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Das Erleben der Demenz



Einstimmung

Ein Enkel erinnert sich seines Großvaters:
In den letzten Jahren wurde er völlig kindisch – und ausgesprochen ungehörig. Er schimpfte auf Großmutter, ließ sein Essen stehen, klagte, dass seine Kinder aus dem Elternhaus fortgezogen seien, und lief von zu Hause fort – wahrscheinlich alles Dinge, die er schon immer hatte tun wollen und von denen ihn jetzt ein gesunder Verstand nicht länger abhielt.
Auf dem Deich hatte er immer einen Stock bei sich. Den richtete er von Zeit zu Zeit zum Himmel. „Pang!“, rief er dann, „wieder einer weg!“ Kein Mensch wusste, was er sich dabei vorstellte.
Anja kam eines Tages und sagte im dort üblichen nachbarschaftlichen Ton neckend: „Mein Gott, Hannes, ich hab’ unterwegs wieder so viele geschossen!“
„Nee, nee“, reagierte Opa verschmitzt, „mich hältst du nicht zum Narren, da sind ja gar keine mehr.“
Eines Tages stand ich mit ihm hinter dem Haus und schaute zum Polder hinüber, als in der Ferne ein Auto vorbeifuhr.
„Schau’“, sagte er, „ein Auto.“ Doch das war schon lange am Horizont verschwunden. In seinen Augen blitzte es auf. Man spürte, dass er sich hinter der Maske durchaus seiner Situation bewusst war. Eigentlich tragisch.
Seither glaube ich, dass verrückte Menschen dasselbe haben wie jeder andere auch, nur schlimmer.



Was geht in meinem mir lieben Angehörigen vor? Was denkt, was fühlt er? Solange sein Verstand korrekt arbeitet und er geistig gesund ist, ist es oft möglich, auf diese Frage eine leidlich befriedigende, wenn auch niemals vollständige Antwort zu bekommen. Sobald aber ein Mensch geistig abbaut und demenzkrank wird, werden diese Fragen zu nie geklärten Rätseln.
Um zu wissen, was jemand erlebt, wenn er dement wird, müsste man ja selbst dement werden – ebenso wie man selbst sterben müsste, um zu wissen, was auf dem Tod folgt. Eine definitive Antwort wird also nie möglich sein.

Dennoch werde ich in diesem Buch den Versuch wagen, darzustellen, wie ein Betroffener seine Demenzkrankheit erleben könnte. Denn eine gewisse Vorstellung vom Erleben einer Demenz ist wichtig, da wir – häufig unbewusst – unseren Umgang mit dem Betroffenen darauf abstimmen. Wenn wir zum Beispiel meinen, der Betroffene könne seine Wut beherrschen, werden wir anders reagieren, als wenn wir vermuten, er könne dies nicht.


Wie können wir das Erleben einer Demenz verstehen?



Es gibt drei Quellen, aus denen wir uns ein Bild von der Erlebniswelt des demenzkranken Menschen ableiten können.
Die erste Quelle ist das, was er selbst mitteilt – sei es mündlich, sei es schriftlich.
Die zweite Quelle ist das Verhalten Demenzkranker. Aus ihrem Weinen oder Lachen, ihrer Rastlosigkeit oder Ruhe, ihrer Aggressivität oder Liebenswürdigkeit können wir zu einem gewissen Grad herleiten, was sie vermutlich fühlen oder erleben.
Die dritte Quelle ist unser eigenes Vorstellungs- und Einfühlungsvermögen. Wohl jeder hat sich schon einmal verirrt und weiß, wie man sich dann fühlt; wohl jeder kennt auch den Dämmerzustand zwischen Schlafen und Wachen oder ist schon einmal an einem ihm beim Aufwachen unbekannten Ort erwacht (der sich anschließend als Hotelbett herausstellte).
Unser Vorstellungsvermögen kann außerdem noch durch Erlebnisberichte von Personen angeregt werden, die an schwerem Gedächtnisverlust litten, die nicht durch Demenz verursacht wurde.

So zeichnete ein russischer Soldat nach einem Kopfschuss, den er im Zweiten Weltkrieg erlitt, fünfundzwanzig Jahre lang unter unsäglichen Anstrengungen auf, was in ihm vorging.
Ich befinde mich in einer Art Nebel, wie in einem schweren Halbschlaf. In meinem Gedächtnis ist nichts, ich kann mich an kein einziges Wort erinnern, in der Erinnerung fliegen nur irgendwelche Bilder vorbei, undeutliche Visionen, die plötzlich auftauchen und ebenso plötzlich wieder verschwinden, um einer neuen Vision Platz zu machen, und ich bin außerstande, auch nur eine einzige zu begreifen oder mir zu merken.
Alles, was ich im Gedächtnis behalten habe, ist buchstäblich in einzelne Teile ohne Zusammenhang zersplittert und zerstückelt. Deshalb reagiere ich so abnorm auf jedes Wort, auf jeden Gedanken, bei jedem Versuch, den Sinn von Wörtern zu verstehen.




