug Alf alles weg (ins Pfandhaus) was es nur gab. Erst meine goldenen Firmungsuhr, meine Bettdecken, Bettvorleger, ein Stück Leinen und meinen Wintermantel. Alf selbst hatte nur mehr einen einzigen Anzug.

Wie sollte das nur weitergehen? Alf war sehr schweigsam und bedrückt. Da versuchte ich es nochmals mit meiner übergroßen Liebe. Wenn der Lehrjunge, den wir auf Kost und Quartier hatten, eine Besorgung, einen Geschäftsgang hatte oder in der Fachschule war, nahm ich Alf die Arbeit aus der Hand und schmiegte mich an ihn. Er strahlte und war glücklich. Er blieb abends dann wirklich öfter zuhause. Und immer redete ich ihm zu, das Geschäft doch zu verkaufen und als Arbeiter zu gehen. Es würde bestimmt wieder alles gut werden. Wir könnten alle Schulden abzahlen. Aber Alf wollte von meinem Vorschlag nichts wissen. „Wo denkst du hin? Vater hat sich das Geschäft durch schwere Arbeit aufgebaut. Das kann ich nicht verkaufen.“ „Aber so kann es nicht weitergehen. Was willst du tun?“ „Arbeiten und sparen“, sagte Alf.

Dann kam der 30. September 1930. Alf war fortgegangen, kassieren gegangen. Ich selbst, mittlerweile 28 Jahre alt, war noch immer zu schüchtern, um säumige Kunden aufzusuchen. Hansi war in der Schule. Der Lehrjunge lungerte ohne Arbeit herum. Da begann das Verhängnis! Der eigentliche Grund, für die furchtbarste Tragödie in meinem Leben.

Ein Kunde wollte seinen Anzug, den er vor 8 Wochen zur Reparatur gebracht hatte, abholen. Wir suchten überall, aber er war nirgends aufzufinden. Ich vertröstete den Kunden bis zum nächsten Tag. Ich ahnte Böses…..

Alf war sehr bestürzt, als ich ihn nach dem Anzug fragte. Er wurde abwechselnd rot und blass. „Er ist in der Pfandleihanstalt“, sagte er stockend. Ich konnte es nicht glauben! „Alf! Fremde Sachen! Was fällt dir ein!“ Mehr sagte ich nicht. Er sah mich an, voll Trotz und einem ganz fremden Ausdruck, den ich erst nicht enträtseln konnte. So ungefähr: warte nur, du wirst noch was erleben. Du wirst deine Worte noch bereuen ….

Es folgte ein trüber Abend und ein stummes zu Bette gehen. Auch eine schlechte Nacht. Ich dachte immer und immer wieder darüber nach, woher ich das Geld für den Anzug hernehmen sollte. Bei wem ausborgen? Mit diesen Gedanken schlief ich schließlich ein. Als ich morgens aufwachte, lag sein Kopf dicht neben meinem. So als hätte er in seinem Kummer zu mir flüchten wollen. Der ersten Regung meines Herzens zu Folge, hätte ich ihn küssen und trösten müssen. Aber ich hatte Angst mir was zu vergeben. Gestern grobe Worte, heute Küsse? Nein und nochmals nein! Immer sollte er es nicht so leicht haben. Er sollte nun sehen, wie er mit seinen Geldsorgen allein zu Recht kam.

Oft und oft habe ich es bereut, dass ich meiner Herzensregung nicht nach gab. Selbst heute, nach fast 40 Jahren, kann ich es mir nicht verzeihen. Wie anders wäre es geworden! Ein einzig gutes Wort hätte Wunder gewirkt.

So nahm das Schicksal seinen Lauf – einen ungeahnten Lauf!

Ich war schon lange an meiner Hausarbeit, als Alf aufstand. Voll Trotz nahm ich mehr erst gar nicht die Mühe in seinen Zügen zu lesen. Stumm stellte ich ihm sein Frühstück auf seinen Arbeitstisch und ging nach hinten ins Schlafzimmer um Hansi für die Schule fertigzumachen. Da öffnete Alf die Türe und rief freundlich: “Weibi, ich komm bald, ich geh Geld auftreiben.“ Ich drehte mich nicht einmal um und murmelte: „ja ja, ist schon recht."

Das war der Abschied zwischen zwei liebenden Menschen, ein Abschied fürs Leben! FÜR IMMER - aber das wusste ich damals noch nicht. Noch heute kann ich es nicht fassen.

Ich hatte keinen Groschen im Hause und konnte nicht einkaufen gehen. So wartete ich sehnsüchtig auf Alf. Aber es wurde Mittag, Hansi kam aus der Schule, der Lehrjunge aus der Fachschule. Alf war noch immer nicht zurück. Ich lief nach nebenan zu unseren Freunden und borgte mir Brot und Milch. Kochen konnte ich ja immer noch wenn Alf kam….

Statt ihm, kam wieder der Kunde von gestern um seinen Anzug. Da ich ihn wieder vertrösten musste, war er sehr böse und versicherte mir, er würde nie mehr wieder eine Arbeit bringen.

Ach, Alf würde das wieder in Ordnung bringen, wenn er mit dem kassierten Geld zurück kam. Die Stunden schlichen dahin. Alf kam nicht! Der Lehrjunge war zu Freunden gegangen, Hansi tollte in der Gasse mit anderen Kindern.

Ich sollte schon längst das Geschäft zusperren, aber ich stand wartend vor der Türe. Alf musste nun doch bald kommen. Es wurde 19h, es wurde 20h und er war noch immer nicht zu sehen. Da kam Herr Stein, ein junger, deutscher Student, ein Kunde von uns, vorüber. Er musste wohl an meiner Miene abgelesen haben, wie mir zu Mute war.

„Den ganzen Tag warten sie schon? Ja, dann tun sie doch etwas! Gehen sie zu seinen Eltern, zu seinen Brüdern, in sein Stammkaffee. Er muss doch wo sein! Und, dass ich es nicht vergesse, ich bin noch 5 Schilling schuldig. Streichen sie mich von der Schuldenliste (der Gute). Laufen sie schon, machen sie schnell! Ich kümmere mich um Hansi und bringe ihn ins Bett."

Nur zu gerne befolgte ich den Rat des Mannes. Voll Unruhe hätte ich es ja doch zuhause nicht ausgehalten. Aber all mein Suchen war vergebens, Alf war nirgends zu finden. Müde und niedergeschlagen kam ich nachhause. Herr Stein saß beim Bett meines schlafenden Sohnes. Ernstlich besorgt verabschiedete er sich und versprach, morgen zeitig früh nach uns zu sehen. In meiner Angst und Verzweiflung, tat mir seine Fürsorge wohl.

Das wurde eine furchtbare Nacht. Im Hofe neben uns, lebte eine Familie mit vier Personen. Jede davon kam einzeln heim. Nach der Torsperre. Die Schritte kamen immer näher, mein Herz klopfte, aber leider ging meine Tür nie auf. Immer wieder dachte ich, es sei Alf. Immer wieder setzte ich mich im Bett auf und lauschte – vergebens…. Nun verstand ich auch Alfs Blick bei unserem letzten Zank. In Ängsten sollte sein um ihn! Weinen sollte ich um ihn…..

Nach einer schlaflosen Nacht, brach furchtbares Leid über mich herein. Es kam Schlag auf Schlag!

Herr Stein kam, als Hansi sich schon zur Schule aufgemacht hatte. „Warten sie doch nicht, machen sie eine Abgängigkeitsanzeige. Ihr Mann kann ja irgendwo verunglückt sein.“ So ließ ich den Lehrjungen alleine im Geschäft und rannte zur Polizei. Aber was musste ich dort erleben! Ich wurde ausgelacht. „Aber junge Frau, das dürfen sie nicht so tragisch nehmen. Wegen einer Nacht! Er wird eine Geliebte haben. Der kommt schon wieder.“ Ich war empört. „Mein Mann ist mir treu! Der hat niemand neben mir!“, schrie ich. „Ach, das glaubt jede Frau. Wir haben Fälle, wo der Mann 8 u. 14 Tage wegblieb und dann wieder aufgetaucht ist. Gehen sie ruhig nachhause.“

Ruhig nachhause gehen! Weinend und ratlos wartete ich. Wartete vergebens…

Aber dann ging’s los! Einer nach dem Anderen gab sich die Türschnalle in die Hand. Kunden kamen um ihre Kleidung, die nicht da war. Gläubiger kamen einkassieren, die Krönung des Ganzen aber war ein Mann, der einen Wechsel einlösen wollte. Über 500 Schilling! Ich schämte mich. Ich wusste nicht ein noch aus. Mittags zog ich die Rollbalken hinunter, schickte den Lehrjungen weg und rannte mit Hansi abermals alle Verwandten ab. Wieder vergebens!

