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Zweites Demenzgesetz: Der Gedächtnisabbau




„Da bin ich wieder“, sagte sie zu ihrer Mutter, „und wie geht es dir jetzt?“
Ihre Mutter schaute auf. „Ich danke Ihnen“, sagte sie höflich mit hoher, etwas schriller Stimme, „aber ich würde jetzt doch gern wieder zu meinen Kindern gehen.“
„Aber du bist doch bei deinen Kindern!“
Ihre Mutter schaut sie verständnislos an. „Bin ich bei meinen Kindern?“
„Wir sind doch keine Kinder!“



Die Merkmale beginnender Demenz können mit dem ersten Gesetz, der gestörten Einprägung, recht gut erklärt werden. Für das, was wir bei mäßiger und schwerer Demenz wahrnehmen können, ist es jedoch unzureichend. Die Erklärung hierfür liefert das zweite Gesetz. Um darlegen zu können, was dieses beinhaltet, möchte ich zuvor wiederum etwas über das normale Gedächtnis sagen.

Unser Langzeitgedächtnis können wir uns wie eine große Bibliothek voller Tagebücher vorstellen. Der englische Schriftsteller Oscar Wilde drückte es folgendermaßen aus: „Das Gedächtnis ist das Tagebuch, welches wir immer bei uns tragen.“
Ein Mensch mit einem funktionstüchtigen Gehirn schreibt alles, was er der Mühe wert erachtet, in sein Tagebuch. Der Journalist und Schriftsteller Willem Oltmans schrieb in 40 Jahren 250.000 Tagebuchseiten, d.h. fast achtzehn Seiten pro Tag.
Jeder von uns arbeitet tagtäglich unbemerkt an einem Gesamtwerk, das die Arbeit von Oltmans bei weitem in den Schatten stellt. In diesen Tagebüchern stehen all die Dinge, die für uns aus dem einen oder anderen Grund von so großer Bedeutung waren, dass wir sie notierten. Eine kleine, willkürliche Auswahl: die Mandeloperation, die Geburt der Schwester, die Anstandsregeln, die die Eltern lehrten, die Spiele mit dem Großvater, der Tod der Großmutter, der erste Schultag, der Mathematik- und Deutschunterricht in der Grundschule, geographische Kenntnisse, Düfte, die wir im Laufe unseres Lebens einatmeten, Liebesabenteuer, Gespräche oder Begegnungen, die uns sehr beeindruckt haben, die zahllosen großen und kleinen Erfolgserlebnisse bzw. Fehlschläge in unserem Leben, die Geburt der Kinder usw. Tausende von Tagebüchern werden so voll geschrieben. Um das richtige Tagebuch rasch finden zu können, wenn wir es benötigen, sind diese Tagebücher immer ordentlich jahrgangsweise sortiert.

Ein Achtzigjähriger, der seit drei Jahren dement ist, wird sich hingegen an die Ereignisse dieser letzten drei Jahre kaum noch erinnern. Durch seine gestörte Einprägung war er während dieser Zeitspanne nicht mehr in der Lage, Tagebücher anzulegen. Diese Jahrgänge sind leer. Sehr viel kann er hingegen noch über den Zeitraum vor Ausbruch seiner Krankheit, d.h. vor seinem 77. Lebensjahr, erzählen.

Mit dem Fortschreiten der Demenz tritt jedoch auch hierin eine Veränderung ein:
Das zweite Gesetz tritt in Kraft:

Auch das Langzeitgedächtnis beginnt abzubröckeln, und zwar auf eine ganz besondere Weise: Es wird wie ein Wollknäuel abgewickelt, vom Ende zum Anfang hin.



Zuerst verschwinden die Tagebücher des Jahrgangs vor Ausbruch der Krankheit, später die des Jahres davor usw. Der Vergleich mit Bücherwürmern drängt sich auf, die in die Gedächtnis-Bibliothek eindringen und die Tagebücher fressen. Diese Tiere bevorzugen frische Nahrung, also beginnen sie mit den neuesten Tagebüchern. Als Letztes bleiben die Tagebücher aus der Jugend und Kindheit übrig. In einem fortgeschrittenen Stadium verfügt ein Demenzkranker deshalb meistens nur noch über die Tagebücher seiner ersten fünf Lebensjahre. Im letzten Stadium sind sogar diese gelöscht.

Dieses zweite Gesetz – die verschwindenden Tagebücher – hat zwei Ausnahmen.



Die erste – unangenehmere – ist, dass diejenigen Tagebücher, in denen komplizierte Fertigkeiten stehen, eher vom Nebel der Demenz umhüllt werden, als aufgrund der Gesetzmäßigkeit des Gedächtnisschwundes erwartet werden sollte. Beispiele für komplizierte Tagebücher, die sich nicht an die Chronologie halten, sind Rechnen und Buchhalten, Kochen, Lösen schwieriger Probleme, Organisieren eines Festes, Reparieren eines Fahrrades und Ähnliches. Aber was als kompliziert gilt, ist von Person zu Person unterschiedlich und hängt von den jeweiligen Fähigkeiten und persönlichen Interessen ab.

Die Partnerin eines demenzkranken ehemaligen Wirtschaftjuristen, der in seinem Hause Gäste am Tisch sieht, die in Wirklichkeit gar nicht da sind:
Es ist noch das Einfachste und verursacht die wenigsten Spannungen, ihm in sein Schattenreich zu folgen. Zum Glück gehört die Konversation mit den „Gästen“ nicht dazu. Sind sie bedient, nimmt Justus die Zeitung und versucht sich ein Bild des Weltgeschehens zu verschaffen. Erstaunlicherweise fesseln ihn die Börsenberichte und die wirtschaftliche Lage in gleichem Maße wie früher. Über Entlassungen und Verschiebungen an der Spitze mancher nationaler Betriebe, die in wirtschaftlichen Schwierigkeiten sind, weiß er sinnvolle Dinge zu sagen.
Mit wachsendem Erstaunen lausche ich seiner persönlichen Einschätzung, seinem gut fundierten und formulierten Urteil über derartige Fragen und kann das alles keineswegs mit seinem merkwürdigen „Gastgeberverhalten“ zusammenreimen. Wie ist so etwas möglich? Welche Fehlschaltungen laufen in diesem Gehirn ab? Warum weiß er so verständige Dinge über Unternehmertum zu sagen – und ist zugleich von der Anwesenheit unsichtbarer Gäste mit dem Sofa verängstigt? Was er jetzt sagt, klingt doch vernünftig – genau wie früher und immer!



Die zweite Ausnahme ist erfreulich:


Tagebücher, die häufig aufgeschlagen werden (Wiederholung), bleiben länger verfügbar. Es scheint, dass besagte Bücherwürmer sich scheuen, diese zu fressen, weil sie zu oft gestört werden. Auch Tagebücher mit Ereignissen, die uns stark beeindruckt haben, bleiben länger verschont. Ein Beispiel hierfür ist das Ertrinken des Lieblingsenkels vor 10 Jahren.


Folgen




Der Vergleich mit den verschwindenden Tagebüchern macht viele Verhaltensweisen von Demenzkranken im fortgeschrittenen Stadium einsichtig. Dadurch, dass sich die Erinnerungen im Gedächtnis verwischen, sind diese Kranken von einem bestimmten Zeitpunkt an nicht mehr imstande, (instrumentale) Tätigkeiten zu verrichten, die sie während der letzten beiden Jahrzehnte erlernt haben. Die Kaffeemaschine kann deswegen irgendwann zu einem unüberwindlichen Problem werden. Wenn das Tagebuch, das die Gebrauchsanweisung für dieses neuzeitliche Gerät enthält, eines Tages aus dem Gedächtnis verschwindet, kann es geschehen, dass die Maschine ungenutzt bleibt und der Kranke Kaffee zu kochen versucht, indem er Wasser in einem Topf zum Kochen bringt und einige Löffel Kaffeepulver hinein gibt. Sind die Kenntnisse und Fertigkeiten, die in den letzten Jahren erworben wurden, nicht mehr verfügbar, wird der betroffene Mensch auf frühere Gewohnheiten zurückgreifen. Es ist daher ebenfalls möglich, dass er eines Tages dem Staub mit Kehrschaufel und Besen zu Leibe rückt, weil er mit dem Staubsauger nicht mehr umgehen kann, oder dass er, anstatt die Waschmaschine zu benutzen, eine Wanne mit Lauge füllt, um wie zu Großmutters Zeiten die Wäsche zu waschen – zumindest, wenn der betreffende Mensch die Energie dazu aufbringen kann und die Gelegenheit dazu erhält.

Das abgebröckelte Gedächtnis führt ebenfalls dazu, dass wichtige biographische Ereignisse nicht mehr verfügbar sind. Der Demenzkranke vergisst z.B. die eigene Pensionierung und möchte wieder arbeiten gehen. Pflegende Angehörige müssen manchmal eine ganze Reihe von Tricks und Überredungskünsten anwenden, um zu verhindern, dass der Betreute sich selbst und seine Familie bloßstellt, indem er wieder ins Büro geht – wo an seinem Schreibtisch bereits seit Jahren ein Nachfolger sitzt.

Manchmal wird auch die eigene Wohnung nicht mehr als die eigene erkannt.
Eine Haushaltshilfe berichtet:
Herr Kramer ist sehr vergesslich. Seit fünfzehn Jahren wohnt er mit seiner Frau in einer altersgerechten Wohnung im Stadtzentrum. Dreimal pro Woche helfe ich dem Ehepaar im Haushalt.
Wenn das Wetter es zulässt, gehe ich mit Herrn Kramer eine Weile spazieren. Eines Tages geschah etwas Merkwürdiges: Als ich mit Herrn Kramer bei seinem Haus ankam, hielt er an und fragte: „Wo bringen Sie mich denn hin? Sie werden doch nicht an diesem fremden Haus klingeln?“ Ich erschrak und wusste im ersten Augenblick nicht, was ich tun sollte. Dann erinnerte ich mich an das, was ich kürzlich über Demenz gelernt hatte: Wenn die Krankheit fortschreitet, kann es vorkommen, dass der Betroffene sein eigenes Haus nicht mehr wiedererkennt und in die Wohnung zurückkehren möchte, in der er davor wohnte. Ich hatte aber eine Eingebung: Ich beugte mich zu Herrn Kramer hinüber und flüsterte ihm zu: „Herr Kramer, klingeln wir hier doch einfach, ich habe das Gefühl, dass Ihre Frau in diesem Haus ist.“ Er stimmte zu. Als seine Frau öffnete, fiel er ihr überrascht um den Hals und sagte: „Was machst du denn hier?“



Demenz geht auch mit dem Verlust des Wissens einher, wie man sich in Gesellschaft zu verhalten hat.
Früher hat es mir immer Freude gemacht, mit meinem Mann essen zu gehen. Jetzt traue ich mich nicht mehr. Er macht dem Ober gegenüber unpassende Bemerkungen, und ich schäme mich in Grund und Boden, wenn ich sehe, wie andere irritiert zu uns herübersehen, weil mein Mann geräuschvoll, ohne Messer und Gabel, sein Essen hinunterschlingt. Er geniert sich auch nicht, mit wildfremden Menschen eine Diskussion anzufangen und Streit zu suchen. Früher hat er das nie getan.



Menschen verhalten sich nicht von Natur aus nach den in der Gesellschaft geltenden Regeln. Es erfordert einen langen und schwierigen Lernprozess, ehe man weiß, was sich gehört und was nicht. Wenn die Tagebücher mit diesen Verhaltensregeln verschwinden, tritt ein Verlust des sozial angepassten Verhaltens ein. Der Demenzkranke beginnt, im Beisein anderer in der Nase zu bohren, aufzustoßen, Winde abgehen zu lassen, mit dem Essen herumzuschmieren und zu kleckern, zu schmatzen und zu schlürfen, mit offenen Hosenschlitz herumzulaufen, an willkürlichen Orten Wasser zu lassen, wildfremden Menschen zuzuwinken usw.

Der Mensch kommt ohne die Fähigkeit zu sprechen zur Welt. Sprechen zu können, über einen Wortschatz zu verfügen, Grammatik zu beherrschen, all diese Fähigkeiten zu erlernen dauert – ebenso wie das Erlernen von sozial angepasstem Verhalten – viele Jahre. Je älter wir werden, desto besser können wir uns in unserer Muttersprache ausdrücken. Wenn wir Glück haben, können wir sogar bis ins achte Jahrzehnt dazulernen. Das Sprachgedächtnis ist deswegen nicht in einem einzigen Tagebuch erhalten, sondern in vielen hunderten, in allen Jahrgängen unserer Bibliothek. Die Fähigkeit, mittels Sprache zu kommunizieren, wird deswegen nicht plötzlich, sondern schrittweise ausgelöscht. Die ersten Symptome sind oft Wortfindungsschwierigkeiten. „Wie heißt das doch gleich noch?“ ist eine Frage, die demenzkranke Menschen immer häufiger stellen.

Eine demenzkranke ältere Frau erzählt:
Wenn wir von der Kirche zurückkommen, warten wir, bis wir alle da sind und dann setzen wir uns drinnen gemütlich hin. Das ist herrlich! Mutter hat den Kaffee fertig und schenkt herrlichen Kaffee ein, ja. Mutter kann gut kochen und leckeren Kaffee kochen. Dann ist es so, als ob man in einem Hotel ist……...Hahahahaha……das ist schön, was? Sie hat auch immer für Vater einen extra…..äh…..wie heißt das noch……einen leckeren Topf mit Soße! Oder so. Herrlich! Das macht sie alles selber. Sie kann herrlich Suppe kochen und auch – wie nennt man das? – wenn man diese Dinger eine Rolle drehen lässt? In der Luft? Das kann böse schief gehen und ich hab es einmal fallen lassen.



Durch dieses Suchen nach Worten verläuft ein Gespräch oft viel schleppender und mühsamer als üblich – für viele zu langsam und zu mühsam. Es ist nicht verwunderlich, dass diese sich immer weniger Mühe geben, ein Gespräch anzuknüpfen. In der Endphase der Demenz wird es auch dem engsten Angehörigen oder dem motiviertesten Helfer fast unmöglich sein, noch ein Gespräch mit dem Kranken zu führen, weil er dessen einst so umfangreicher Wortschatz auf nur wenige Worte zusammengeschrumpft ist. Seine Sprache hat oft das Niveau der Sprache eines Kleinkindes erreicht. Manch ein Demenzkranker wiederholt in dieser Phase – ähnlich einem Kleinkind, das gerade sprechen lernt – Wörter oder kurze Sätze, die er einen anderen sagen hört. Einige haben schließlich die Fähigkeit zu sprechen vollständig verloren. Ehe es so weit ist, fängt die betroffene Person bisweilen an, zu der Sprache überzugehen, die sie als Kind sprach. So geht etwa ein Mensch, der den größten Teil seines Lebens Hochdeutsch gesprochen hat, wegen des Abbaus seines Gedächtnisses nach und nach wieder zu dem Dialekt über, mit dem er aufgewachsen ist.

Ein schlimmeres Schicksal trifft den nach Deutschland Eingewanderten und den Auswanderer gleichermaßen, die im Pflegeheim wieder ihre Muttersprache zu sprechen beginnen: Sie geraten in Isolation, weil niemand sie mehr versteht.

Ein anderes Dilemma im Prozess der Demenz beginnt, wenn der Kranke sich eines Tages nicht mehr an seinen Lebenspartner zu erinnern scheint. Die Tagebücher, in denen Hochzeitstag und die vorangegangene Zeitspanne des Kennenlernens vermerkt waren, sind ausgelöscht.

Eine Ehefrau:
Vor etwa einem Monat, als ich gerade dabei war, ihn zu waschen, sagte er: „ich werde mal nach Carla rufen.“ Ich bin Carla. Ich habe mich fürchterlich erschrocken. Er erkannte mich, seine eigene Frau, nicht mehr. Die Kinder und der Hausarzt hatten mir zwar vorhergesagt, dass dies geschehen könnte, aber es war trotzdem ein Schock. Seitdem ist es noch einige Male vorgekommen. Heute Morgen sagte er: „Du siehst genau wie Carla aus. Das gefällt mir sehr!“



Auch die eigenen Kinder werden schließlich zu Fremden.