Das Vorstadium



Der spanische Filmemacher Luis Bunuel schreibt in seinen Erinnerungen:

Dagegen verspüre ich manchmal heftige Unruhe, ja sogar Angst, wenn ich mich eines Vorfalls der jüngsten Vergangenheit nicht mehr entsinnen kann oder mir der Name eines Menschen nicht einfällt, den ich erst vor ein paar Monaten kennengelernt habe, oder der eines Gegenstandes. Plötzlich zerbröckelt mein Ich, es fällt auseinander. Ich kann an nichts anderes mehr denken. Und dennoch ist all meine Mühe, all meine Wut vergeblich. Ist das der Beginn der totalen Auflösung? Ein entsetzliches Gefühl, wenn man für das Wort ‚Tisch’ eine Umschreibung benutzen muss. Und weiter dann die schlimmste aller Ängste: das man lebt und sich selbst nicht mehr kennt, nicht mehr weiß, wer man ist.
Man muss erst beginnen, sein Gedächtnis zu verlieren, und sei’s nur stückweise, um sich darüber klarzuwerden, dass das Gedächtnis unser ganzes Leben ist. Ein Leben ohne Gedächtnis wäre kein Leben, wie eine Intelligenz ohne Ausdrucksmöglichkeit keine Intelligenz wäre. Unser Gedächtnis ist unser Zusammenhalt, unser Grund, unser Handeln, unser Gefühl. Ohne Gedächtnis sind wir nichts.



Demenz beginnt mit Vergesslichkeit: Häufiger als früher weiß man nicht mehr, wie spät es ist; man vergisst, wer tags zuvor zu Besuch da war, wohin man seine Schlüssel gelegt hat, welche Frage gerade gestellt wurde, was man gerade tun wollte. Die Erledigung etwas komplizierterer Vorgänge in der richtigen Reihenfolge, wie z.B. kochen, ein Fahrrad reparieren, eine Geburtstagsfeier organisieren, kostet enorme Kraft. Hier und da geht dabei auch einmal etwas schief. Die dadurch entstehende Frustration äußert sich in Gereiztheit, ein anderes Mal in Depression.
Doch es gibt auch Augenblicke der Angst: Angst vor dem senilen Verfall, Angst, dement zu werden. Sie legt sich wie ein Sturm, sobald man sich wieder mit etwas beschäftigt, was einem gut gelingt. „Es ist wohl das Alter“, denkt der Demenzkranke dann.


Die Phase der Begleitungsbedürftigkeit



Eigentlich sollte man erst dann von Demenz sprechen, wenn das Leben des Betroffenen durch die Krankheit so durcheinander geraten ist, dass er nicht mehr ohne Hilfe und Unterstützung anderer leben kann. Dieser Fall wird eintreten, wenn das Vergessen eher die Regel als die Ausnahme ist. In dieser Phase werden die vielfältigen Fehlgriffe zum Anlass für Zusammenstöße mit den Menschen, die dem Betroffenen nahe stehen, besonders mit dem Partner oder derjenigen Person, mit der der Kranke zusammenlebt.
Es ist auch die Phase, in der er mit einem reichen Vorrat an Ausflüchten, Ausreden und kleinen Lügen anderen, aber auch sich selbst weiszumachen versucht, es sei doch alles gar nicht so arg – ja sogar, dass ihm eigentlich nichts fehle.
Die Versuche, die Fassade des Hauses vor anderen aufrechtzuerhalten, während in seinem Inneren das Chaos überhand nimmt, bedeutet oft, Öl ins Feuer zu gießen: Die Umgebung reagiert meist mit Ärger und Zorn darauf.


Spürt man selbst den eigenen Niedergang?



Die Frage, die die Angehörigen am meisten bewegt, ist, ob sich der Betroffene selbst seiner Lage bewusst ist.
Untersuchungen bei Menschen, die ein sehr einschneidendes Erlebnis durchgemacht und ein Psychotrauma davongetragen haben, belegen, dass der menschliche Geist eine Barriere gegen allzu schmerzliche Einsichten errichten kann. Das Gehirn wirft gewissermaßen die Tür der Erkenntnis zu, wenn starke Angst und totale Hilflosigkeit den Menschen zu überrollen drohen. Bei einigen Menschen bleibt jene Tür für immer fest verschlossen, die meisten aber kennen durchaus Augenblicke, in denen sie sich für kürzere oder längere Zeit einen Spalt breit öffnet. In solchen Momenten hören wir sie dann sagen: „Mein Kopf fühlt sich völlig leer an“, „So kenne ich mich selbst nicht“ oder „Ich spüre, dass mit mir irgendetwas gar nicht in Ordnung ist.


Eine Tochter:
Es muss ihr bewusst gewesen sein. Wenn man sehr oft etwas vergisst, sogar Dinge, die gerade erst geschehen sind, dann muss man es doch einfach merken – so wie Mutter, die einmal bei einem Wutanfall ihre Jacke anzog und Vater zurief: „So will ich nicht mehr leben. Dann stürze ich mich lieber in den Kanal!“ An der nächsten Ecke hatte sie ihr Vorhaben vergessen. War das ein Augenblick tiefster Traurigkeit über das, was über sie hereingebrochen war? Wusste sie, was los war? Oder fühlte sie sich jedes Mal wieder von uns verraten? Wir beteuerten, bestimmte Dinge gesagt und getan zu haben, doch sie konnte sich an nichts davon erinnern. Nach ihrer Ansicht logen alle. Alle versuchten sie zum Narren zu halten. War es darum?
Wir konnten nicht darüber sprechen. Sehr wohl aber versuchte sie mir zu erklären, was sie während ihrer Angstzustände sah.
„Dann schau’ ich zum Fenster und dann wird es ganz schwarz. Alles scheint in ein Loch mit undeutlichen Rändern zu verschwinden – als ob das ganze Zimmer hineingesogen würde.“ Dabei zeigte sie vage auf das Fenster. Dann schüttelte sie den Kopf.
„Nein, es ist eher so, als ließen sie den Rollladen des Nichts herunter.“



Die Erinnerung an die letzten Jahre meines Vaters die mich (M.L.) persönlich am tiefsten betroffen gemacht hat, ist die folgende:

