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Die Fremde im Park

Fast jeden Tag war Charlotte im Park. Immer um dieselbe Zeit nach dem Mittagessen machte sie sich mit ihrem Hund Tobi auf den Weg. Egal wie das Wetter auch war, ob nun die Sonne schien, ob es stürmte, ja sogar wenn es regnete war sie unterwegs.
Seit ihre Kinder nicht mehr in dieser Stadt wohnten, hatte sie viel Zeit denn sie brauchte nicht mehr das Essen für alle kochen und sich nicht mehr um die Enkelkinder kümmern. Sie hat es gerne für ihre Kinder und Enkelkinder gemacht.
Die Kinder fehlten ihr sehr, sie hatte jetzt viel Zeit , schon fast ein wenig zu viel Zeit zum Grübeln und zum Nachdenken.
Und das tat sie auch immer, wenn sie mit ihrem treuen Gefährten Tobi in diesem Park spazieren ging
Auf ihren Spaziergängen traf sie fast immer dieselben Leute.
Sie kannte sie alle.
Man grüßte freundlich, aber man sprach nicht miteinander.
Sie kannte die hagere Frau mit ihrem großen, schwarzen Hund, der ihrer Meinung nach ein bisschen zu dick war. Die Frau ging immer etwas gebückt, sie hatte graue Haare und viele Falten im Gesicht.
Sie hatte immer denselben Mantel an. Im Sommer war der Mantel beige und im Winter blau.
‚Sie hat wohl nicht viel Geld’, dachte Charlotte, ‚kann sich wahrscheinlich keinen neuen Mantel leisten. Aber das Geld für das Hundefutter hat sie wohl. Vielleicht ist der Hund alles, was sie hat
Ich kenne sie, ich weiß, wie sie aussieht, aber sie ist mir fremd, was sie wohl so über mich denkt?’
Jeden Tag grüßte sie immer einen gepflegten, älteren Herrn. Den mit dem frechen Dackel, der immer laut klaffte, wenn er sie sah
Älterer Herr? Na ja, so viel älter als sie selbst schien er auch nicht zu sein.
Er hatte immer ein freundliches Lächeln auf den Lippen.
"Der würde mir schon gefallen, ob er auch Witwer ist ? Aber vielleicht ist er auch ein alter Junggeselle."
Sie hätte gern mehr von ihm gewusst. Sie kannte ihn, aber er war fremd für sie.
Auf dem Rückweg traf sie immer auf eine junge Frau mit einem Kind. Sie saß manchmal auf einer Bank und schaute dem Kind beim Spielen zu oder sie spielte mit ihrem Kind in der Sandkiste. Sie war immer mit dem Kind alleine im Park.
Wo war der Vater des Kindes
"Kann ja auch sein, dass es nicht ihr Kind ist. Doch das muss ihr Kind sein, die beiden sehen sich sehr ähnlich " stellte Charlotte fest. " Ob sie das Kind alleine großziehen muss? So wie sie es damals musste?
Der Kerl hat sie bestimmt mit dem Kind sitzen lassen. Oder er hat sie geschlagen. Ihre Augen sehen immer so traurig aus, selbst wenn sie mit dem Kind scherzt und lacht."
Dann war da noch der hübsche schwarze Junge er fuhr immer allein Rollschu­he im Park und machte die tollsten Sprünge.
Einmal hätte der Junge sie fast angefahren. Charlotte wollte ihn fragen, warum er immer alleine im Park sei.
Da rief er nur „Sorry“ und schon war er verschwunden.
‚Warum ist der Junge immer alleine hier? Warum hat er keine Freunde?’, grübelte Charlotte. ‚Er wird bestimmt ausgelacht und gehänselt wegen der schwarzen, krausen Haare und seiner dunklen Hautfarbe Ich sehe ihn jeden Tag ,ich kenne ihn. Aber er ist mir fremd’, dachte sie.
Fast immer in der Nähe des Rosenbogens begegnete Charlotte einem Ehepaar. Sie wusste nicht genau, ob es ein Ehepaar war Aber irgendwie sahen sie so aus. Charlotte konnte es nicht genau erklären,warum. Der Mann war sehr stattlich und machte fast immer ein ernstes Gesicht. Seine Frau war etwas kleiner und ein wenig rundlich.
Sie hatte blaue, fröhliche Augen. Meistens gingen die beiden unter gehakt und unterhielten sich .Aber manchmal liefen sie einfach nebeneinander her. Dann hatten sie Streit, das sah Charlotte sofort."Über was die sich wohl gestritten haben ? "Sie erkannte die beiden schon von Weitem Aber sie kannte sie nicht.
Sie waren Fremde für sie.
"Die anderen sehen mich auch jeden Tag. Ob sie sich auch Gedanken über mich machen?"
Wenn man sie fragen würde: „Kennst du die Frau aus dem Park, die mit dem Hund Tobi?“, würden wohl alle sagen: „Ja, die kenne ich!“
Aber in Wirklichkeit war sie für alle eine Fremde, so wie alle für sie!


Impressum

Texte: Titelbild (c) by Lydia Luise Huth-Necknig www.art-huth-necknig.de
Tag der Veröffentlichung: 01.02.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Copyright Renate Laufs 2008

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