Wieder eine schlaflose Nacht. Es fielen mir Worte ein, die Alf einmal äußerte: “wenn ein Mensch abgängig ist, kann man ihn im Radio aufrufen lassen.“ Morgen wollte ich es gleich tun. Vielleicht steht Alf wo bei einem Radio und wartet darauf. Nichts will ich ihm sagen, als: „Alf, bitte komm nachhause! Es wird alles wieder gut werden!“

Aber dann kam eine Postkarte von Alf. „Letztes Geld für diese Karte. Verzeihe mir! Sorge gut für unseren Hansi. Ich scheide aus diesem Leben.“ Wie lange ich weinte, weiß ich nicht mehr, dann lief ich zur Polizei. „Bitte, bitte suchen sie ihn. Vielleicht ist er noch aufzuhalten. Bitte geben sie eine Durchsage im Radio.“ „Ja, das wird nicht viel nützen, aber wir können es versuchen. Es kostet 20 Schilling.“ „Ich habe aber keinen Heller!“ „Leider, dann können wir nichts machen. Aber trösten sie sich, nach zwei Tagen hat das ohnehin keinen Sinn.“

Keinen Sinn? Alf stand sicher irgendwo beim Radio und wartet auf einige Worte von mir und erst dann, bestimmt erst dann, macht er sein Vorhaben wahr – oder er überlegt es sich noch mal. Es ist ja nur wegen dem dummen Geld. Alf, ich kann nicht rufen, ich kann ja nicht….. Ich lief zu meinem Bruder und borgte mir 20 Schilling aus.

Auf der Polizei, riet man mir von einem Aufruf ab. „Schaun’s, was wollen’s denn. 3 Tage, 3 Nächte. Glauben’s, dass er noch lebt? Wenn er Selbstmordabsichten hatte, ist er längst tot. Sie werden das Geld für war Notwendigeres brauchen. Wir werden unser Möglichstes tun, um ihn zu finden. Sie hören von uns.“

Nun war ich allein mit meinem Kinde. Und ich fühlte mich selbst, wie ein hilfebedürftiges Kind, das man im tiefen, dunklen Wald alleine gelassen hatte.

Alle Reparaturen und Bügeleien die anfielen, übernahm ich, ohne zu erwähnen, dass mein Mann verschwunden ist. Bei Tag arbeitete ich gemeinsam mit dem Lehrjungen, bei Nacht weinte ich. Ich legte mich auf den Rücken, damit die Tränen in mein Schläfenhaar rinnen konnten und keine Spuren an den Augenrändern hinterließen. Niemand sollte mein Leid sehen. Dann fand ich eines Tages auf dem Kasten des Vorzimmers einen Pack Versatzscheine, so an die 20 Stück. Kleider, Stoffe, die mein geliebter Alf veruntreut hatte. „Was nun? Zur Polizei? Dann wird mein Alf öffentlich als Betrüger entlarvt. Ach, wenn ich nur Geld hätte, dann könnte ich den Schaden wieder gutmachen.“

Ich lief zum Schwager Hans, zum Karl. Aber beide waren sich einig: “Alf ist uns schon soviel schuldig. Wir lösen alles aus und behalten es. Dann ist unser Schaden nicht so groß.“ Weinend und verstört zog ich ab. Also keine Hilfe….

Ich kämpfte bitter ums tägliche Brot. Schwer sorgend mit wehem Herzen, in der heimlichen Hoffnung, dass Alf doch noch käme.

Die Schulden meines Mannes konnte ich nicht bezahlen. Außer zweitausend Schilling Geschäftsschulden waren noch zweitausend Spielschulden offen. Er war auf eine Bande Falschspieler gestoßen, die ihm seinen letzten Groschen abnahmen. Was nützte es mir, dass man die Spieler aushob, meinen Alf brachte es keine Rettung mehr.

Niemand stand mir bei, außer meiner geliebten Mutter. Aber ihren Rat konnte ich nicht befolgen. „Wirf alles auf einen Haufen und zünde es an. Dann komm heim.“ Die Gute! Sie hat es wohl nicht wörtlich gemeint. Sie wollte wohl nur erreichen, dass ich heim käme.

Aber so schnell gab ich nicht auf. Einige enttäuschte Lieferanten klagten mich auf Zahlung von Alfs Schulden. Ich wurde gepfändet! Aber mein ganzer Besitz war so gering, dass der Mann der die Pfändung vornahm, alles meiner Mutter, um einen Pappenstiel verkaufte. Das Wegführen der Gegenstände hätte mehr Spesen verursacht, als sie wert waren…

Mein heiß umsorgtes Kind, musste nun allein zur Schule gehen. Die Piaristen erließen mir gnädigerweise das Schulgeld. Nach dem Unterricht, ging er in den Hort am Uhlplatz. Der Bub war versorgt, aber der Lehrjunge machte mir Kummer. Er wollte meinen Anord- nungen nicht Folge leisten. Er wollte nach eigenen Gutdünken arbeiten. Wir fochten so manchen Streit aus, bis er mir eines Tages sogar den, mit Wasser gefüllten, Kübel nachwarf …

Drei Monate waren vergangen. So oft man einen Toten fand, holte mich die Polizei. Nie war Alf darunter. Lebte er noch irgendwo?

Müde war ich, zermürbt vom Kampf ums tägliche Brot, von durchweinten Nächten und wissend, dass es so nicht weitergehen konnte. Ich sehnte mich nur mehr nach Ruhe. Warum konnte ich es Alf nicht gleichtun? Wenn ein Mann den Kampf aufgab, warum nicht auch eine Frau? Warum sollte ich stärker sein? Ich wusste nicht ein noch aus. Zum Kampf um das bisschen Dasein, zum Kummer, kamen stetig die inneren Kämpfe. Endlich mal Ruhe. Nicht mehr an das Morgen denken. Schluss mit Allem!

Die ersten Schneeflocken fielen. Was für ein Herzeweh für mich! Weinend stand ich bei der großen Auslagenscheibe und sah dem Schneetreiben zu. Mein Alf! Mein geliebter Alf! Nun würde er zugedeckt und niemand konnte ihn finden. Warum hatte er es nur getan? Er liebte mich so! Und sein Kind! Gab es wirklich keinen anderen Ausweg? Ich sehe Alf sterben – jede Todesart. Und ich sterbe mit tausend Schmerzen mit… Wie konnte er nur, uns verlassen! Hatte er an uns nicht gedacht? Was sollten wir zwei armen Hascherl allein auf dieser Welt? Ach, wären wir doch bei ihm.

Was ist feiger? Sich vor dem Leben zu fürchten oder vor dem Tode?

Die Einnahmen im Geschäft wurden spärlicher. Die Kunden wussten nun, dass der Meister fehlte. Der Schwiegervater konnte auch nicht mehr helfen. Der Kummer hat ihn unfähig für jede Arbeit gemacht. Die Einnahmen reichten kaum fürs tägliche Brot. Der Zins stand immer wie ein drohendes Gespenst vor mir. Schlaflose Nächte, die täglichen Sorgen zehrten an meinen Nerven. Nur mehr Ruhe war meine Sehnsucht. Es gab nur einen Ausweg – der Gashahn!!!

Und mein Kind, ein Stück von mir, mein ureigenstes Besitztum. Das musste mit mir gehen. Was sollte es auch allein in der Welt. Sosehr auch mein Entschluss fest stand, ich verwarf den Plan, ich griff ihn wieder auf. Ich klügelte alles aus, bis ins kleinste Detail und verwarf es dann wieder. So ging es tagelang, nächtelang. Aber dann hatte ich mich dazu durchgerungen… Dem Lehrjungen gab ich Geld fürs Kino. Er war wohl etwas erstaunt darüber, zog aber überglücklich damit ab.