Eine Tochter:
Sie fragt Marcel, ihren jüngsten Sohn, der inzwischen ein kräftiger Kerl von fast dreißig ist, ob er und Jan Brüder seien. Dabei zeigt sie auf ihren Ältesten, der etwas kleiner und dunkler ist als Marcel. „Ja“, bestätigt Marcel, „wir sind Brüder und deine Söhne. Wir sind deine Kinder.“ Brüder mögen ja noch durchgehen – aber Söhne und dann auch noch Kinder – das geht ihr zu weit. Sie lacht herzlich: „Na, das kannst du deiner Großmutter erzählen! Solche großen Männer sind doch keine Kinder!“
Auf dem Kirchhof bewundert Mutter die prächtigen Bäume „Wie dick die sind!“ und die bunten Pflanzen auf den Gräbern „Wie im Blumengeschäft“, bis ihr ganz langsam klar wird, wo sie ist. Sie fragt sehr leise, was ein Kirchhof denn nun wieder sei und wessen Grab es ist, das Vater pflegt. „Liegen da vielleicht deine Eltern?“ will sie von ihrer ältesten Tochter wissen.



Der vermeintliche Verlust des Partners wird manchmal dadurch „kompensiert“, dass Personen, die bereits vor langer Zeit gestorben sind, wieder „zum Leben erweckt“ werden.
Wenn das Telefon läutet, nimmt meine Frau den Hörer ab und meldet sich mit: „Hier bei Familie Weis“. Vor sechzig Jahren war sie dort als Dienstmädchen angestellt.




Vor allem Personen, die einen wichtigen Platz in einem früheren Lebensabschnitt einnahmen, werden so zum Leben erweckt. Für die meisten sind dies die eigenen Eltern.

Seit einiger Zeit sind meine Eltern im Pflegeheim beim Mittagessen an den Tisch der Schmatzer, Kleckerer, der Zahnlosen, Schlürfer und Spucker gesetzt worden. Das Personal nennt diesen Tisch „Das Spreehotel“. Manchmal leiste ich ihnen dort Gesellschaft, so auch an diesem Herbsttag. Vater steckt das klein geschnittene Fleisch in die Tasche seines Jacketts: „Es ist zäh! Wo soll ich es sonst lassen?“ Mutter bekommt ihr Essen püriert, weil sie nicht mehr richtig kauen kann. Vater meint, er müsse ihretwegen an diesem Tisch sitzen, und das gefällt ihm gar nicht. Sie streiten sich. Plötzlich sagt Mutter: „Wenn das so weitergeht, sag ich: Herbert, ich hab genug, und dann geh ich.“
„Wohin?“, frage ich.
„Na, zu meiner Mutter natürlich.“



Gegen verschwindende Tagebücher hilft auch keine Logik. Schaut ein alter demenzkranker Mann in den Spiegel, kann es geschehen, dass er eines Tages sein eigenes Spiegelbild nicht mehr erkennt. „Dieser alte Mann mit den vielen Falten im Gesicht und den grauen Haaren kann nicht ich sein“, denkt er dann vielleicht. In seinem Erleben ist er viele Jahre jünger geworden. In dem Spiegelbild erkennt er dann vielleicht seinen schon vor langer Zeit gestorbenen Vater. Seine Tochter hält er dann möglicherweise für seine Frau.

Eine weitere Funktion des Gedächtnisses ist es, die Persönlichkeit, d.h. das für uns charakteristische Muster der Eigenschaften, zusammenzuhalten. Baut das Gedächtnis ab, so fällt auch die Persönlichkeit auseinander. Kennzeichnende Verhaltensmuster, gefestigte Strukturen zwischen Gedanken, Gefühlen und Verhalten, die wir uns im Laufe der Jahre zu Eigen machten, werden aufgelöst. Außenstehende sprechen deswegen häufig davon, der Demenzkranke verhalte sich „merkwürdig“, d.h. anders als zuvor und nicht mehr vorhersagbar. Partner oder Kinder von Betroffenen sagen häufig: „Ich erkenne ihn/sie nicht mehr. Er/Sie hat sich so verändert.

Eine andere, sehr auffällige Begleiterscheinung der Demenz ist die schwindende Fähigkeit, für sich selber zu sorgen. Ein Demenzkranker verlernt die Tätigkeiten, die mit der Sorge für sich selbst verbunden sind, in der umgekehrten Reihenfolge, in der er diese früher gelernt hat. Leidet er an der Alzheimer-Krankheit in der reinen Form (ohne zusätzliche Krankheit), so bekommt er zuerst Probleme mit der Ausführung komplizierter Aufgaben wie Kochen, Einkaufen und dem Regeln seiner Finanzen. In einer späteren Phase ist er nicht mehr imstande, zueinander passende Kleidungsstücke selbständig auszuwählen, und braucht oft Druck oder Antrieb, ein Bad zu nehmen. In der darauf folgenden Phase kann er sich gar nicht mehr allein ankleiden, ein wenig später benötigt er beim Baden und Waschen Hilfe. Dann kennt er die notwendigen Handlungen für den Gang zur Toilette nicht mehr. Danach leidet er an Harn- und anschließend an Stuhlinkontinenz. Der Gedächtnisabbau endet auch hier noch nicht, denn es folgt unausweichlich der Augenblick, da der Kranke Hilfe beim Essen braucht.

Im letzten Stadium kann der Betroffene nicht einmal mehr gehen, nur noch sitzen. Bis auch das irgendwann nicht mehr gelingt.
Entstehen im Gedächtnis große Lücken, leidet darunter unverkennbar und unwiederbringlich auch der Verstand. Die Unterscheidung zwischen Gedächtnis und Intelligenz ist bei genauerem Hinsehen künstlich. Ohne Gedächtnis gibt es keine Intelligenz und umgekehrt. Sie brauchen einander wie Meister und Geselle. Wenn wir uns etwas, das wir wahrnehmen, einprägen wollen, müssen wir – wie bereits erwähnt – Informationen ordnen, Verbindungen mit früher gemachten Erfahrungen herstellen usw. Dies sind intellektuelle Fertigkeiten. Andererseits müssen wir, um ein Problem zu lösen, auch das Gedächtnis zu Rate ziehen, um festzustellen, wie wir in der Vergangenheit bei ähnlichen Problemen vorgegangen sind. Kurzum: Gedächtnis und Intelligenz fließen ineinander über, sind eng miteinander verwoben. Ein Mensch mit mäßiger Demenz kann auf die Dauer selbst einfachste Probleme nicht mehr lösen. Er versteht auch keine Witze mehr, denn dafür müsste er Assoziationen herstellen und überdies eine Sache aus verschiedenen Perspektiven betrachten können: wörtlich und im übertragenen Sinn.
Je weiter das Gedächtnis abbaut, desto mehr ähnelt das Denken des Demenzkranken dem eines kleinen Kindes, mit allen dazugehörigen Folgen.
Ein zwölfjähriges Kind kann denken: „Ich mag es nicht, wenn jemand mein Essen isst, also wird jemand anderer es wahrscheinlich auch nicht schön finden, wenn ich seinen Teller leer esse.“ – Der Demenzkranke kann nur noch aus seiner eigenen Perspektive heraus denken. Obwohl er das Weinen oder Schreien eines Mitbewohners lästig findet, macht er sich nicht klar, dass andere sich ebenso an ihm stören, wenn er ein solches Verhalten an den Tag legt. Mit üblicher „logischer“ Argumentation kann er immer weniger anfangen.

Ein Beispiel hierfür, dass sein Denken immer mehr auf ein kindliches Niveau zurückfällt, ist das folgende Gespräch:

Pflegerin: „Haben Sie einen Mann?“
Alte Frau: „Ja.“
Pflegerin: „Wie heißt er denn?“
Alte Frau: „Jan.“
Pflegerin: „Hat Jan eine Frau?“
Alte Frau: „Nein.“
Alte Frau: „Ich will nach Hause, zu meinen Eltern.“
Arzt: „Sie sind fast 90. Wie alt müssen Ihre Eltern denn dann sein?“
Alte Frau: „Fünfzig oder sechzig?“



Manchmal führt eine derartige primitive Art der Argumentation zu scheinbar widersprüchlichen Bemerkungen wie zum Beispiel der folgenden:

Alte Frau: „Können Sie mich nach Hause bringen?“
Pflegerin: „Ich weiß nicht, wo Sie wohnen.“
Alte Frau: „Ich auch nicht, aber ich kann Ihnen den Weg zeigen.“



Die beiden Demenzgesetze, die hier und in dem Buch – Gestörte Einprägung – beschrieben wurden, verändern das äußere Leben des Betroffenen völlig. Was aber bewirkt die Demenz im Inneren der Person selbst? Wie erlebt sie die Krankheit? Diese Fragen werden im Mittelpunkt des folgenden Buches stehen.


Impressum

Texte: Cover von Renate M. Kaufmann
Tag der Veröffentlichung: 18.05.2009

Alle Rechte vorbehalten

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