Cover

PROLOG




Sie haben mich warten lassen.<< Lady D.'s Stimme näherte sich dem Eingang zur Küche. Violet schoss wie ein verschrecktes Eichhörnchen unter den nächsten Tisch.
>>Psst!<<, flüsterte das kleine Mädchen seiner schmuddeligen Puppe zu und hielt beschwörend den Finger an die Lippen. >>Du musst jetzt ganz, ganz leise sein, Bess. Du weisst, wie böse Mama wird, wenn sie uns sieht!<< Die Schritte kamen näher, aber ihre Mama war nicht allein, es war noch jemand bei ihr. Violet drückte ihre Puppe an sich und kniff ängstlich die Augen zu.
>>Und - haben Sie mir die Namen beschafft?<<, fragte ihre Mutter, während sie die grosse Küche betrat.
>>Ja<<, antwortete eine Männerstimme. Eine gepflegte, distinguierte Stimme. Violets Herz machte einen Sprung.
Könnte das ihr Vater sein?
Brennend vor Neugier öffnete das kleine Mädchen die Augen, konnte aber lediglich den Saum des burgunderroten Reisekostüms ihrer Mutter erkennen, daneben ein Paar glänzender schwarzer Herrenschuhe.
>>James Atholl, Anne Langdon, Peter...<<
Der Mann zählte viele Namen auf, die Violet noch nie gehört hatte. Er trat dabei von einem Fuss auf den anderen, ihre Mutter dagegen regte sich nicht. Violet rutschte mit angehaltenem Atem ein Stückchen nach vorne. Sie rang mit sich.
Einerseits wollte sie unbedingt das Gesicht des Mannes sehen, der möglicherweise ihr Vater war. Andererseits durfte sie sich auf keinen Fall erwischen lassen. Wenn sie entdeckt würde... Ihre Mutter würde furchtbar böse werden. Und Violet bestrafen, wo wie vor ein paar Monaten, als ihre Mutter das letzte Mal zu Hause gewesen war.
>>Und Ismail?<<, fragte Lady D. ungehalten.
Der Mann lachte. >>Ach ja, wie konnte ich ihn vergessen? Sei scheinen ja förmlich besessen zu sein von dem Mann. Leider ist er derzeit nicht im Lande, aber früher oder wird er wieder auftauchen, da bin ich sicher.<<
Die Röcke ihrer Mutter gerieten ins Schwingen. >>Gut, das wär's dann für heute. Gehen Sie jetzt. Und lassen Sie die Finger von meinen Dienstboten! Ich will kein neues Personal einstellen müssen, bloss weil Sie Ihren Durst nicht zügeln konnten!<<
Violet erschrak. Der Mann wollte gehen! Sie nahm all ihren Mut zusammen und kroch so weit vor, wie sie es wagte.
Doch als sie gerade unter dem Tisch hervorspähen wollte, fiel ihre Puppe um. Der Porzellankopf schlug mit einem hörbaren Geräusch auf dem Steinfussboden auf.
Von Angst gepackt, kniff Violet wieder die Augen zu, wünschte, sie wäre unsichtbar. Hoffte, ihre Mutter hätte nichts gehört...
Eine unheilvolle Stille senkte sich über den Raum, dann sagte der Mann: >>Sie sollten besser auf das Kind aufpassen.<<
Lady D.'s Rocksaum streifte Violets Finger, und die Schritte des Mannes entfernten sich. Himmel, jetzt würde es Ärger geben!
>>Komm sofort da raus, Mädchen!<<
Die zierliche Siebenjährige kroch unter dem Tisch hervor, und ihre dunklen Zöpfe streiften leise über ihre schamroten Wangen.
>>Was hattest du da unten zu suchen?<< Lady D. war wütend, aber wenigstens schrie sie sie nicht an oder verlangte nach dem Gürtel, dachte Violet ein wenig erleichtert.
>>Ich habe... ich habe bloss mit Bess gespielt<<, flüsterte sie und hielt wie zum Beweis ihre schmuddelige Puppe hoch.
>>Ach so.<< Ihre Mutter klang gar nicht mehr so zornig, und ihre sonst so feindseligen Augen blickten beinahe freundlich drein. Violet nahm all ihren Mut zusammen und stellte die Frage, die ihr so sehr auf der Seele brannte.