Als mein Vater wegen seiner Krankheiten – Parkinson kombiniert mit Demenz – nur noch wenig unternehmen konnte, nahm ich ihn regelmäßig in meinem Wagen mit. Ich fuhr dann mit ihm durch die Umgebung, in der er die ersten dreißig Jahre seines Lebens gewohnt hatte. Er genoss es, die Häuser, Straßen, Bäume und Landschaften seiner Jugend wiederzuerkennen. Eines Tages, als ich wieder einmal mit ihm eine Fahrt durch die vertraute Gegend machte, war mein Vater besonders düsterer Stimmung. Er schien ganz in sich selbst gefangen zu sein. Um zu erfahren, was ihn so bedrückte, fragte ich: „Papa, was möchtest du?“ Seine Antwort kam augenblicklich und so laut, dass die Autoscheiben vibrierten: „LEBEN!“




Nicht jeder ist unglücklich



Manche Menschen haben ihr Leben lang eine so sorglose Natur, dass offenbar nichts sie aus der Bahn werfen kann, folglich auch schwere Vergesslichkeit und geistiger Verfall nicht.

Ein demenzkranker Mann:
Wir waren ganz zufrieden miteinander; zufriedene Leute. Alle beide eigentlich. Immer. Die auch mit allem, was sie erlebten, zufrieden waren. Wir aßen eine Apfelsine … ein Stückchen Kuchen … Wir tranken einen – gaaanz kleinen – Dinges … - und das war genug. Wir hatten kein Bedürfnis nach mehr oder anderen Dingen. Danach hatten wir alle beide kein Bedürfnis. Wir hatten ja andere Sachen. Und das hat sich auch nicht geändert. Das ist nie durch irgendwas – oder irgendjemanden – gestört worden. Alles bleibt unverändert – wie immer. Ganz merkwürdig.
Ich bin ein zufriedener Mensch. Ja. Der damit alle Pläne, wenn es denn welche gab, voll genossen hat. Berta (seine verstorbene Frau) sagt: „Hänschen ist mit allem zufrieden. Hänschen ist immer zufrieden.“ So ist es auch. Ich bin ein total zufriedener Mensch. Und anders kann ich es mir eigentlich auch nicht vorstellen. Mein Grundsatz war, dass ich nie unzufrieden mit dem Leben war.
Ich hab’ das Leben hoch geschätzt. Und danach hab’ ich auch gelebt. Eigentlich. Was mir auch über den Weg lief, davon hab’ ich mir das Schöne ausgesucht. Das Nichtschöne wollte ich ab- … abstoßen. Abwerfen! Damit wollte ich nichts zu tun haben. So war es eigentlich eingeteilt.



Wenn solche Menschen dement werden, machen sie häufig einen glücklichen Eindruck. Sie waren glücklich und bleiben es, erst recht, wenn die sie umgebenden Lebensumstände angenehm sind.
Manche scheinen sogar glücklicher als zuvor zu sein, denn viele Sorgen, die früher ihr tägliches Leben belasteten, bestehen nicht mehr.
Manche sind möglicherweise auch aus einem anderen Grund glücklich. Bisher sind wir davon ausgegangen, dass ein Demenzkranker sich seiner Situation bewusst ist, und sei es auch nur ein einziges Mal. Es ist jedoch auch möglich, dass die Erinnerungsbruchstücke so allmählich verschwinden, dass der Betreffende es gar nicht merkt. Ein solcher Mensch hat Glück: Ihm passiert etwas Schlimmes, aber er selbst spürt es nicht. Auf ihn scheint das Sprichwort zu passen ‚Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß’.


Charaktereigenschaften verstärken sich



Im Zusammenhang mit Alzheimer ist in der Fachliteratur von Persönlichkeitsveränderung die Rede. Ich sprach regelmäßig mit Monika über die Frage, ob das auch auf ihre Mutter zutraf. Oberflächlich betrachtet, musste man es annehmen.

Monika erzählt:
Sie wurde immer lieber und anhänglicher, immer dankbarer für kleine Aufmerksamkeiten, immer einfacher im Umgang. Die scharfen Kanten, all jene giftigen Spitzen, die einen so hässlich verletzen konnten, waren durch die letzten Stromschnellen weggeschliffen. Im Nebel ihres Alters schien sie immer kindlicher zu werden. Wer das vor etwa 10 Jahren vorhergesagt hätte … nun, der hätte sie nicht gekannt. Zugleich aber war sie noch unverkennbar sie selbst. In ihrem Kern hatte immer eine gehörige Portion Willenskraft und Schlauheit gesteckt, und die waren immer noch da. Man könnte sogar sagen, dass sie in dieser Hinsicht nur noch ausgeprägter wurde. Es ginge wohl zu weit, anzunehmen, dass all ihre Liebenswürdigkeit nur eine List war; es gab keinerlei Hinweis darauf, dass sie in der Lage war, ihren Zustand zutreffend einzuschätzen. Aber dass sie Vorteile dadurch hatte, stand sehr wohl fest. Alles wurde schwächer – alles, außer ihrer Fähigkeit, Menschen für sich einzunehmen. Sie war höflich. Sie sagte bitte und danke. Sie war sauber. Sie hielt ihre Beine zusammen, als sie in einen Rollstuhl gesetzt wurde. Sie war humorvoll. Sie ließ keine Gelegenheit aus, sich selbst und andere zu verulken. Ihre Stimme wurde immer schwächer, ihre Witze wurden stärker. Jeder liebte sie.



Von einer Demenz betroffene Menschen verändern sich meistens nicht völlig. Glückliche Menschen bleiben oft glücklich, unglückliche unglücklich. Die meisten bleiben in einem Zustand dazwischen, sie sind – ebenso wie Nichtdemente – mal froh, dann wieder betrübt, kurz darauf ängstlich oder zornig usw.