Nachdem mein Kind eingeschlafen war, zog ich das Bettchen in die Küche. Die Rollbalken des Geschäftes hatte ich frühzeitig ge- schlossen, die Abschiedsbriefe hatte ich schon tagsüber vorbereitet. Dann schloss ich sorgfältig die Küchentüre, die in den Hof hinausging und betete, wie ich glaubte, mein letztes Vaterunser und drehte den Gashahn auf.

Ich kauerte mich neben den Kinderbettchen nieder. Ich wollte in gleicher Höhe sein, wie mein Hansi. Wir sollten doch gleichzeitig sterben! Das Gas zischte, das Herz hämmerte immer schneller … Aber die Ohren lauschten nach draußen, auf jedes Geräusch. Ich durfte einfach nicht gestört werden!

Aber meine Zeit war noch nicht um – es kam ganz anders.

Der Lehrjunge hatte keine Kinokarten bekommen. In „seinem“ Kino war alles ausverkauft. Er kam heim, fand den Rollbalken herunter- gelassen… Was war da los? So ließ er seinen Freund warten und kam durch den Hof. Er klopfte. Ich öffnete nicht!

Aber trotz meines elenden Zustands, erfasste ich blitzschnell die Situation. Er hatte ja den zweiten Rollbalkenschlüssel und konnte von vorne herein.

Heute war es mit dem Sterben also nichts!

Ohne lange zu Zögern, schob ich Bettchen ins Zimmer zurück, drehte den Gashahn ab und öffnete alle Fenster. Als der Junge kam, er hieß übrigens auch Hans, sagte ich ihm, dass irrtümlich Gas ausgeströmt sei. Er müsse sich mit einem kalten Essen begnügen.

Mit schlotternden Knien, hämmernden Herzen und dröhnenden Kopf, legte ich mich nieder. Aber mein Aussehen muss doch anders gewesen sein als sonst. Hans glaubte meine Ausrede nicht. Vielleicht bemerkte er auch die Briefe auf dem Küchentisch….

Ich dämmerte dahin, da klopften derbe Fäuste an die Türe. Polizei! Hans hatte einen Wachebeamten geholt!! „Anziehen, mitkommen!“ Verstört folgte ich. Die Gasse war Gott sei Dank nicht sehr bevölkert. Wenn mich wer so sehen würde… Nicht auszudenken…

Erst gingen wir schweigend. Dann fing er an: “so was, so eine hübsche, junge Frau und sterben wollen. Und das mitnehmen auch noch! Wissen sie was das ist? Mord! Mord am eigenen Kinde. Man wird sie anklagen, sie kommen vors Gericht!“ Ich stammelte einige unverständliche Worte. Aber er fuhr fort: “sie tun mir leid, sie sind so jung, ich will ihnen helfen… Ich lasse die Briefe verschwinden, dann ist es nur ein Selbstmordversuch, vom Kind sagen wir nichts.“ Weinend danke ich ihn….

Am Kommissariat angekommen (der Wachebeamte hatte Wort gehalten), wurde ich in den Arrest abgeschoben. Ein Aufseher schlurfte hin und her, mich immer heimlich beobachtend. Plötzlich drückte er mir ein Buch in die Hand. „Da lesen sie, dass sie auf andere Gedanken kommen." Der Gute! Die Buchstaben tanzten! "Aber, aber, sie halten das Buch ja verkehrt. So geht’s nicht.“ Fürsorglich drehte er das Buch herum. Aber es nützte nichts, ich konnte nicht lesen. Erst ganz langsam trockneten die Tränen und ich konnte wieder klar sehen. Aber denn Sinn erfasste ich nicht. Bis heute weiß ich nicht, welches Buch es war. Der Mann wusste mich anscheinend versorgt und verschwand wortlos. Die Zeit schlich dahin. Es kam mir endlos vor. Hinter einer Zellentür fluchte und rumorte ein Häftling.

Dann holte mich ein Wachmann und führte mich über einen dunklen Hof in ein hell erleuchtetes Arztzimmer. Da stand ich geblendet, mitten im Raum, verlassen und ratlos. Plötzlich wurde die Türe aufgerissen, ein Mann im weißen Kittel stürzte herein und polterte los: „was glauben sie eigentlich! Wegen ihnen muss ich aus meinem Bett. Was ist ihnen denn da überhaupt eingefallen? Ich schicke sie nach Steinhof in die Irrenanstalt!" Dabei ging er unentwegt um mich herum. Wortlos ließ ich alles über mich ergehen. Was sollte ich auch noch sagen!

So laut der Doktor gekommen ist so laut verschwand er wieder. Donnernd schmetterte er die Türe ins Schloss. Verdutzt stand ich da und wagte keinen Schritt zu machen. Da steckte ein Mann den Kopf zur Tür herein: „sie können herauskommen.“ Mein Gott! Ich traute meinen Augen nicht. Meine Schwester Julia saß im Vorraum! „Was, ja was willst denn du hier?“ Das war mir sehr unangenehm. Wenn schon mein Selbstmord nicht gelang, dann sollte es auch niemand aus meiner Familie wissen.

„Ich gehe mit dir und bleibe bei dir. Man holte mich zu deiner Beaufsichtigung“, sagte Julia. Und so geschah es auch, sie wich acht Tage nicht von meiner Seite. Es war weit über Mitternacht, als wir nachhause kamen. Hans, der Lehrjunge saß bei meinem erwachten Kind und fütterte es mit Butterbrot und Tee.

Als wir endlich zur Ruhe gekommen waren, Julia lag neben mir in Alfs Bett, gab es neuerlich Aufregung. Die Gaswerke schickten einen Mann der das Gas absperren musste, was mir bittere Tränen kostete. Wie sollte ich morgen meine Büglereien erledigen? Aber am nächsten Tag machten wir einfach „blau“. Hans bekam seinen freien Tag, mein Kind durfte Schule schwänzen und gemeinsam mit Julia fuhren wir in den Wienerwald. Es lag viel Schnee. Hansi tollte fröhlich herum und schmeichelte sich zeitweise an mich, als wolle er mich trösten.

Ich kam mir zum ersten Mal wie eine Verbrecherin vor. Dieses liebe, fröhliche Kind wollte ich töten!

Alle unsere alten Freunde, unsere Bekannten und Verwandten Alfs, hatten mich verlassen. Nur Julia, meine Eltern und Adolf, mein Bruder standen mir bei.

Einige Zeit später, erhielt ich eine Vorladung von der Schneiderinnung. „Man“ hatte mich wegen unerlaubter Ausübung des Berufes angezeigt. Es war wieder ein Schlag für mich. Der Vorstand der Innung empfahl mir einen Pächter für das Geschäft zu suchen. So wäre wenigsten der Zins gesichert. Fürs Erste jedenfalls…. Aber von was sollten wir leben? Es war gerade die furchtbare Zeit der Arbeitslosigkeit.

Da verwies mich eine Kundin auf eine Bedienung in einem chemischen Labor. Mit beiden Händen griff ich zu. 40 Schilling im Monat! Es war aber noch immer zu wenig zum Leben. So verzichtete ich auf mein Zimmer und vermietete es.

Der Lehrjunge hatte von der Innung eine neue Lehrstelle bekommen, so war ich mit meinem Kind allein. Ich zog ins ehemalige Probier- kammerl. Hansi schlief im licht- und luftlosen Vorzimmer. In mein Zimmer zog eine ältere Frau samt Tochter. Ich hatte zu wenig Menschenkenntnis und keine Autorität. Das konnte nicht gut gehen!

Erst hatte ich einen Kampf mit der Mieterin. Sie wollte sich absolut nicht polizeilich anmelden. Als sie es notgedrungen doch tat, tauchten plötzlich noch zwei Töchter auf. Bei Tag schliefen sie, nachts gingen die „Töchter“ aus. Heute bezweifle ich, dass es leibliche Töchter waren. Und auch diese beiden wollten sich nicht anmelden.