>>War das mein Vater, Lady D.?<<
Das Gesicht ihrer Mutter verzerrte sich für einen Moment vor Wut, doch glätteten sich ihre Züge sofort wieder.
>>Komm und setz dich. Ich werde dir jetzt eine kleine Geschichte erzählen.<<
Lächelnd deutete die Frau auf einen Stuhl, und das kleine Mädchen nahm verwirrt Platz. Wurde sie denn gar nicht bestraft? Ihre Mutter sah sie ganz freundlich an.
>>Du fragst dich wahrscheinlich, wo dein Vater ist?<<
So hatte Violet ihre Mutter noch nie erlebt, so sanft, beinahe freundlich. Aber sie hatte ihre Mutter ja auch erst wenige Male gesehen. Meist achteten die Dienstboten darauf, dass sie ihrer Mutter nicht in die Quere kam, wenn diese auf der Burg weilte.
Vielleicht bedeutete das ja, dass ihre Mutter sie doch lieben wollte? Dieser Gedanke war so wundervoll, das Violet den Mut fand zu antworten.
>>Ja, Madam.<<
>>Aber nein, Kind, du musst mich Mutter nennen<<, rügte Lady D. sanft und stellte eine grosse Schüssel auf den Tisch.
>>Hilfst du mir, sie mit Wasser zu füllen?<<
>>Ja, M-Mutter.<< Violet sprang hilfsbereit auf.
Lady D. holte eine Schachtel von einem der obersten Regale und forderte Violet erneut auf, Platz zu nehmen.
>>Dieser Mann war nicht dein Vater, Kind.<<
Violet kletterte auf den Stuhl, nahm Bess auf den Schoss und nickte eifrig. Sie war noch nie so glücklich gewesen. Und dabei hatte sie schon heulen wollen, wie einen dumme Heulsuse.
>>Dein Vater war ein wundervoller Mann, und er hätte dich sicher sehr geliebt.<< Lady D. tat ein paar Teelöffel eines weissen Pulvers in die mit Wasser gefüllte Schüssel.
>>Wenn er nicht gestorben wäre.<<
Violet stockte der Atem. Ihr Glücksgefühl war wie fortgeblasen. Sie hatte ihren Vater zwar noch nie gesehen, aber sie hatte dennoch eine ganz genaue Vorstellung von ihm. Er war gross und stark, und er liebte Violet... und nun sollte er auf einmal tot sein.
>>Wie ... wie ist er denn ge-gestorben, M-Mutter?<<
Lady D. rührte nachdenklich das mit dem Pulver versetzte Wasser um. Dann hob sie ihren Blick. In ihren Augen loderte glühender Hass. >>Er wurde von einem Mann namens Ismail getötet. Aber er wird dafür büssen! Und du auch, du dreckige kleine Schnüfflerin! Mir nachzuspionieren! Dachtest du etwa, du würdest ungestraft davonkommen?!<<
Violet sprang erschrocken vom Stuhl, aber Lady D. war schneller. Sie packte das Mädchen bei den Haaren und tauchte ihren Kopf in die Schüssel. Es brannte! Das Wasser verbrannte ihre Augen! Violet wehrte sich vergeblich. Bess schlug scheppernd auf dem Boden auf, während sie versuchte, die Fingernägel ind die Hände ihrer Mutter zu schlagen.
>>Du widerliches kleines Dreckstück!<< Lady D. drückte wutentbrannt das Gesicht der Kleinen noch tiefer unter Wasser. >>Teufelsbrut! Dafür kannst du dich bei Ismail bedanken!<<
Violet versuchte zu schreien, doch Wasser drang in ihre Kehle. Es brannte, brannte einen Pfad durch ihre Kehle bis in ihren Magen. Alles brannte, brannte, brannte!
Dann zog Lady D. Violets Kopf aus der Schüssel. Ein wilder Hustenanfall schüttelte den zarten Körper des Mädchens.
>>Und jetzt mach die hübschen Augen auf, du kleine Ratte, und schau, ob du mir noch hinterherspionieren kannst!<<
Violet schlug hemmungslos schluchzend die Augen auf.
Und sah nichts als Dunkelheit.