Die Grundstimmung bleibt beim demenzkranken Menschen oft dieselbe wie zuvor. Allerdings können sich bestimmte Charaktereigenschaften verstärken. Ein von Natur aus misstrauischer Mensch wird möglicherweise noch misstrauischer, ein freundlicher manchmal noch freundlicher.
Die Charaktereigenschaften aus der Zeit vor der Demenz scheinen sich also zu verstärken. Das muss jedoch nicht bei jedem geschehen. So verändern sich einige Menschen in ihrer ganzen Persönlichkeit: ein liebenswürdiger und einfühlsamer Mensch wird zum Griesgram und Haustyrannen. Ebenso ist der umgekehrte Fall möglich.

Eine Tochter:
Meine Mutter und ich sind ganz gewiss alles andere als Freundinnen. Wir waren es nie. Nicht, dass wir viel Streit gehabt hätten – wir hatten einfach nie so viele Worte. Vielleicht fand sie es nicht der Mühe wert, mit mir einen Disput zu beginnen. Schon als Kind hatte ich das Gefühl, meiner Mutter liege nicht sehr viel an mir. Dieses Gefühl hat sich im Laufe der Jahre verstärkt. Meine Mutter war und blieb auf sich selbst bezogen. Als ich heiratete, war sie eifersüchtig auf mein kleines Glück einer guten Ehe, einer netten und warmherzigen Familie und eines Berufes, in dem ich ganz und gar aufging. Selbst jetzt, da sie weniger distanziert und abfällig ist als früher, gelingt es mir nicht, sie nett zu finden. Am liebsten würde ich ihr entgegenschreien: „Du bist ja nur so, weil du mich so dringend brauchst, weil deine drei Schwiegertöchter schon lange den Mut aufgegeben haben. Deine Krankheit hat dich verändert. Gefühle des Bedauerns oder der Liebe haben damit nichts zu tun.“



Wie jemand seine Krankheit erlebt, wird nicht nur dadurch bestimmt, wie die Krankheit auf die betreffende Person einwirkt, sondern auch dadurch, wie die Person mit der Krankheit umgeht. Wie jemand auf die Demenz reagiert und sie durchlebt, ist von seiner Persönlichkeit abhängig, von dem, was er zuvor durchlebt hat und wie er früher mit schwierigen Situationen umgegangen ist. Hat ein Mensch schon immer schnell die Fassung verloren, so wird er seine Demenz ebenfalls als Katastrophe erleben; hat er jedoch Probleme mutig in Angriff genommen und nach Lösungen für sie gesucht, so wird er seine Demenz sicher als weniger schrecklich empfinden.
Im Übrigen ist die Art und Weise, in der das Umfeld auf die Krankheit und den Betroffenen reagiert, ebenso bestimmend für das Erleben der Krankheit wie die Krankheit selbst.


Das Gefühl beherrscht den Verstand



Nicht nur das Erinnerungsvermögen lässt nach, sondern auch die Verstandeskraft. Der Betroffene ist weniger als früher in der Lage, nachzudenken, auch nicht über sein eigenes Verhalten.
Bei Nichtdementen liegt zwischen Gefühl und Handeln meist eine Phase des Nachdenkens. Werden wir von einem Fremden geschlagen, werden die meisten von uns zunächst überlegen, wie sie darauf reagieren sollen – zurückschlagen, schimpfen, flüchten, um eine Erklärung bitten usw. Diese Reflexionsphase bewahrt uns davor, unserem ersten heftigen Impuls nachzugeben. Nachdenken mildert meist unsere Reaktion ab.
Die Zerrüttung des Verstandes bewirkt, dass der Demenzkranke häufig impulsiver und heftiger reagiert. Fragen, wie zum Beispiel „Kann ich das wohl sagen?“ oder „Kann ich das tun?“, hemmen ihn nicht mehr. Er handelt aus dem Gefühl heraus. Setzt er dann seinen Impuls in die Tat um, scheint er selber zu erschrecken.
Der Kranke kennt in dieser Phase nur noch so genannte Grundgefühle: Ekel, Wut, Traurigkeit, Angst, Freude und Vertrauen. Alle Gefühle, die einen voll funktionsfähigen Verstand erfordern, verschwinden allmählich.
Scham erfordert beispielsweise das Wissen, was sich gehört. Für Bewunderung und Dankbarkeit muss man wissen, welche Fähigkeiten nötig sind, um etwas Besonderes zu leisten.

Auch jene Gefühle, die sich auf Vergangenheit oder Zukunft beziehen, beginnt der Demenzkranke nicht mehr zu empfinden. Wie sollte er Hoffnung hegen, wenn für ihn der Begriff ‚Zukunft’ nicht mehr besteht? Wie sollte er Rachegefühle spüren, wenn er sich doch der Taten anderer nicht mehr erinnert? Und wie sollte er sich schuldig fühlen oder Bedauern empfinden für etwas, das er lange vergessen hat?
Gefühle wie Scham, Dankbarkeit, Schuld, Hoffnung, Rache und Reue gehen in dieser Phase letztlich verloren.

Ein Sohn:
Es war keineswegs so, dass sie einzelne Ereignisse vergaß; sondern sie war nicht mehr in der Lage, sich selbst in einen sinnvollen Zusammenhang mit diesen Ereignissen zu stellen. Sie wusste, wer sie einmal gewesen war, aber nicht, was aus ihr geworden war. Ihre Kindheitserinnerungen waren intakt, aber ihr Kurzzeitgedächtnis war zusammengebrochen, so dass Vergangenheit und Gegenwart durch einen breiten Graben voneinander getrennt waren.




Die Phase der Versorgungsbedürftigkeit



Brief einer demenzkranken Bewohnerin eines Pflegeheimes:

Sonntag

Innig geliebte Eltern,
obwohl ich nicht mehr gut sehen kann, werde ich versuchen, euch zu schreiben. Wie geht es euch beiden? Ich hoffe gut. Dies ist mein erster Brief, seit ich hier bin. Mir fehlt es an nichts. Und würde gern fortgehen, zu euch. Mir fehlt nichts, nur meine Sehkraft. Brauche neue Brille, aber leider kein Geld dafür. Ich hoffe, ihr beiden macht es gut. Aber mich zu besuchen schafft ihr nicht. Niemand kommt mich mal besuchen. Nur Luise. Mir fehlt nichts. Ich könnte gut nach Hause. Anton ist auch hier, aber er kommt nie zu mir. Er wohnt oben, ich nicht. Ich brauche eine andere Brille, aber hab kein Geld. Darf ich bitte nach Hause kommen? Oder habt ihr mich als Tochter abgeschrieben? Ich habe hier schon eine Menge Tränen vor Heimweh vergossen. Habe, seit ich hier bin, noch keine Post oder sonst was bekommen. Besuch kommt auch nicht viel. Nur Luise ist eine treue Besucherin. Ihr wisst nicht, wie viele Tränen ich hier schon vergossen habe. Mir fehlt gar nichts, sagte die Schwester. Stellt euch das mal vor! Es kostet nur Geld und Tränen. Die Schwester fragte gestern, ob ich gar keine Angehörigen habe.
Ich schließe, denn ich sehe sehr schlecht.
Herzliche Grüße von Eurer Tochter Antonia



In der vorherigen Phase der Begleitungsbedürftigkeit, konnte der Demenzkranke keine neuen Informationen mehr speichern, denn der ‚Aufnahmeschalter’ des ‚Gedächtnis-Videorecorders’ war gewissermaßen defekt. Der ‚Wiedergabeschalter’ hingegen arbeitet noch gut:
Was die betroffene Person vor

Beginn der Krankheit gespeichert hatte, konnte sie noch abspielen.
In dieser Phase – der Phase der Versorgungsbedürftigkeit – treten jedoch auch bei früher aufgenommenen Programmen erhebliche Schäden auf.


Zurück zur Vergangenheit



Das Muster des Gedächtnisabbaus bewirkt, dass die betroffene Person mit ihren Erinnerungen immer weiter in die Vergangenheit zurückgeht und ihr Erleben von Themen beherrscht wird, die in ihrem früheren Leben wichtig für sie waren. Der frühere Landwirt will einige Male pro Tag zu seinen Kühen gehen, weil sie gemolken werden müssen. Hindert ihn jemand daran, wird er verwirrt, böse oder traurig. Dasselbe gilt für die Hausfrau, die sich verzweifelt fragt, wann ihre Kinder nach Hause kommen, und für den demenzkranken Menschen, der sich wieder jung fühlt und seine Eltern vermisst.


Desorientierung in Zeit und Raum



Der Demenzkranke verliert die Orientierung in Raum und Zeit und fragt sich immer häufiger: „Wo bin ich? Was tue ich?“ Die Beantwortung dieser Fragen stellt ihn oft vor unüberwindliche Probleme. Er verirrt sich im wahrsten Sinne des Wortes.

Eine demenzkranke Frau:
Ich wohne noch bei meinem Vater, Jaha, ich bin heute morgen schon früh aufgestanden. Ich-wohn-in-diesem-Haus…? Hahaha. Nee doch nicht? Wie kann das denn sein? Jetzt bin ich ganz durcheinander. Hahaha … ernsthaft. Ich weiß nichts davon. Also … dann wissen meine Eltern das auch?
Meine Eltern sind … gestorben …? Da bin ich aber erstaunt. Das versteh’ ich nicht. Ich war diese Woche noch zuhause. Da musste ich was holen. Das finde ich merkwürdig. Kann ich mir nicht vorstellen. Nee, das kann nicht sein. Mein Vater ist nicht gestorben. Der lebt noch. Ja, das weiß ich genau! Das hoffe ich doch sehr. Das finde ich viel schöner. Ich werd’ mal meine Mutter fragen. Die weiß alles besser als Vater.



Verlieren sich die vertrauten festen Rahmen von Zeit und Raum, wird die Kluft zwischen der Welt des Nichtdementen und der neuen, anderen Welt der Dementen unüberbrückbar.
Je weiter die Krankheit fortschreitet, desto schwieriger wird das Nachdenken über sich selbst. Die Reflexion eigener Gefühle und eigenen Verhaltens erfordert einen differenzierten Denkprozess. Die Fähigkeit dazu ist jedoch Stück für Stück abhanden gekommen.
Wenn ein demenzkranker Mensch versagt oder ihm etwas nicht gelingt, hat dies eine ganz andere Bedeutung als zuvor. Früher konnte er noch denken ‚Ich versage, wo ich es doch können müsste, folglich geht es mit mir abwärts’ oder ‚Ich versage, was sollen andere von mir denken?’. – Jetzt ist er zu derlei differenzierten Betrachtungen nicht mehr in der Lage. Er kommt nicht weiter als: ‚Es geschieht nicht das, was ich will’.
Die Fehlschläge haben für sein Bild von sich selbst keine Konsequenzen mehr. Die eigene Identität ist nämlich derart zerbrochen, dass sie kaum noch besteht. Trauer oder Ärger infolge des Versagens treten mehr und mehr zurück, manchmal scheint – zeitweilig – eine gewisse Verwunderung an ihre Stelle zu treten.

In der letzten Zeitspanne der Phase der Versorgungsbedürftigkeit lässt der Kranke die Ereignisse geschehen, statt sich selbst die Mühe zu machen, in irgendeiner Weise Initiative zu ergreifen. Er wartet ab und reagiert. Hätte er in einer früheren Phase bei einem Streit noch die Initiative ergriffen, auf jemanden zuzugehen, unterlässt er dies jetzt.
Die meisten scheinen sich nun nicht mehr die Frage nach der Ursache des Versagens zu stellen, sondern fragen nur noch, wie oder bei wem sie um Hilfe bitten können.


Schmerzliche Erfahrungen aus der Vergangenheit treten wieder zutage



Viele ältere Menschen haben in ihrem Leben ein oder mehrere einschneidende Geschehnisse erlebt, zum Beispiel einen (Beinahe-)Unfall, Bedrohung, Angriffe, Vergewaltigung, Misshandlungen, den gewaltsamen Tod eines geliebten Menschen, Verlassenwerden, Tod eines Kindes, Kriegserfahrungen usw.
Im Gefolge einer Demenz versagen die zuvor praktizierten Mechanismen, Schicksalsschläge zu bewältigen. Zugleich brechen auch die ‚Dämme’, die bisher Schutz gegen übergroßes Leid boten. Dadurch können alte psychische Wunden plötzlich wieder aufbrechen. Ein aktuelles Ereignis kann ein anderes aus der Vergangenheit wieder heraufbeschwören. Das frühere schreckliche Geschehen wird plötzlich wieder erlebt, als finde es im Hier und Jetzt statt. Eine klemmende Tür kann einen demenzkranken Menschen an eine frühere Gefangenschaft erinnern und heftige Ängste auslösen. Eine zu kräftige Umklammerung des Handgelenks erlebt er möglicherweise als Beginn einer Misshandlung durch seinen eigenen Vater. Die Augen oder die Gestalt einer jungen Frau erinnern in plötzlich an jene Frau, die im Krieg von einem der abziehenden Soldaten direkt vor den eigenen Augen getötet wurde.
Der demenzkranke Mensch erlebt so am helllichten Tage einen schrecklichen Albtraum; doch für ihn ist es kein Traum, sondern Realität. Völlig verängstigt beginnt er sich zu gebärden wie ein verwundetes Tier oder wie ein Tier in Todesangst, wenn er unversehens mit einem alten Schmerz konfrontiert wird.
Gefühle behalten ja, sofern sie nicht verarbeitet werden, ihre Kraft. Gefühlsausbrüche können daher die Folge des Aufbrechens alter psychischer Wunden sein.

Eine Partnerin:
Dann werden in diesem Prozess alte, längst für bewältigt gehaltene Ängste aus der Vergangenheit unerwartet lebendig.
Als der zweite Weltkrieg ausbrach, war Justus Reserveoffizier. Die Tage im Mai bedeuteten für ihn und sein Infanterieregiment einen kurzen, ungleichen Kampf in Seeland. Sie konfrontierten Justus mit dem Verlust einiger mutiger Kameraden, mit der Kapitulation, einem schmählichen Rückzug und einer Rückkehr dahin, was das ‚normale Leben’ hieß, was jedoch in den darauf folgenden Jahren nie mehr normal werden sollte.
In dieser Nacht ist es anders. Ich fühle es. Ich folge ihm zum Flur. Er sucht nicht, sondern späht seltsam angespannt ins Halbdunkel. Etwas Unsichtbares zwingt ihn zum Handeln. Als er mich sieht, packt er mich am Arm und schreit: „Bücken!“ Als ich verständnislos stehenbleibe, fasst er mich um die Taille, öffnet die Badezimmertür und stößt mich hinein. Folgt selbst und schreit mit schriller Stimme: „Such’ doch Deckung! Sie schießen!“ Mit beiden Händen zieht er den Türgriff heran und versucht mit bebenden Fingern, das Schloss auf ‚Besetzt’ zu drehen. In dem engen Raum stellt er sich breit vor mich. Ich fühle den Rand des Waschbeckens hart in meinem Rücken. Müde und schlaftrunken, wie ich bin, kann ich ihm bei dieser Kampfszene nicht ganz folgen und sage also: „Na na, nun mal ganz ruhig, da ist ja gar nichts. Komm’!“, und versuche die Tür zu öffnen. Wieder packt er mich. Als ich mich vergeblich bemühe freizukommen, bin ich erstaunt über seine Kraft. „Sei doch nicht so dumm!“ – wieder diese schrille Angststimme – „Wenn sie dich erschießen, ist es deine eigene Schuld!“ Und so bleiben wir also stehen. Er mit bloßen Füßen auf der runden Badematte, ich auf den kalten Fliesen.




Sich in den anderen einfühlen



Je weiter die Demenz fortschreitet, desto sensibler wird der Kranke dafür, wie andere mit ihm umgehen. Da er immer weniger versteht, was sie sagen, wird er mehr auf Körperhaltung, Gesichtsausdruck, Gesten und Tonfall achten. Die Art, in der er den anderen beurteilt, ist etwa mit der Art vergleichbar, in der wir uns über Menschen ein Urteil bilden, die wir sprechen sehen

, aber nicht hören

– etwa so, wie bei einem Fernsehprogramm, bei dem der Ton ausgeschaltet ist.
Die Tatsache, dass der Kranke – stärker als vor seiner Krankheit – sein Augenmerk auf nonverbale Aspekte der Kommunikation richtet, hat nicht nur damit zu tun, dass er den Inhalt eines Gesprächs nicht mehr richtig versteht.
Ein zweiter Grund dafür ist, dass die Beziehung zum Gegenüber jetzt viel wichtiger für ihn geworden ist. Um sich zu behaupten, benötigt er die Hilfe anderer. Es ist für ihn lebenswichtig geworden, zu wissen, ob eine Person vertrauenswürdig ist und es gut mit ihm meint. In dieser Hinsicht wird er einem kleinen Kind immer ähnlicher, das für die Befriedigung seiner Bedürfnisse ebenfalls zum großen Teil auf andere angewiesen ist. Kann er dem anderen vertrauen, fühlt er sich sicher und wohl; kann er es nicht, wird er ängstlich.


Gestörte Wahrnehmung



Michael erzählt:
„Verstehst du nicht?“ fragte mein Bruder. „Sie hat die Grammatik des Kinos vergessen: dass man irgendwo hingeht und im Dunkeln sitzt und die weiße Frau immer größer werden sieht, wie mit dem Auge Gottes. Kein Wunder, dass sie Angst bekommen hat.“
„Zu neuen Bildern hat sie kein Verhältnis mehr. Sie kann nicht sagen: Ich sitze hier, und das ist bloß ein Film. Es hat sie vollständig aufgesogen.“
Mir fiel ein, wie meine Frau und ich mit den Kindern, als sie noch klein waren, einmal ins Kino gegangen waren, und wie sie, als sie einen Wolf über die Leinwand auf sich zuspringen sahen, aufkreischten und die Köpfe in unseren Schößen vergruben. Ich erinnerte mich, dass ich die Kinder beneidet und gedacht hatte, wie einem doch manches entgehe, wenn man sich über die Illusion so im Klaren sei.
Die Krankheit hatte Mutter in den Zustand meiner Kinder zurückversetzt. Es gab zwischen ihr und der Leinwand keine Distanz mehr, keine Trennwand des Wissens. Wie die Kinder war sie dem Wolf schutzlos ausgeliefert.
„Was in dem Film geschehen ist, könnte etwa dem entsprechen, was mit ihren Erinnerungsbildern geschieht“, sagte mein Bruder. „Sie sitzt im Filmtheater ihres Kopfes und hat keine Ahnung was diese Bilder bedeuten oder wie sie sich dazu verhalten soll. Sie sieht bloß immer ein Ding nach dem anderen.“
Ich dachte, wie verrückt es sein müsste, wenn man nicht mehr über seine Erinnerungen verfügen konnte: das Feuer auf der Weide hinterm Haus, lautes Rufen, der Geruch von Asche, ein Mann, der in einer Badehose mit einem Schlauch herumläuft – und nichts davon ergibt einen Sinn, weil es einem nicht mehr gehört, weil man gar nicht mehr da ist, weil man nicht begreifen kann, warum einem diese Bilder auf der Leinwand im Kopf herumkrabbeln.



Die Sinnesorgane des Demenzkranken empfangen wie zuvor ihre Informationen. Doch je mehr er geistig abbaut, desto schlechter gelingt es ihm, alles richtig zu verarbeiten. Immer häufiger muss er andere in Anspruch nehmen, um zu verstehen, was er sieht und hört. Doch es hilft ihm nicht, Fragen zu stellen. Denn die Antworten, die er bekommt, sind oft zu schwierig. Das Aufnehmen und Speichern von Informationen gelingt jetzt gar nicht mehr. Die Information rieselt noch immer auf ihn hernieder, doch er kann immer weniger damit anfangen.
Je schwieriger die Verarbeitung von Informationen wird, desto mehr verschließt er sich dagegen. Immer längere Perioden des Tages verbringt er mit geschlossenen Augen: dösend und schlafend.


Die Phase der Pflegebedürftigkeit




Auf der Suche nach Sicherheit und Vertrauen



Eine Tochter über ihre demenzkranke Mutter:
War ihr Gedächtnis früher ein wurmstichiger Apfel, so ist jetzt fast gar nichts mehr davon übrig geblieben. Der Blick kehrt in sich nach innen. Sie schaut dahin, wo nichts mehr zu sehen ist. Und außen sah sie schon eine ganze Weile nicht mehr, das ihr noch bekannt vorkam. Die Zukunft ist zu Ende. Ihre Kinder müssen ihr Gedächtnis verwalten. Wir müssen uns ihrer Vergangenheit erinnern, also auch unserer eigenen aus der Kinderzeit. Wir müssen jetzt selber im Kopf behalten, wer von uns mit dreizehn Monaten schon laufen konnte und wer den Spinat zwischen Kiefer und Wange sammelte, um ihn in großem Bogen herauszuprusten. Sie wird nicht mehr erzählen, wer von uns Kindern ‚Stück Happi’ sagte, wenn er sie kauen sah und auch etwas haben wollte. Und von ihr werden wir auch nicht mehr hören, wer von uns beinahe an den Röteln gestorben wäre.



Ein Sohn über seine Mutter:
Dann, wie schon tausende Male zuvor, trat ich eines Abends in ihr Zimmer; sie lag im Bett, die Hände auf der Decke, das uralte Gesicht von der Nachttischlampe beleuchtet, und beim Geräusch meiner Schritte drehte sie sich langsam um und sah mich an. Ich blieb stehen, sie sah mich weiterhin an: klar, konzentriert und vollkommen gleichgültig. Dann sah sie weg. Diesmal war ich sicher, dass sie weder wusste noch wissen wollte, wer ich war.
Nun war er da, der lange prophezeite Moment, auf den ich mich verzweifelt vorbereitet hatte, der Moment, in dem Mutter aus ihrem Ich hinaus und mit offenen Augen in die Welt des Todes eintrat.