Aber es kam noch schöner. Eines Tages eilte der Hausbesorger zu mir und berichtete aufgeregt: “kommen sie doch mit mir in den Hof und sehen sie sich an, was ihre Mieter vor den Fenstern hängen haben." Ich traute meinen Augen nicht! Blutverschmierte Leintücher zierten die Fenster. Fenster, an denen sämtliche Arbeiter der Lampenfabrik, die im hinteren Trakt untergebracht war, vorbei gehen mussten. Das schlug dem Fass den Boden aus. Ich kündigte den Mietern sofort. Aber mit viel Wehgeschrei hielten sie mich noch acht Tage hin. Ja, wenn eine Frau allein dasteht im Leben. Noch dazu wie ich, 28-jährig, energielos, weltuntauglich!

Dann zog ich mit Hansi wieder ins Zimmer zurück und vermietete das Kammerl. Es war ein netter Mann. Aber auch das war ein Fehlschlag! Erst gab es ein unerwartetes Abenteuer. Eines spätabends ging meine Zimmertüre auf, und wer kam herein? Mein Untermieter in Unterhosen! Mit einem Sprung war ich aus dem Bett und versperrte ihm den Weg. Er faselte, er verehre mich schon lange und da er wisse, dass ich keinen Freund habe, wollte er so freundlich sein und „aushelfen“. Ich wusste erst nicht, sollte ich lachen oder weinen. Ich drängte ihn zur Türe hinaus und sperrte ab.

Am nächsten Tag entschuldigte er sich wortreich. Er wisse selbst nicht wieso er auf so etwas gekommen sei. Er hätte Äther geschnupft. Vielleicht wäre das der Grund gewesen. Weil er so ein pünktlicher Zahler war, vergaß ich alles. Aber niemals danach ließ ich die Zimmertür unverschlossen. Dann gab es aber bald wieder eine Aufregung. Eines Tages kam ein Wachebeamter und holte meinen Mieter ab. Wegen Vagabundage und Bettelsingens! Ich war wie aus allen Wolken gefallen. Mein Mieter war ein Arbeitsloser?! Ja, war es denn ein Verbrechen, zu singen um etwas zu verdienen? Arbeitsplätze gab es keine. Sollte er stehlen?

Eines Tages ging ich, traurig wie immer, über die Josefstädterstraße, da kam mir der Hausherr entgegen. Klein, fett, etwas schielend, aber sehr freundlich. „Wie geht es ihnen? Ich will ihnen etwas helfen.“ Er griff nach seiner Brieftasche. „Mir helfen? Geld geben? Hier auf der Straße?“ „Natürlich, sie haben Recht, nicht hier. Kommen sie mit mir in die Buchengasse.“ Ich ahnungsloser Engel, folgte ihm. Vor einem Haus blieb er stehen. „Da wollen wir hineingehen.“ Was sahen meine Augen? Ein großes Schild „Hotel“. So naiv war ich aber doch nicht. „Was denken sie von mir?“ Empört drehte ich mich um und rannte davon. Seitdem wich ich dem „freundlichen“ Mann aus, wo es mir nur möglich war. Bis eines Tages ……

Wochen waren seit dem vergangen. Ich war mit Hanserl und den Hoffman-Buben im „Arbeitslosenbad“, so nannte man damals die Stürzellacke in Kaisermühlen. Nach einem sonnigen, schönen Tag, zeigte sich auf meinem Oberarm ein juckender Ausschlag. Trotz verschiedener Salben zeigte sich keine Besserung. Der Arzt empfahl mir ärmellose Kleider zu tragen… Hatte der eine Ahnung von der Eitelkeit der Frauen - meinen Ausschlag soll ich zur Schau stellen!

Aber zuhause ließ ich es gelten und so kam es, dass ich ärmellos in den Hof ging. Mein Ausschlag prangte im hellen Sonnenschein. Da kam, war es nur ein Zufall, mein freundlicher Hausherr! „Was haben sie denn da an den Armen? Wo haben sie sich denn das geholt?“ „Ich denke beim Baden in der Stürzellacke“, antwortete ich. „Ja, wie kann man denn auch dort hingehen. Man geht in ein ordentliches Strandbad, kommen sie doch mit mir ins Badner Thermalbad. Das Schwefelwasser wird ihnen gut tun.“ „Das kann ich nicht. Ich habe kein Geld und Zeit auch nicht. Um 6h kommt mein Kind nachhause.“

"Geld brauchen sie keines, wenn sie mit mir kommen und um 6h sind wir längst zuhause. Angst brauchen sie auch nicht haben. Es gibt getrennte Umkleidekabinen.“ „Wenn schon, mit dem Ausschlag lässt man mich doch nicht hinein.“ Er schlug sich an seine Brust. „Mit mir schon! Also abgemacht, morgen um 2h Ecke Lerchenfelderstraße / Strozzigasse." Ehe ich noch eine Einwendung machen konnte, war er gegangen.

Ich überlegte hin und her. Konnte ich in sitzen lassen? Könnte er mir dann nicht schaden? Aber es winkte mir ein sorgenfreier Tag. Ohne rechnen, ohne Geld! Wie schön musste das sein. Die Versuchung war zu groß! Und es war ein öffentliches Strandbad – ohne Risiko…..

Ich war pünktlich zur Stelle. Wir fuhren mit einem Taxi zum Südbahnhof. Da der Zug schon überfüllt war, gingen wir in den Speisewagen. In den Speisewagen! Ich! Ich, in meinem billigen, blauen Kleidchen, mit meinen abgetretenen Absätzen! Ich war sehr stolz! Der Ober dienerte, servierte Schlagoberskaffee und Torte. Wie lange war das her, dass ich solchen Genüssen frönen konnte!

Die Sonne schien. Ich schloss die Augen und träumte vor mich hin. Glücklich, ein bisschen Geborgenheit fühlend. Er streichelte meine Hand und sagte plötzlich „DU“ zu mir. Auch ich sollte ihn duzen. Meinen Hausherrn duzen! Das kam mir ganz unmöglich vor…

In Baden führte er mich an der Hand, hielt immer wieder Leute auf um sie zu fragen, wo man da gut essen könnte. Aber jedes Lokal war ihm zu einfach, bis uns ein Mann an die „Stadt Wien“ verwies. Er betonte, dass es sehr, sehr erstklassig ist, aber auch dementsprechend teuer.

Erst war ich befangen. Das erste Mal aß ich von Silbergeschirr. Ich beobachtete heimlich die anderen Gäste. Dann fiel es mir gar nicht mehr schwer, richtig zu essen. Es gab Hirschbraten mir Sauce, wie ich sie nie mehr wieder aß. Meinem Kavalier mundete es eben so gut. Er nahm die große Schüssel und löffelte laut und ungeniert, die letzten Reste der Sauce. Die Leute am Nebentisch schmunzelten und tuschelten. Auf einmal schämte ich mich. Nicht nur wegen der schlechten Tischmanieren, sondern wegen unserer Aufmachung. Er elegant, gut genährt, ich armselig. Man merkte, dass er der zahlende Herr war. Was mochten die Leute nur über mich denken ….

Gut angegessen, gut gelaunt, meinte er, dass ein Verdauungs- spaziergang höchst wichtig wäre! Ich war einverstanden und heilfroh, der noblen Gesellschaft des Restaurants entfliehen zu können.

Bei einem großen Haustor blieb er stehen und entschuldigte sich: „nur einen Augenblick, kleine Jenny.“ Ich dachte – ein menschliches Verlangen, und wartete… Dann kam er strahlend heraus. „Ich habe eine Sommerwohnung für uns gemietet.“ Ich muss wohl sehr dumm dreingeschaut haben. „Eine Sommerwohnung? Aber warum, ich muss doch um 6h zuhause sein. Wir wollten doch ins Thermalbad.“ „Ich weiß es, kleine Jenny. Wir bleiben nicht lange, wir wollen uns ja nur ein wenig reinigen. Wir sind verschwitzt und können so nicht ins Bad gehen, dort sind lauter gepflegte Leute." „Aber da sind auch Brausen“, wendete ich schüchtern ein. „Ja, für andere, wir sind aber nobler!“

Mir wurde bang. Was beabsichtigte er? Blitzschnell überlegte ich. Es gab nur einen Ausweg, nämlich schnell rennen! Weg, nichts als weg! Aber in meinem Börserl waren nur 20 Groschen und von Baden nach Wien – ein langer Fußmarsch! Da wäre ich um 6h nicht zuhause. Mein Kind stände verlassen vorm Tor. Ich verhöhnte mich selbst: „wer "A" sagt, muss auch "B" sagen. Ich war in der Falle!!!"

So ließ ich mich hineinziehen in die „Sommerwohnung.“ Er entledigte sich ungeniert seines Rockes, seines Hemdes und plantschte fröhlich im Waschbecken. Ich stand da, ängstlich und verschüchtert mit meinem Köfferchen in der Hand. Das schien ihn zu amüsieren. „Mach's dir doch bequem. Komm waschen, erfrische dich.“

Dann ließ er gänzlich seine Maske fallen: „stell dich nicht so an, du bist doch verheiratet gewesen.“ Ich dachte nur eines: die Maus in der Falle. Wie ein kleines, dummes Mädchen habe ich mich übertölpeln lassen.

Ins Thermalbad ließ man mich trotz meines Ausschlages ein. Angesichts meines noblen Begleiters, wagte man nicht eine Bemerkung zu machen.

Er saß lesend im Gartenrestaurant, während ich im Schwefelbad pritschelte. Aber das Bad half mir auch nicht, meine Schande abzuwaschen. Nach einer guten Jause ging’s heimwärts. Er strahlte heiter, ich saß kleinlaut und verschämt daneben. Noch beschämter war ich, als ich in meinem Handtäschchen 20 Schilling fand. Also auch noch ums Geld! Weit hatte ich es gebracht!

Aber 20 Schilling war für mich ein halber Monatsverdienst. Und Hansi hatte ein paar Schuhe zu besohlen. Das konnte ich nun machen lassen. Aber um welchen Preis!! Weinend ging ich schlafen … Mein Ausschlag verschwand nach wenigen Tagen.

Ich ging nicht nur zum Schuhmacher, ich setzte mich anderen Tages hin und schrieb ein Gedicht. Bezeichnend für meine Gemüts- verfassung. Darüber reden konnte ich ja mit niemand ….


Nun bin ich zur Dirne geworden
und weiß nicht wie,
nun bin ich zur Dirne geworden
das vergesse ich nie.

Er versprach mir doch nur
einen Tag voll Sonne und Licht,
er brachte nur Leid
sein Versprechen hielt er nicht.

Einmal noch ging ich bewusst mit ihm – ins Hochhaus Herrengasse! Eine private Absteige! Ich brauchte Geld … Zur berufsmäßigen Dirne wollte ich aber nicht werden. Ein bisschen Ehre war noch in mir. Danach wich ich ihm aus wo ich nur konnte und nicht nur einmal war ein fremder Hausflur meine Zuflucht.

Dann kam eine Sommernacht, die mich zutiefst beschämte. Es klopfte jemand an mein Fenster. Ich lag schon im Bett. Leise schlich ich zum Fenster und spähte hinaus. Fast blieb mir vor Schreck das Herz stehen. Der Hausherr in der Badehose! Entsetzt, zitternd um meinen guten Ruf, lief ich zum Bett und zog die Decke über den Kopf um nichts mehr zu sehen und zu hören. In dieser Stunde war mein größter Feind geboren. (Nach Jahren, während der Judenverfolgung, wurde er von einem Höheren bestraft.)




Bruder Adolf und Frau

Da kam in meiner Not, mein Bruder Adolf samt Frau und mietete mein Zimmer mit Küchenbenützung. Ich hatte jetzt nicht nur anständige Mieter, sondern auch um eine Bedienung mehr. So zog ich wieder ins Kammerl. Hanserl ins Vorzimmer.

Die Wochentage waren erträglich. Aber Sonn- und Feiertage waren bitter. Überall waren fröhliche Familien und ich war allein. Hansi ging immer zu den Hoffman-Buben vom Nebenhaus. Ich wanderte einsam und stundenlang durch den Wienerwald. Oft überwältigte mich der Gedanke um Alf. Ich warf mich auf den Waldboden und weinte und weinte …. Oder ich umarmte einen Baumstamm als ob er helfen könnte und haderte mit dem Schicksal. Warum nur? Warum?.

Fleißig und unermüdlich arbeitete ich jetzt. Abends fand ich noch Zeit, Hansis Aufgaben zu kontrollieren und ihn herzend und kosend ins Bett zu bringen.

Nun hätte es mir besser gehen können, aber mein Pächter blieb immer öfter im Rückstand. Neue Sorgen tauchten auf. Was ihm an Geld fehlte, versuchte er mit Gesang gut zu machen. Er rief mich oft in die Werkstätte, denn da sei es ja heller, als in meiner kleinen Kammer und sang mir, mit seiner angenehmen Stimme, die schönsten Lieder vor. Das wäre ja nicht so schlimm gewesen. Aber eines Tages lag er vor mir auf den Knien und machte mir einen regelrechten Heiratsantrag. Er war ja verheiratet, aber er wollte sich scheiden lassen. Ho, ho, mein Lieber! Wegen mir nicht! Nicht wegen mir! Ich hatte nur eine Liebe im Herzen, zu meinem verlorenen Alf, der nie gefunden wurde…

Ich dachte, nie wieder wird mein Herz sprechen. Aber zwei Jahre später, war es doch wieder so weit. Pfeifend und springend hopste ich über die Treppe, vom Labor runter, wo ich in Arbeit war. Da begegnete mir ein junger Mann. So groß (klein) wie ich, zierlich, schwarzhaarig, nicht schön aber gewinnend. „Fröhliche Menschen habe ich gerne! Arbeiten sie bei Dr. Pollak?“ „Gewiss, und sie?“ Fragen, fröhliche Antworten und der Kontakt war hergestellt. Fast ein Jahr hielt unsere Freundschaft und Liebe. Er bemühte sich ehrlich um mich.

Franz wollte mir Bildung beibringen. Er gab mir regelrecht Unterricht in Kunstgeschichte, Geografie und Völkerkunde. Aber wenn er mir Hausaufgaben gab, hatte ich die nie gemacht. Übermüdet, gehetzt von der endlosen Arbeit, ich hatte jetzt drei Bedienungen, war mir das einfach nicht möglich. Verärgert gab er sein Lehramt auf und ließ mich weiter dumm bleiben.

Wir hatten auch eine gemeinsame Sparkasse. Er warf weniger ein als ich, doch es war schon ein nettes Sümmchen und mein Stolz. War es doch vom Munde abgespart. Aber eines Tages kam Franz und borgte sich das Geld. In der Kassa blieb sein Schuldschein, der nie mehr eingelöst wurde. Da gab ich das Sparen auf ….

Mein geliebtes Kind konnte Franz gut leiden und nie gab es Unfrieden. Er machte viele Ausflüge und Praterbesuche mit uns, und schon dachte ich, dass es ernst mit uns werden würde.

Aber mein Bub sollte zu ihm „Vater“ sagen. Er wollte einfach nicht. Ich denke, er konnte nicht begreifen, dass ein fremder Mann, seinen geliebten Vater ersetzen sollte. Das war für Franz, ich glaube, ein willkommener Vorwand um unser gutes Verhältnis abzubrechen. Ich konnte mich meines Verlustes gar nicht grämen, denn schon hielt ein anderes Ereignis, mich in Bann.

Einmal um 9h abends, ließ mich der Hausherr zu einer Unterredung rufen. Bange ging ich in seine Wohnung. Was konnte er nur von mir wollen? Ach, nun kam die Rache, für die seinerzeitige Abfuhr. Er kündigte mir Geschäft und Wohnung. Er wollte seine Fabrik vergrößern. „Nein, das ist nicht möglich! Ich habe doch eine Mieter- schutzwohnung und die ist unkündbar.“ „Meine liebe Jenny“, duzte er mich. „Ich melde Eigenbedarf. Das Recht habe ich. Willige doch freiwillig ein.“ Ich weinte. Wohin soll ich gehen. Wo wohnen? Das Geschäft warf mir ja doch den Zins ab, wenn auch nicht regelmäßig. Ohne Mitleid bohrte und bohrte er und wollte mich seelisch zermürben. Ich war aber zäher als er dachte! Es ging ja um meines Kindes und mein Weiterleben. Dann kam er plötzlich anders. Er hätte einen Vorschlag. Unter dem Dach wäre ein Atelier frei. Ich könnte nicht nur wohnen, sondern eine Wäscherei eröffnen. Aber ich lehnte ab. Gegenüber sei ohnehin eine Wäscherei, die wollte ich nicht schädigen. Außerdem wäre ich zu entkräftet um so eine schwere Arbeit zu verrichten.

Aber der Hausherr ließ nicht locker. Wieder holte er mich. Wie viele Tränen und schlaflose Nächte hat mich das schon gekostet! Wieder hatte er einen Vorschlag. Ober ihm sei eine Wohnung frei. 2 Zimmer, Küche und Vorzimmer. Da könnte ich ein Zimmer vermieten. Außerdem sei die Wohnung hell, gassenseitig und gesund. Da dachte ich an mein Kind. Es schlief in einem licht- und luftlosen Raum. Es war so blass. Wenn ich neben meinen Arbeiten, noch Wäsche zum Ausbessern annähmen würde, vielleicht ginge es.

Erst besprach ich mich mit meinem Bruder, der ja mit seiner Frau bei mir wohnte. Auch ihm war die Aussicht auf eine Stockwohnung angenehm. So hatte mein Hausherr endlich gesiegt.

Großes Wehgeschrei gab es bei meinem Pächter, dem ich die Kündigung mitteilte. Nachträglich erst erfuhr ich, dass er beim Hausherrn um eine Ablöse, die eigentlich mir zustand, bettelte und dieselbe auch bekam.

Der Verlust des Geschäftes machte sich bemerkbar und so musste ich noch mehr arbeiten. Aber das Zimmer, das Hanserl und ich bewohnten, war hell und sonnig. Mein Kind blühte auf. Ich reparierte Wäsche, stopfte fremde Strümpfe. Tag für Tag und oft des nachts. Trotzdem reichte es nur fürs blanke Überleben.

Mein geistiger Horizont war ganz klein geworden. Ich konnte nur mehr denken: „was koche ich morgen, wie bestreite ich die kleinen, aber notwendigen Anschaffungen?“

Adolf, mein Bruder, machte mir Vorwürfe, dass ich keine anständige Mahlzeit kochen wollte. Hatte der eine Ahnung von meinen armseligen Leben! Mein Verdienst reichte nicht aus, für vollständige Mahlzeiten.

Aber das Leben ging weiter. Ein Leben ohne Alf! Nie hätte ich das gedacht… Wenn mir jemand vorausgesagt hätte, vor Jahren, dass Alf so von mir geht, dann hätte ich ihn verlacht. Niemals! Niemals! Wir liebten uns sosehr. Es war eine reine Liebesehe. Harmonische glückliche Ehejahre. Ein Sturm in der Ehe, reinigt die Atmosphäre. Sagt man so schön. Ein einziger Sturm in meiner Ehe, löste das Verhängnis aus. Löschte sein Leben aus und veränderte das meine. Ich habe geweint, getrauert, geschuftet. Ich habe gerungen mit Sorge und Not. Immer habe ich das Leben meines Kindes und meines nur notdürftig fristen können. Jahrelang habe ich mich gequält. Nirgends konnte ich mich anschließen. Immer war es die Geldfrage, die mich von jeder Geselligkeit ausschloss. Immer war es die Geldfrage, die angebahnte Verhältnisse mit Männern zerschlug. So vergingen 8 Jahre. Fast immer freud- und lieblos.

Dann begann ein neuer Lebensabschnitt. Es war mein Leichtsinn, der unerwartet eine Linderung meines Lebens herbeiführte. Eine kleine Liebelei war in Brüche gegangen, aus Trotz darüber, „erkor“ ich mir einen Tröster. Es sollte meinerseits nur eine Episode sein, aber es kam ganz anders. Schon das Kennenlernen war höchst dramatisch.

Die „Vaterländischen“, wo ich Funktionärin war, hatten wie immer, in einem kleinen Gasthof Sitzung. Nach Beendigung derselben wurde getanzt. Einer der fremden Gäste wagte einen Tango mit mir. Er war der Typ eines Sportsmannes, mittelgroß, schwarzes Haar, schmales, kantiges Gesicht. Einfach gekleidet wie ich. Wir fanden Gefallen aneinander und er stellte mich seiner Tischrunde vor. Wir zogen in ein anderes Lokal und da hatte ich Gelegenheit, alle näher kennenzulernen.

Es war doch zu sonderbar! Der eine wurde „Goldener“ gerufen, der Zweite, der eine erhöhte Schulter hatte, der „Bucklige“, der dritte „Schani“ und meiner „Flinserl“. Es ging nicht gerade fein her. Aber es wurde gelacht, Witze erzählt und getrunken. Zum Schluss wurde wegen einer Nichtigkeit gestritten. In was für eine Gesellschaft war ich denn da geraten!! Leise wollte ich mich verdrücken, aber „Flinserl“, er hieß Karl F. merkte es und schloss sich an. Es kam zu einem allgemeinen Aufbruch.

Aber kaum auf der Straße angekommen, ging der Streit weiter. Plötzlich klirrte die Auslagenscheibe des Lokals. Irgendwer hatte in der Hitze des Gefechtes, einen von unserer Runde hineingestoßen. So schnell konnte ich gar nicht schauen, waren alle auseinandergestoben und in verschiedenen Richtungen verschwunden. Ich stand alleine da! Verdattert bog ich schnell um die Ecke und ging nachhause.

Ich wollte nach diesem Abenteuer von Karl nichts mehr hören und sehen. Aber schon anderen Tages stand er vor meinem Haustor und war nicht mehr abzuschütteln. Es war kindisch und rührend, wie er um mich warb. Hartnäckig blieb er stets mein Begleiter. Wir gingen meist alleine, denn nach meinem ersten Erlebnis mit seinen Freunden, zeigte ich nicht viel Lust, mich da anzuschließen. Aber einmal gingen wir doch wieder gemeinsam aus. Jeder mit der „Seinigen“ – ihren Mädels. Eine davon, ein hübsches Ding, war ein Straßenmädchen. Wir fuhren nach Stammersdorf zu einer „Kellerpartie“. Ich war sehr neugierig. Was konnte eine Kellerpartie nur sein? Ich hatte noch nie davon gehört. Enttäuscht sah ich, dass wir bei einem Heurigen landeten. Aber es war doch anders.

Der Wirt führte in seinen Weinkeller. Da standen einige Tische und Stühle. Dann wurde getrunken, gegessen, gescherzt, gelacht und immer wieder getrunken. Ein jeder prahlte, was er nicht alles vertragen könnte. Ich kam aus dem Staunen nicht heraus. Im Keller ging ja noch alles gut. Aber als wir über die Stiege nach oben wollten, da zeigte sich die Trinkfestigkeit. Der „Schani“ ging auf allen Vieren. Der „Goldene“ brach vor dem Tor einfach zusammen, seine „Schnurzi“, das Freudenmädchen, fiel über ihn. Mein Karl, wankte und schwankte und lehnte dann käseweiß an der Mauer. Der „Bucklige“ stand abseits und übergab sich. Ganz geheuer war mir auch nicht, aber ich hatte ja viel weniger getrunken als die Anderen. Das also war die Kellerpartie!

Als wir dann endlich so weit waren, dass ein jeder so halbwegs gehen konnte, war es stockdunkel. Wir blockierten den ganzen Gehweg, denn einer hielt sich am anderen fest. Zu guter letzt gab es dann wieder Streit. Auch Karl war beteiligt. Mit Entsetzen sah ich, dass sie Messer zogen und aufeinander losgingen. Ich lief davon und ging wieder allein nachhause. Ich schwor mir hoch und heilig, Karl nicht mehr zu treffen.

Ich wäre meinem Vorsatz auch treu geblieben, wenn Karl mich nicht dauernd verfolgt hätte. Immer wieder lauerte mir auf, immer wieder wusste er mich zu finden. Bittend, bettelnd, beschwörend. Als es ihn gar nichts mehr nützen wollte, kam er mit seiner Tochter, blond, zart, engelsgleich, acht Jahre alt. „Schau, mein Kind braucht eine Mutter. Keine Frau noch ist so goldig gewesen wie du. Du oder keine.“ Mein guter Vorsatz schmolz immer mehr dahin und bald war er vergessen. Wie hatte ich mir immer ein Mädchen zu meinen Buben gewünscht. Sollte es solcher Art in Erfüllung gehen?

Alles wäre ja gut gewesen, aber seine Familie war einfach schandhaft – ärgstes Proletariat. Bald merkte ich aber auch, dass Karl keine Geistesleuchte war. Er war nach einem Unfall als Kind, geistig unbeweglich. Ich redete mir selbst zu, dass das nicht die schlechtesten Ehemänner wären. Nach der Not der letzten Jahre, war die kleinste Hilfe eine Erlösung für mich. Und Karl teilte sein Weniges mit mir. Er tauchte zu jeder Tageszeit auf. Er war ja arbeitslos und noch ärmer als ich. Aber durch mich und für mich ging er jetzt sogar schwer arbeiten. Als Bauhilfsarbeiter, als Kohlenträger, bis er nach langem Zureden, Chauffeur lernte.

Wir hatten längst einen gemeinsamen Haushalt. Ich war zu ihm gezogen, als er von der Partei eine Wohnung erhielt. Er sorgte in rührender Weise für mein Kind und verstand es großartig, Hansis Zuneigung zu gewinnen. Der einzige wunde Punkt war sein Töchterchen Eva. Sie war voll Misstrauen gegen mich. Trotz ihres zarten, süßen Aussehens, konnte sie mich schockieren wie ein großer Mensch. Ihre Großmutter hatte ihr eingeprägt, dass sie nicht folgen brauchte. Ich sei doch keine Mutter, nur eine Stiefmutter. So pendelte sie ständig zwischen mir und Großmutter hin und her. Eine Erziehung war unmöglich. Karl ergriff auch ständig Partei für sein Kind: "mein 'Pomeiserl' kann machen was sie will.“

Gerade das Wesen, auf das ich mich so sehr freute, das ich an mein Herz nehmen wollte, schwor Zank und Streit herauf. Vielleicht waren es die steten Aufregungen, die Karl schadeten. Jedenfalls versagte eines Tages Gehirn nach einem nichtigen Streit. Mein Hanserl musste es miterleben.

Karl schrie und tobte. Hansi und ich mussten mitten im Zimmer auf zusammengerückten Sessel sitzen und durften sich nicht rühren. Und Karl tobte. Erst flog der Aschenbecher zu unseren Füßen, dann mein Blumenmädchen aus Porzellan, der Handspiegel, dann folgten die Marmeladegläser. Sie standen im Kabinett. Einzeln wurden sie mit den Stiefelabsätzen zu uns gerollt. Einige zerbrachen. Dann trat Karl mit einem einzigen, wuchtigen Tritt, den Seitenteil meines Bettes ein, sodass krachend der Einsatz zu Boden stürzte. Dabei schrie Karl voller Wut. Hansi und ich wollten flüchten. Aber wir wurden unter wüsten Schimpfkanonaden auf unsere Sitze zurückgezwungen. Hansi flüsterte mir zu: “wie bei Karl May! Wir sind die Gefangenen des Scheichs. Nur die Fesseln fehlen noch.“

Karl trat auch noch das zweite Bett ein. Dann lief er zum Fenster. Ich dachte er wollte es eindreschen. „Karl, bitte nicht einschlagen. Die Hausparteien brauchen nicht alles wissen“, flehte ich. Das leuchtete selbst den Tobenden ein. Er riss die Fenster nur auf!

„Ha, erfrieren sollt ihr. Ich wird euch zeigen, wer hier der Herr im Hause ist!“ Nicht lange so zitterte ich vor Kälte. Das schien Karl Spaß zu machen. Er grinste mich belustigt an. Da fasste sich Hansi ein Herz: „die Mama wird sich erkälten!“ Ehe Karl Einspruch erheben konnte, rannte Hansi zum Bett, zerrte die Decke weg, hüllte mich damit ein und legte schützend seinen Arm um mich. Karl stand eine Weile verdutzt still. Dann riss er den Wäschekasten auf, breitete ein großes Tuch davor und warf die ganze Wäsche darauf. Die Enden des Tuches verknotete er und schleppte das große Bündel vor die Türe. Uns riss er aus den Sesseln und stieß uns dem Bündel nach. Dann sperrte er die Türe hinter uns ab.

Der Bub und ich sahen uns ratlos an. Draußen wären wir, aber was nun? Meine größte Sorge war, dass uns in dieser Situation jemand sehen könnte. Was würden die Leute dazu nur sagen? Karl schlich zeitweise zur Tür, schaute durchs Guckerl und rief höhnisch: „ihr seid noch immer da? Fort mich euch! Das ist meine Wohnung.“ Weg war er wieder für einige Zeit. „Ach Mamschi, da gibt’s nur eines – häuslich niederlassen.“ Und er setzte sich auf den Wäscheberg. Ich tat desgleichen. So saßen wir arme Hascherln, lange Zeit und tatenlos.

Als Karl wieder einmal zur Türe kam, redete Hansi ihm gütlich zu: „Karl, mach doch auf, Mama ist kalt. Oder gib ihr einen Mantel raus.“ „So, so! Ist ihr schon kalt genug. Na, dann muss ich euch wieder herein lassen.“ Er öffnete die Türe. Das gefährliche Funkeln in seinen Augen war verschwunden. Er trug sogar die Wäsche hinein! Aber an der Zimmertür blieben wir alle drei stehen und Karl war es, der aussprach was wir alle dachten: „mein Gott, wie sieht es da aus!“ Überall Glas- und Porzellansplitter, die verwüsteten Betten, der offene halbleere Kasten! Ich schielte heimlich zur Psyche. Gott sei Dank, die war noch ganz geblieben. Karl wurde ganz geschäftig. Er rannte, schloss die Fenster und heizte ein. Hansi sammelte die heil geblie- benen Marmeladegläser, beruhigend auf mich einredend. „Mamschi, ich glaub es ist alles wieder gut. Ich kann euch allein lassen. Meine Freunde warten.“

Kaum war Hansi weg, wurde Karl um mich besorgt. „Weibi, geliebtes Weibi. Du musst dich niederlegen, du zitterst ja vor Kälte.“ Er richtete ein Matratzenlager, packte mich ein und kochte Tee. Nur zu gern legte ich mich hin. Das war zu viel für mich.

Ich hörte ihn aufräumen, kehren, Wäsche einräumen. Er selbst machte wieder Ordnung. Dann legte auch er sich nieder. „Weibi, morgen kaufen wir neue Betten. So viel Erspartes haben wir noch. Ich hab so schrecklich Kopfweh. Den Schädel möchte ich mir an der Wand einrennen. Es ist furchtbar!“

Mein ganzer Gram war weg. War er nicht ärmer als ich? Sein Kopf, sein Gehirn war krank! Wie wird es weitergehen? Mir war ernstlich bange. Als Hansl früher nachhause kam als sonst, lachte mein sonniger Bub herzlichst über uns, da wir so friedlich neben den Betttrümmern „campierten“. Diese, eine der größten Szenen, ist mir vor allem unauslöschlich in Erinnerung geblieben, weil Hansi das alles miterlebte. Was musste er sich nur gedacht haben. Nie hat er ein Wort darüber gesprochen.

Später hab ich gelernt, Karl in Schach zu halten. Wenn seine Augen glitzerten, wenn er mich hin und her stieß, sah ich ihm immer fest in die Augen und sagte: "ich fürcht mich nicht. Schlag doch zu!“ Da ließ er stets die Hand oder den erhobenen Sessel sinken. Aber später zerrten diese Ereignisse an meinen Nerven. Jeder Wutausbruch von ihm, endete bei mir mit einem Tränenstrom. Da sagte er oft: “ja, Weibi, warum weinst du? Ich weiß nicht, was mit mir los war.“ Und mit tausend Zärtlichkeiten und Aufmerksamkeiten wollte er es wieder gutmachen. Trotzdem kam mir immer öfter der Gedanke – weg nichts wie weg! Aber wohin? Und mein Bub! Wohin? Vielleicht hätte sich doch ein Ausweg gefunden, aber dann kam der KRIEG!!!

Ich war froh, dass mein geliebtes Kind erst 16 Jahre alt war. Gott sei Dank! Bis er wehrfähig wäre, war bestimmt der Krieg schon aus. Und Karl war Kopfinvalide, also auch nicht wehrfähig. In der Hinsicht konnte ich ruhig schlafen. Aber es war auch so Bewegung genug. Ich war schon seit Monaten in einer Kleiderfabrik Näherin. Karl wollte nicht mehr arbeiten gehen für drei, weil er ja nicht verheiratet sei mit mir …

Nun, da Krieg war, wurde der der Betrieb in der Fabrik auf Militär- arbeit umgestellt und ich war im Handumdrehen, nicht mehr freiwillige Arbeiterin, sondern „Dienstverpflichtete“. Leider war ich trotz meines Fleißes schwarz angeschrieben, weil ich keine Überstunden machen wollte – oder viel mehr konnte. Denn alle Drei, kamen wir zur selben Zeit heim. Da war nicht aufgeräumt, nicht gekocht. Die Männer aber voller Hunger und Verdruss.



Hanserl, er war ja inzwischen ein Hans geworden, einen Kopf größer als ich und in der Papierfabrik Fuchs, Lehrling. Karl war Chauffeur auf einem großen Lastwagen. Finanziell gab es wohl keine Not mehr. Aber die Tage waren für mich zu kurz und zu anstrengend. Todmüde stellte ich mich zum Herd um zu kochen. Wenn das Nachtmahl fertig war, saß ich manchmal ganz alleine beim Tisch. Karl lag schon im Bett und musste geweckt werden. Hans aber war schon längst bei seinen Freunden. Am Sonntag, wenn andere frei waren, musste ich gründlich machen, Wäsche waschen und Kleider in Ordnung Halten. Es gab kein Familienleben mehr und sonntags saß Karl immer öfter im Wirtshaus. Eva war wieder bei der Großmutter und blieb es auch, mit kleinen Unterbrechungen, lange Zeit.

So vergingen Tage, Wochen und Monate. Karl war nach langer Zeit wieder in die NSDAP aufgenommen worden. Erst lief er nur voll Stolz in seinem braunen Gwandl herum, später wurde es ein Arbeitsrock. Er wurde Chauffeur in der Gauleitung. Er fuhr sowohl mit Lastwagen, als auch mit Personenwagen. Kam abends sehr unregelmäßig heim und ein gemeinsames Essen gab es nur noch selten.

Unheimlich schnell verging die Zeit. Das Radio berichtete einen Sieg nach dem Anderen. Fast im Laufschritt eroberten Hitlers Truppen, halb Europa. So waren zwei Jahre vergangen und es gab kein Ende des unseligen Krieges. Voll Kummer sah ich die Zeit entfliehen. Voll Kummer sah ich mein Kind zur Wehrpflicht heranwachsen. Er war ja jetzt 18 Jahre alt. Oft redete ich mir ein, dass meine Sorge umsonst sei, vielleicht naht das Ende ja schon. Aber es verging wieder ein Jahr und noch immer gab es Krieg.

Mein geliebtes Kind wurde einberufen! Wohl war ich stolz, dass er volltauglich war. Aber ich musste ihn jetzt hergeben! Nach der Ausbildung kam er zum Arbeitsdienst nach Laxenburg. Er war ein wundervoller, strammer Junge. Ich durfte ihn öfter besuchen. Jedes Mal hatte ich Herzklopfen vor Freude, wenn ich ihn sah. Und Wehmut, wenn ich Abschied nahm.

Dann musste er nach Russland! Da gab es ein Jahr kein Wieder- sehen. Und traurige Briefe. Nach Russland per Fahrrad! Oft schrieb er mir, nie wieder wolle er ein Rad besteigen, wenn er erst nachhause käme. Mein armer Junge! Ich litt mit ihm. Ich bangte, ich sorgte mich um ihn.

Mein einziges, aus meiner einst so glücklichen Ehe, mein wohl- gepflegtes und gehütetes Wesen, nun konnte ich nichts tun um sein Los zu verbessern. Ach, nur eine Mutter kann in der Ferne mitfühlen und mitleben. Karl begrüßte zwar jeden Brief mit "freudigem Hallo", aber fühlen wie ich, konnte er nicht.

Nach einem Jahr kam Hans nach Hause. Aus dem lieben, strammen Jungen war ein Mann geworden. Dann kam er zum Militär! Bevor es an die Front ging, waren seine Freunde eingeladen. Wie fröhlich saßen sie um den gedeckten Tisch. Hans und Hoffmann Hans in Uniform. Der junge Hoffman Walter in Arbeitsdienstuniform, der Möldagl Toni noch als Zivilist. Sie lachten und scherzten. Mir war aber nicht wohl zu Mute. Immer wieder betrachtete ich diese jungen Gesichter. Wer von ihnen wird den Krieg überleben? Mir war so bange. Ich hatte gelesen, dass eine Mutter über ihrem Sohn ein kleines Kreuz schweben sah, bevor er in Russland fiel. Wenn’s über meinen Bub auch war? Immer wieder sah ich zu ihm hin. Nein, ich sah nichts. Aber ich war wohl auch keine Hellseherin. Mir war so schrecklich bange.

Das Kreuz war aber doch über ihn. Unsichtbar! Ich habe meinen Jungen zum letzten Mal bewirtet!



ER KAM NIE WIEDER!!!!!

Ich konnte es nicht fassen. Ich habe überall angefragt: bei der Kompanie, bei der Feldpostnummer, in Nikolsburg, beim Roten Kreuz usw.…. Alles umsonst. Ich weinte Ströme von Tränen. Oft überfiel es mich in der Straßenbahn, auf der Straße, des Nachts. Ich war voll blauer Flecken, denn Karl puffte und zwickte mich, um mich am Weinen zu hindern. Wie hätte jetzt Alf mit mir geweint und gefühlt. Jetzt vermisste ich ihn, wie noch nie. Er hätte mich gestützt und getröstet. Mein Herz hat einen Riss bekommen. Das ist nicht nur eine Redensart, denn ich hatte richtige Herzschmerzen.

Drei Jahre vergingen! Ich weiß nicht wie. Ich lebte und war doch tot. Mein Weltwunder, mein süßes, kleines Kindchen, bei dessen Geburt ich meine einzigen Freudentränen weinte, ward mir entrissen. Langsam habe ich mich ja erholt. Aber eines sagte ich mir immer wieder: „du hast umsonst gelebt. Umsonst gelebt, gesorgt, gelitten. Dass das ein Mensch überhaupt ertragen kann!"


Nun sind 21 Jahre seit meinem schwersten Leid vergangen. Aber noch rinnen Tränen über meine Wangen, wenn ich an diesen herrlichen, jungen Menschen denke. Mein Sohn, mein Junge! Der mir als Kind täglich sagte: “Mamschi, schlaf recht gut und träume süß.“ Er war so viel größer als ich und schloss mich oft zärtlich in seine Arme. „meine kleine Mamschi.“ Und in seinem letzten Brief schrieb er: "wenn ich erst nachhause komme, dann sollte es dir gut gehen, wie nie zuvor. Da sollst du erst wissen, wofür du mich groß gezogen hast.“

Ich bin tausend Tode mit dir gestorben. Erschlagen, erschossen, zerrissen, von Panzern überrollt, von Bomben vernichtet.

ICH LEBE UND DU BIST TOT

Impressum

Texte: Fotos aus dem Privatarchiv
Tag der Veröffentlichung: 27.01.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Dieses Buch ist nach Aufzeichnungen meiner Großtante Jenny (Johanna) F., geb. 1902 - gest. 1977 geschrieben und ihr gewidmet.

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