1. Kapitel


Der Wind fegte zornig über die schottischen Highlands. Es herrschte tiefe Dunkelheit, unterbrochen von einem kapriziös zwischen den Wolken hervorblitzenden Mond. Alles war still. Die Tiere hatten sich in Erwartung des Schneesturms in ihre Behausungen zurückgezogen.
Alles war still...
Bis auf die einsame Melodie einer Geige.
Das Mädchen stand vor dem Lagerfeuer, der Wind bauschte ihre Röcke, schlug sie an ihre nackten Beine.
Selbstvergessen zog sie den Bogen über die Geige, anmutig wankend wie eine Weidenrute. Die Musik wurde lauter, forderte den Sturm heraus. Die Zigeuner sassen in einem weiten Kreis auf Baumstämmen um das Lagerfeuer herum. Der Schein des Feuers zeichnete flackernde Schatten auf ihre erregten Gesichter.
Die junge Frau begann ihre Füsse im Takt der Musik zu bewegen, sich anmutig zu wiegen. Die Melodie wurde leidenschaftlicher, herzzerreissend, traurig.
Ein Mann erhob isch und setzte seine Geige ans Kinn. Auch er begann zu spielen, näherte sich dabei dem Mädchen. Doch dieses wich zurück, ihr Kummer duldete keine Gesellschaft. Ihr Geigenspiel wurde zornig, abweisend.
Ein Tamburin setzte ein. Das Mädchen warf die Arme hoch un wirbelte im Takt herum. Andere erhoben sich, setzten ihre Instrumente an oder begannen ebenfalls zu tanzen. Kaum einer merkte, dass es sachte zu schneien begann.


Die Seherin stand am Rand der Lichtung im Schutz eines Baums und beobachtete die Tanzenden. Ihr Mund verzog sich zu einem Lächeln. Sie war in einen weiten, rotgrünen Umhang gehüllt. Zahlreiche Armreifen und Ketten blitzten um ihren Hals und an den Armen. Sie war eine weise, rätselhafte Frau.
Keiner wusste, woher sie kam oder wohin sie wollte, und es war unmöglich, ihr Alter zu erraten. Sie sprach nur, wenn sie es wollte. Fragen stellte sie keine, denn sie wusste bereits alle Antworten. Und in den letzten dreizehn Jahren hatte sie sich - aus Gründen, die nur sie selbst kannte - um das Mädchen gekümmert.
>>Violet!<<
Das Mädchen blieb abrupt stehen, neigte lauschend das Haupt in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Die übrigen Zigeuner waren mittlerweile so gefangengenommen von der Musik, dass sie es gar nicht merkten.
>>Komm zu mir, Kind<<, befahl die Seherin in der alten rumänischen Sprache.
>>Was ist, Seherin?<< Die Geige locker unter den Arm geklemmt, näherte sich Violet dem Rand der Lichtung. Ihre Kleidung dampfte in der eisigen Luft. Violet sprach die Zigeunersprache ebenso fliessend, wie sie den Romano Kheliben, den Tanz der Freiheit und des Lebens, beherrschte.
>>Du wirst uns verlassen<<, erklärte die Seherin, so bestimmt, dass jeder Widerspruch zwecklos war. Violet versucht es auch gar nicht. Sie atmete prüfend ein. Unvertraute Gerüche drangen in ihre feine Nase, Gerüche, die sie davon überzeugten, dass ihr Abschied von den Zigeunern unmittelbar bevorstand.
>>Allein?<<, fragte sie, so gleichmütig sie konnte. Sie durfte jetzt keine Angst zeigen, die Seherin erwartete von ihr, dass sie mutig war. Immer wieder hatte die Ältere ihr eingeschärft, sich nicht durch ihre Blindheit behindern zu lassen. Das, was ihr fehlte, musste sie durch Mut und Scharfsinn wettmachen.
>>Ja.<<
Violet krallte ihre freie Hand in ihren Wollrock und holte tief Luft. Sie roch die Zigeuner, die hinter ihr ums Lagerfeuer tanzten, sie roch die Eule, die in einem Baum hockte, roch das Wasser des Bachs, der unweit des Lagers durch sein steiniges Bett plätscherte. Und dann roch sie die neuen, unvertrauten Gerüche... Pferde, Holz, Farbe. Ein Wohnwagen. Mindestens einer. Wahrscheinlich ein ganzer Zug, der sich dem Zigeunerlager näherte. Violet konnte den Staub, die Erde und das Laub riechen, das durch die Räder aufgewirbelt wurde.