In der letzten Phase seiner Reise zum eigenen Sonnenuntergang – wie der frühere amerikanische Präsident Ronald Reagan seinen eigenen Demenzprozess bildhaft umschrieb – ist der betroffene Mensch kaum noch in der Lage, zielgerichtet und koordiniert zu handeln. Er sucht keinen Ansporn mehr; er ist dazu nicht mehr imstande. Vielleicht ist die Lebenswelt eines Demenzkranken in dieser Phase die gleiche wie die eines Säuglings. Wie bei einem Kleinkind, das ebenfalls verletzlich und von anderen abhängig ist, dreht sich sein Leben jetzt um die Befriedigung primärer körperlicher Bedürfnisse wie Essen, Trinken, Ruhe und Wärme, aber auch emotionaler Bedürfnisse wie etwa derer nach Sicherheit und Geborgenheit.

Alles, was er noch an Kommunikation zeigt – körperliche Unruhe, Panikschreie, Rufen nach Kontakt und Weinen – scheint auf die Befriedigung jener Bedürfnisse ausgerichtet zu sein. Da er niemanden mehr erkennt, erlebt er möglicherweise die gleiche Angst wie ein Kind, dass seine Mutter vermisst. Die gebeugte Haltung, ähnlich der eines ungeborenen Kindes in der Gebärmutter, scheint dies körperlich auszudrücken.

Vor etwa 5 Jahren versorgte ich in einem Pflegeheim eine schwer demente Frau, die den ganzen Tag lang mit ihrem Kuscheltier im Arm in Fötushaltung im Bett lag. Verbale Kommunikation war nicht mehr möglich. Mit leisen Klängen, manchmal auch mit ein wenig Blickkontakt und einer Berührung war sie jedoch noch zu erreichen. Solche Augenblicke genoss sie sichtlich.
Als ich eines Morgens kurz bei ihr hereinschaute, weinte sie leise vor sich hin. Da sie nicht mehr sagen konnte, was ihr fehlte, habe ich sanft mit ihr geredet, ihr über den Kopf gestrichen und sie anders hingelegt. Dann habe ich ihr etwas zu trinken gegeben. Aber nichts half: Sie weinte weiterhin. So habe ich sie nochmals anders gebettet, ihr hier und dort ein Kissen hingelegt, aber auch das half nicht. Sie weinte tieftraurig mit dicken Tränen, die ihr über die Wangen liefen.
Spontan habe ich dann das Gitter hinuntergeschoben, habe mich neben sie auf die Decke gelegt und sie in den Arm genommen. Sofort legte sie ihren Kopf schmusend an meine Schulter, steckte ihre Hand in meinen Ärmel, streichelte meinen Oberarm und sagte einige Male: „Mama, Mama!“ Ich fühlte, wie die Spannung aus ihrem Körper verschwand. In meinen Armen schlief sie ein. Sehr vorsichtig bettete ich sie in die Kissen zurück, legte ihr das Kuscheltier in die Arme und ging hinaus – Das war es also: Sie vermisste ihre Mutter, ihre Sicherheit. Drei Wochen später verstarb sie.



Zum Glück hat die Natur eine wirksame Medizin gegen den Verlust der Sicherheit und den Verlust der Mutter gefunden: ein großes Schlafbedürfnis. Da Vergangenheit und Gegenwart vollständig aus seinem Gedächtnis gelöscht sind, hat der Kranke keine Vorstellung mehr von der Zeit. Er lebt in einem ständigen ‚Jetzt’, und nur das, was sich im Hier und Jetzt abspielt, ist real.


Eingeschränktes Bewusstsein



Am Ende besteht die Welt des Demenzkranken eigentlich fast nur noch aus seinem Körper. Er versteht kaum noch, was um ihn herum geschieht. Klapperndes Geschirr ist für ihn nicht mehr ein Signal dafür, dass Essen naht. Er weiß auch nicht mehr, dass ein vor ihm stehender Becher zum Trinken bestimmt ist. Erst wenn ihm jemand den Becher zum Mund führt und er die Flüssigkeit auf den Lippen spürt, beginnt er reflexartig zu trinken. Riechen, Tasten und Schmecken sind jetzt wichtigere Sinnesorgane als Hören und Sehen.
Die wenigen Verhaltensäußerungen, die er noch zeigt, sind in erster Linie körperlicher Art. Wenn er bestimmte Nahrungsmittel oder Getränke nicht mag, lässt er dies dadurch erkennen, dass er den Kopf wegdreht, die Lippen aufeinander presst, eine abwehrende Geste macht oder Essen und Trinken ausspeit. Manche verweigern in dieser Phase Essen und Trinken und wollen offenbar damit deutlich machen, dass sie nicht mehr leben wollen.
In der letzten Lebensphase nimmt der Demenzkranke Informationen nur noch sehr schwach wahr. Sein Erleben ähnelt einem Zustand der Betäubung oder dem des verminderten Bewusstseins bei Nichtdementen. Die Grenze zwischen der eigenen Person und der Umgebung scheint sich zu verwischen.
Er erkennt sich selbst nicht mehr. Die eigenen Arme und Beine scheint er manchmal wie fremde Gegenstände zu betrachten. Möglicherweise erlebt er seinen Körper tatsächlich als fremd.
Das Letzte, was der schwer Demenzkranke verlernt, ist das Lächeln. Kann er auch dies nicht mehr, ist der Tod häufig nicht mehr fern.


Das nächste Buch wird von Handlungsempfehlungen, sowie von den Schuldgefühlen der pflegenden Angehörige und deren Familie, handeln




Impressum

Tag der Veröffentlichung: 29.06.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Die Erlebniswelt der Betroffenen

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