>>Sind es Zigeuner?<<
>>Nein, aber sie werden dich dorthin bringen, wo du hin willst. Schnupper noch einmal.<<
Violets Kehle war vor Angst wie zugeschürt, aber sie kämpfte die aufsteigende Panik nieder und holte gehorsam tief Luft. Die Seherin hatte ihr beigebracht, ohne Augen zu sehen. Sie hatte vorhergesagt, dass sie eines Tages ebenso gut mit der Nase sehen würde, wie andere Leute mit den Augen. Und sie hatte recht behalten.
Die Dunkelheit war kein Ort der Furcht mehr für Violet.
Schneeflocken fielen auf ihre Wimpern, während sie witternd die Nase hob. Erde, Blätter, Bäume, der Bach, Pferde, Holz, Farbe, Heu - aber was war das? Ein süsslicher Geruch. Parfüm. Ein Frauenparfüm. Und Puder, Rouge, Leder ... altes Leder und Metall. Jede menge Metall.
>>Da ist etwas, es ist von Metall umgeben. Das habe ich noch nie gerochen.<<
Die Seherin lächelte. Sie hätte es nie zugegeben, aber sie bewunderte die junge Frau. Bewunderte ihren Mut, ihre Begabung und das, was sie in der Zukunft noch erreichen würde. Nichtsdestotrotz hatte die Seherin die Reise nach Schottland nicht um der jungen Frau willen gemacht. Ihr Sohn war es, Der Sohn, den sie einmal gebären würde, um dessentwillen sie sich des Mädchens angenommen hatte.
Ein Sohn, der zu Grossem bestimmt war.
>>Löwen sind gefährlich<<, flüsterte sie.
Diesmal lächelte die Seherin nicht. Violet hatte keinen Grund, die Löwen zu fürchten, aber andere Gefahren erwarteten sie auf ihrer Reise. Ja, die junge Frau würde diesen Gefahren trotzen müssen. Und am Ende dem Tod gegenübertreten...
Aber das alles lag noch in der Zukunft.
>>Sie werden gleich da sein<<, sagte Violet, und für einen Moment bröckelte die tapfere Fassade, als sie unbewusst den Ring umklammerte, den sie an einer Kette um den Hals trug.
>>Vergiss nicht, Violet: In deinem Leben ist kein Platz für Furcht.<< Die Seherin berührte kurz den Arm des Mädchens, zog ihre Hand aber sogleich wieder zurück.
>>Geh, hol deinen Mantel, mach rasch. Der Zirkus ist nach Süden unterwegs. Du kannst mit ihm nach London reisen. Dort wirst du den Mörder deines Vaters finden.<<
Violets Herz krampfte sich zusammen vor Wut und Kummer, wie immer, wenn von dem Mörder ihres Vaters die Rede war. Ohne zu zögern rannte sie zum Lager zurück, wobei sie Hindernissen allein mittels ihres scharfen Geruchssinns mühelos auswich. Als ihr der Duft eines bestimmten Beerenstrauchs in die Nase stieg, wusste sie, dass sie ihr Ziel erreicht hatte. Sie umrundete den Busch, hob den Arm und tastete nach dem Riegel des Wohnwagens, den sie sich mit der Seherin teilte.
>>Violet?<<
Es roch nach Äpfeln. Und nach Boris. Violets Lippen zuckten; ihr Zigeunerbruder war immer hungrig. Doch ihr Lächeln erlosch, als ihr klar wurde, dass sie auch in nun verlassen musste. Dass sie alle verlassen musste. Alle, die sie schätzte und liebte.
Violet öffnete den Riegel und betrat den Wohnwagen. Um sich abzulenken, richtete sie ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Aufgabe, ihren Mantel aus dem Kleiderhaufen, der sich auf einem der Betten türmte, herauszufinden.
>>Warum ignorierst du mich, kleine Schwester?<<, fragte Boris bekümmert. Er war dicht hinter ihr, und sie fühlte seinen warmen Körper in der Kälte der Nacht.
>>Ich würde dich nie ignorieren<<, antwortete Violet, nahm dieses und jenes Kleidungsstück zur Hand, nur um es wieder zu verwerfen. Baumwolle und Schafwolle saugten Gerüche geradezu auf. Und da diese Sachen schon seit Stunden durcheinanderlagen, war es gar nicht so einfach, ihre eigenen herauszusuchen.
Schliesslich stieg ihr der Geruch von Heidekraut in die Nase. Violet holte tief Luft und zog ihren Mantel unter den andren Sachen hervor. Genau zu diesem Zweck hatte sie ein Sträusschen getrocknetes Heidekraut am Aufschlag des Kleidungsstücks befestigt. Aber nicht nur deshalb: Sie liebten den würzigen Geruch des Heidekrauts, der Pflanze der Highlands.
Sie wandte sich zu Boris um, der stumm gewartet hatte.
>>Ich muss euch verlassen.<<
>>Ich hatte gehofft, das dieser Moment nicht schon so bald kommen würde.<<
In diesem Moment war Violet beinahe dankbar für ihre Blindheit. Seine Stimme klang so traurig, sie war sicher, sie hätte den Ausdruck auf seinem Gesicht nicht ertragen können. Widerwillig schüttelte sie den Kopf. Sie durfte sich jetzt nicht durch Gefühle aufhalten lassen. In ihrem Leben war kein Platz für Gefühle.
Sie war acht Jahre alt gewesen, als sie von den Zigeunern aufgenommen worden war. Sie hatten sie vor der Taverne gerettet, vor bitterer Armut, vor dem Verhungern. Dreizehn Jahre lang hatte sie im Wohnwagen der Seherin gewohnt, war mit den Zigeunern umhergezogen. Sie hatte Geige spielen gelernt, hatte Tanzen gelernt. Sie hatte gelernt, wie man sich mit Geigenspielen und Tanzen ein wenig Geld verdiente. Und wie man stiehlt, wenn man sich sein Brot nicht auf ehrliche Weise erwerben kann.
Die Seherin hatte ihr beigebracht, ihre Blindheit nicht zu fürchten und mit der Nase zu sehen.
Und sie hatte überlebt, weil sie ein Ziel hatte.
Sie musste einen Mann töten.
>>Du wirst mir fehlen<<, seufzte Violet. Und es stimmte, sie würde Boris vermissen. Er war ihr wie ein Bruder gewesen, der Einzige im Zigeunerlager, der in ihrem Alter war. Boris war ihr ein guter Freund gewesen.
>>Ich werde dich nie vergessen<<, erwiderte er und legte seine warme Hand auf ihre Schulter.
>>Und ich will mir keine Sorgen um dich machen müssen, kleine Schwester. Zeig mir, was du kannst.<<
Violet bückte sich lächelnd und zog ihren Dolch aus dem linken Stiefel. Dieses Spiel war ihr vertraut; sie hatten es oft zusammen gespielt. Sie richtete sich auf und zog konzentriert die Brauen zusammen.
>>Jetzt<<, befahl Boris.
Violet holte tief Luft: Bäume, Blätter, Schnee, Erde, Schweiss... Apfel. Sie umklammerte ihr Messer fester. Der Geruch des Apfels kam zuerst von vorne, dann von weiter weg, dann plötzlich von hinten... Violet fuhr herum, der Mantel rutschte von ihren Schultern, und sie schleuderte den Dolch.
Rasch sprang sie zu der Stelle, wo der Apfel zu Boden gefallen war. Triumphierend hob sie ihn auf.
>>Komm zu uns zurück, wenn du dich gerächt hast, Violca<<, bat Boris. Er reichte ihr den Mantel, zog den Dolch aus dem Apfel und gab ihn ihr zurück. >>Dann kannst du endlich anfangen zu leben.<<
Violet wischte die Klinge an ihrem Mantel sauber. Nun, wenn sie dem Galgen entkam, würde sie wohl nach Schottland zurückkehren. Aber sie bezweifelte, dass es dann noch etwas gab, wofür es sich zu leben lohnte.
Ein Glück für sie, dass sie aller Wahrscheinlichkeit danach wegen Mordes gehängt werden würde.
>>Leb wohl, Boris.<<
Der Wanderzirkus war eingetroffen.


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 28.08.2010

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /