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Die Logik der Demenz


Einstimmung




Mit einem demenzkranken Menschen zu leben und ihn zu pflegen ist oft nicht leicht. Sein Verhalten ist für die Menschen seines Umfeldes häufig rätselhaft. Er wiederholt ständig dieselben Fragen; er weiß nichts mehr von den Ereignissen, die kurz zuvor geschehen sind, kennt sich jedoch gut in der fernen Vergangenheit aus; er möchte nach Hause, obwohl er zu Hause ist; er spielt mit einer Puppe, reagiert jedoch beleidigt, wenn mit ihm wie mit einem Kind gesprochen wird; er vergisst alles, klagt aber selten über Vergesslichkeit usw.
Was die ihm nahe Stehenden am meisten verwirrt, ist die Tatsache, dass sein Verhalten die frühere Vorhersehbarkeit vermissen lässt.

Und doch steckt in jenen Krankheitserscheinungen eine Logik.
Zwei Gesetze der Demenz und eine gewisse psychologische Grundkenntnis genügen, um die vielen von der Norm abweichenden Verhaltensweisen – die Symptome der Demenz – verstehen zu können. Ich werde hier versuchen, sie zu erläutern.


Wie wir erinnern




Um das erste Demenzgesetz

erklären zu können, muss zunächst etwas über die Funktionsweise des normalen Gedächtnisses gesagt werden. Wissenschaftler haben herausgefunden, dass der Mensch, grob genommen, zwei Arten von Gedächtnis hat: ein Kurzzeit- und ein Langzeitgedächtnis. Alles, was man zu einem bestimmten Zeitpunkt hört, sieht, riecht, schmeckt oder fühlt (die fünf Sinne), wird zunächst im Kurzzeitgedächtnis deponiert. Hier – in diesem kleinen Vorraum unseres Gedächtnisses – verbleibt diese Information maximal zwanzig bis dreißig Sekunden. Eine halbe Minute lang haben wir Zeit, aus dieser Information eine Auswahl zu treffen. Wichtigen Informationen schenken wir unsere Aufmerksamkeit, die übrigen werden gelöscht. Um einen Eindruck längere Zeit bewahren zu können, muss er ins Langzeitgedächtnis übertragen werden, jenen großen Speicher, den wir im normalen Sprachgebrauch als ‚Gedächtnis’ bezeichnen.

Während das Kurzzeitgedächtnis nur eine begrenzte Speicherkapazität hat, bietet das Langzeitgedächtnis Platz für unendlich viel Information. Es wird niemals ‚voll’. Der größte verfügbare Computer hat im Vergleich dazu lediglich die Speicherkapazität eines kleinen Papierschnipsels. Eine zweite positive Eigenschaft dieses großen Gedächtnisses ist, dass die Information ein Leben lang gespeichert wird.

Eine Information vom Kurzzeit- ins Langzeitgedächtnis zu transportieren (=einprägen) geschieht nicht von selbst. Es kostet Anstrengung. Untersuchungen haben gezeigt, dass verschiedene Faktoren für die Gedächtnisspeicherung eine Rolle spielen. Ein sehr wichtiger Faktor ist die Aufmerksamkeit. Was bestimmt unsere Aufmerksamkeit? Zum Großteil sind dies Emotionen, sowohl angenehme als auch unangenehme. Ein Geschehen, das uns emotional berührt, bleibt uns ein Leben lang in Erinnerung.

Nicht jede Information berührt uns emotional – und doch können auch langweilige, trockene Informationen über einen längeren Zeitraum festgehalten werden, wenn wir uns besondere Mühe geben. Eine klassische Methode, etwas zu behalten, ist, es zu wiederholen.

Vor noch nicht allzu langer Zeit wurden in den Schulen Fremdwörter dadurch gelernt, dass sie einige Male laut gesprochen wurden.

Das Gedächtnis wird jedoch nicht nur durch das Wiederholen trainiert, sondern auch dadurch, dass wir uns eine Sache vorstellen

. Informationen, die wir in einem Bild vor uns sehen (=veranschaulichen), werden leichter in der Erinnerung haften bleiben. „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte“, sagt ein chinesisches Sprichwort.
Wenn etwas Assoziationen

mit Bekanntem hervorruft, kann es ebenfalls besser behalten werden. Gedächtniskünstler verknüpfen unbekannte Informationen häufig mit bekannten. Doch auch weniger begabte Menschen sind bestrebt, Informationen zu behalten, indem sie sie bei Vertrautem einordnen. Je mehr wir auf einem bestimmten Gebiet wissen, desto besser gelingt es uns zumeist, noch mehr darüber zu lernen. Jemand, der viel von Computern versteht, wird viel mehr von einem Artikel oder einer Fernsehsendung über die neuesten Entwicklungen auf diesem Gebiet behalten als jemand, für den das Ganze völliges Neuland ist.

Eine andere Möglichkeit, etwas zu behalten ist das Ordnen

oder Strukturieren

der Information. Wird man gebeten, sich die Wörter Pflaume, Seemöwe, Pfirsich, Star und Spatz einzuprägen, wird das verhältnismäßig schwierig sein, wenn man diese als unverbundene, eigenständige Wörter betrachtet. Die Aufgabe wird erheblich leichter, wenn man die fünf Wörter in zwei Kategorien einteilt: zwei Obstsorten (die beide mit ‚Pf’ beginnen) und drei Vogelarten (die alle mit ‚S’ anfangen).

Ob wir etwas behalten, hängt in großem Maße auch von der Tatsache ab, ob die Information eine Bedeutung

für uns hat. Von einem Gespräch zwischen zwei Ausländern in einer fremden Sprache speichern wir im Vergleich zu einem Gespräch zwischen zwei Landsleuten nur sehr wenig.

Diese Ausführung über das Gedächtnis soll deutlich machen, dass Behalten kein Prozess ist, der automatisch verläuft. Man muss sich darum bemühen, auch wenn man sich dessen während der Einprägung nicht immer bewusst ist.


Erstes Demenzgesetz: Gestörte Einprägung




Jetzt sind wir so weit, das erste Demenzgesetz darzulegen:

Wird jemand demenzkrank (namentlich durch die Alzheimer-Krankheit), so ist er nicht mehr in der Lage, Informationen vom Kurzzeit- ins Langzeitgedächtnis zu transportieren.



Seine Einprägung ist gestört. Daher erinnert er sich nicht mehr an das, was länger als eine halbe Minute zurückliegt.
Aber Menschliches Verhalten verläuft niemals hundertprozentig gesetzmäßig: Auch hier gibt es die bekannte Ausnahme, die die Regel bestätigt.


Weckt eine Information viele Emotionen oder wird sie kontinuierlich wiederholt, so wird sich der Demenzkranke manchmal doch noch etwas einprägen können. So wird der Besuch des Hausarztes, der im Beisein des Kranken über ein Pflegeheim spricht, möglicherweise im Gedächtnis bewahrt, weil er so starke Emotionen weckt. Ein bekanntes Phänomen ist auch, dass demenzkranke Menschen, die jeden Werktag morgens zur Tagespflege abgeholt werden, nach einiger Zeit wissen, dass der Bus vorgefahren kommt.


Direkte Folgen




Das Phänomen der gestörten Einprägung versetzt uns in die Lage, viele Erscheinungen der Demenz zu verstehen. Vor allem die Symptome der beginnenden Demenz

sind jetzt leicht zu erklären.

Eines der ersten Symptome der Krankheit ist, sich in einer neuen, unbekannten Umgebung nicht mehr orientieren zu können. Wie jeder andere wird ein Mensch mit einer leichten Form der Demenz bei einem Spaziergang in einer fremden Stadt – in der er z.B. ein Museum besuchen möchte – bestimmte Orientierungspunkte aufzunehmen versuchen: einen Straßennamen, ein Geschäft, eine Turmspitze. Möchte er dann später wieder zu seinem Ausgangspunkt zurückkehren, wird er jedoch die Orientierungspunkte vergessen haben. So hat er sich dann also verirrt.
Er steht ebenfalls vor dem Problem der allmählichen zeitlichen Desorientierung

. Ein Mensch mit beginnender Demenz fragt ständig: „Wie spät ist es?“ oder „Welcher Tag ist heute?“.
Die Erklärung ist leicht zu erraten. Die Zeit steht niemals still, die Veränderung ist ihr wichtigstes Merkmal. Um zu wissen, wie viel Uhr es ist, müssen Sie mehrere Male am Tag auf die Uhr schauen und sich die Zeit einprägen. Gelingt dieses nicht mehr, wird die Zeit zu einem fortwährenden Rätsel.
Menschen mit beginnender Demenz können ihre Umgebung zur Verzweiflung treiben, indem sie sehr häufig ein und dieselbe Frage stellen. Nach kurzer Zeit wissen sie nicht mehr, dass sie die Frage schon gestellt haben, geschweige denn, dass sie die Antwort noch wissen. Aus demselben Grund spielen sie auch mehrmals täglich dieselbe Schallplatte ab und erzählen immer dieselbe Geschichte dazu.

Die englische Schriftstellerin Linda Grant schreibt über ihre demenzkranke Mutter:
Abgesehen vom physischen Verfall, dem Schwinden ihres Körpers zur Größe einer großen Puppe, sah sie normal aus – wie eine kleine, liebe alte Dame -, und die Leute begannen Gespräche mit ihr, die ganz normal verliefen, bis eine Frage, die sie gerade beantwortet hatten, noch einmal gestellt wurde: „Darf ich Sie kurz unterbrechen? Sie haben mir noch gar nicht gesagt, wo Sie wohnen.“
„Das sagte ich gerade: in Birmingham.“
Worauf sie es noch einmal und noch einmal fragte – so lange, bis der andere die Geduld verlor, da der Dialog, den er meinte begonnen zu haben, sich schließlich als Monolog gegen eine lebende Mauer erwies. Sie wiederholte die Fragen nicht etwa, weil sie sich der Antwort nicht entsinnen konnte, sondern weil in ihrem Kopf ein sehr kurzes Band abgelaufen war, zurückgespult wurde und aufs Neue begann. Sie kannte die Regeln der Konversation – sie hatten sie nicht im Stich gelassen -, doch sie konnte sich nicht mehr dessen erinnern, was sie selbst gesagt hatte.



Viele Familienangehörige nennen noch einen anderen Grund, weshalb sie kein richtiges Gespräch mehr mit ihrem geliebten Nächsten führen können. „Er hört gar nicht zu, wenn ich etwas sage. Mitten in meiner Geschichte geht er zu einem anderen Thema über. Das reibt einen völlig auf.“ Die Betroffenen trifft jedoch keine Schuld. Dauert eine Geschichte länger als 30 Sekunden, verliert er rasch den Faden, da er dann den Anlass und die ersten wichtigen Sätze des Gesprächs vergessen hat. Er betritt gleichsam ununterbrochen ein Kino, in dem der Film bereits einige Zeit läuft. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass seine Aufmerksamkeit nachlässt, wenn er seinem Gegenüber einige Zeit zugehört hat, und dass er dann unvermittelt ein anderes Thema anschneidet. Aus demselben Grund verliert der Demenzkranke auch das Interesse daran, Bücher oder die Zeitung zu lesen.
Angehörige haben noch mehr Anlass zur Klage, denn der Demenzkranke kann auch über Ereignisse der jüngsten Vergangenheit nicht mehr mitreden. Auf Fragen wie „Was hast du heute Morgen gegessen?“ oder „Waren die Kinder gestern zu Besuch?“ muss er die Antwort schuldig bleiben.
Wegen der gestörten Einprägung ist der Betroffene auch kaum imstande, Neues zu lernen.

Eine Partnerin eines leicht demenzkranken Mannes:
Als unsere Wohnungstür nach einem Einbruchsversuch klemmte, mussten wir das Schloss auswechseln lassen. Das neue Schloss funktioniert jedoch anders als das alte. Mein Mann, der die Gewohnheit hatte, abends vor dem Schlafengehen die Tür zu verschließen, wurde jetzt jeden Abend ärgerlich, weil er nicht wusste, wie er es bewerkstelligen sollte.



Mit dem Großen Vergessen

beginnt häufig auch das Große Suchen.

Der Demenzkranke vermisst ständig seine Besitztümer, er vergisst einfach, wohin er sie gelegt hat. Da er in diesem Stadium der Krankheit noch mehr Wert auf seine persönlichen Dinge legt als früher, wird er versuchen, sie noch sicherer aufzubewahren. Die Folge ist, dass er einen Großteil seiner Zeit mit Suchen verbringt. So sagte einmal jemand im Scherz: Das einzige Positive der Demenz ist, dass man fortan seine Ostereier selbst verstecken kann.
Wegen der gestörten Einprägung fällt es Demenzkranken sehr bald schwer, neue Menschen – d.h. Menschen, die erst kurze Zeit zuvor in ihr Leben getreten sind – zu erkennen oder sich an sie zu erinnern. Das kann zu peinlichen Situationen führen. So erlebte ein junges Mädchen, das mit seinem Freund bereits fünfmal bei seinem Großvater gewesen war, dass dieser fragte: „Wer ist der Junge, den du heute mitgebracht hast?“

Das Langzeitgedächtnis benutzen wir nicht nur, um uns Ereignisse in Erinnerung zu rufen, die wir in der Vergangenheit erlebt haben, wir benötigen es auch ständig, um zu wissen, was wir jetzt tun müssen oder was wir gleich oder später unternehmen werden. Mit anderen Worten, es fungiert als Terminkalender: Wir notieren darin unsere Pläne sowie wichtige Verabredungen und Geburtstage. Demenzkranke Menschen vergessen ihre eigenen Pläne und Vorhaben, weil diese das Langzeitgedächtnis nicht mehr erreichen. (Ein zweiter Grund, aus dem sie Verabredungen nicht einhalten, ist die schon genannte zeitliche Desorientierung: Sie wissen nicht mehr, welcher Tag gerade ist.) Die Demenz bricht also nicht nur die Brücken zur Vergangenheit ab, sondern auch die zur Zukunft.
Wenn eine nichtdemente Person zornig wird und es dafür einen triftigen Grund gibt – sie wurde z.B. zu Unrecht beschuldigt -, so wird sie sehr wahrscheinlich nicht fünf Minuten später wieder fröhlich lachen. Wir verharren zumeist einen längeren Zeitraum in einer solchen Stimmung. Einer der Gründe dafür ist, den anderen Menschen zu zeigen, dass es uns ernst ist.
Bei demenzkranken Menschen können die Stimmungen viel schneller umschlagen als bei uns. Auch haben sie viel rascher den Anlass oder die Ursache für Zorn, Kummer, Scham oder Freude, vergessen. Wenn sie lachen, wissen sie bereits nicht mehr, dass sie vor 5 Minuten noch bekümmert waren.
Man kann somit zudem leicht erklären, weshalb einige Demente mehrmals am selben Tag die gleichen Einkäufe machen.


Indirekte Folgen




Besonders in der Anfangsphase sind sich die demenzkranken Menschen bewusst, dass sie Fehler machen und weniger leisten können als früher. Sie bemerken, dass sie vor allem dem Neuen und Unbekannten nicht mehr gewachsen sind. Mehrmals am Tag haben sie einen Aussetzer oder wissen wegen ihrer Gedächtnislücken nicht mehr weiter.
Neue Gesichter, eine unbekannte Umgebung, Freunde, die ihnen über jüngste Ereignisse Fragen stellen….. Sie bemerken durchaus, dass solche Situationen sie in Verlegenheit bringen. Es ist nicht viel psychologisches Wissen nötig, um zu verstehen, dass sie deshalb versuchen werden, derartige Gelegenheiten zu vermeiden.
Eines der Anfangssymptome ist deswegen, dass sie lieber zu Hause bleiben und Kontakte mit fremden Menschen immer mehr meiden. Im Schutz der eigenen Umgebung ist die Zahl von Fehlern und Fehlschlägen begrenzt. Um ja keine Fehler zu machen, unternehmen sie weniger als früher. Hinzu kommt, dass sie auch schnell wieder vergessen, was sie sich vorgenommen haben. So werden manche Demenzkranke völlig passiv bis apathisch.

Nichtdemente Menschen versuchen häufig, Fehler, die sie im Beisein anderer machen, zu vertuschen oder zu verschleiern. Auch Demenzkranke kennen solche Handlungsweisen. Werden sie mit eigenen Irrtümern konfrontiert, belügen sie andere hin und wieder, auch wenn sie das vorher niemals taten. Um ihre Selbstachtung aufrechtzuerhalten, werden einige in Bezug auf Notlügen und Ausreden sogar sehr erfinderisch. Wenn der Mensch wie eine Zwiebel Schale um Schale geschält werden könnte, würde schließlich sein Stolz übrig bleiben, sagt ein chinesisches Sprichwort. Ein Demenzkranker wird die schöne Fassade seines Hauses aufrechterhalten, um Vorübergehenden zu suggerieren, auch das Innere sei noch in schönster Ordnung. Anstatt zu lügen, kann er auch Zuflucht zu ausweichenden oder listigen Antworten nehmen. Wird er gefragt, was er morgens gegessen hat, antwortet er beispielsweise „Dasselbe wie immer“, oder: „Seit wann möchtest du wissen, was ich morgens esse?“

Weil ihre Einprägungsfähigkeit gestört ist und zudem die Wahrnehmung, mit der Demenzkranke konfrontiert werden, so schmerzhaft ist, glauben sie nicht selten ihren eigenen Ausreden. Einige vergessen, dass sie vergesslich sind. Sie glauben, ihr Gedächtnis sei noch intakt. Störungen werden sie heftig abstreiten.
Eine andere Strategie, die besonders verheiratete oder die bei ihren Kindern lebende Betroffene anwenden ist – während sie sich stillschweigend allerlei Entschuldigungen oder Gründe ausdenken -, immer mehr Aufgaben und Arbeiten auf ihre Mitbewohner, besonders auf den Partner oder die (Schwieger-)Tochter abzuschieben. Solange Letztere nicht wissen, woran das liegt, klagen diese über Faulheit, Apathie, Bequemlichkeit oder Mangel an Initiative.
Für den Demenzkranken wird so sein Hauptbetreuer zum unentbehrlichen Führer in einem Leben, dessen Landschaft immer fremder wird. Um sich nicht zu verirren, folgt er ihm wie ein kleines Kind.

Aus der Tatsache heraus, dass der Demenzkranke jemanden, der für ihn eine Bezugsperson darstellt, nicht mehr aus dem Auge verlieren möchte, ist ersichtlich, dass er tief im Inneren weiß, dass etwas von entscheidender Bedeutung nicht in Ordnung ist. Innerlich drückt ihn unablässig die Angst, eine drohende Angst. Und wie reagiert ein Mensch auf Angst? Wie reagiert er auf eine große Katastrophe, die sich in seinem Inneren vollzieht?
Das hängt von seinem Charakter und seiner Persönlichkeit ab. Der eine wird aggressiv, der andere depressiv, ein Dritter argwöhnisch usw. Jemand, der vor Ausbruch der Krankheit bei irgendeinem Fehlschlag geneigt war, den Fehler bei anderen zu suchen, wird jetzt ebenso verfahren und bei festgestellten Fehlern böse auf andere oder sogar richtig griesgrämig werden.
Andere entwickeln als Reaktion auf die beginnende Demenz Argwohn: „Nicht ich mache Fehler, sondern andere versuchen, mir das Leben auf hinterhältige, heimtückische Weise schwer zu machen.“ Der Argwohn richtet sich fast immer auf jemanden aus dem unmittelbaren Umfeld: den Partner, die pflegende Tochter, die Altenpflegerin, die Krankenschwester.
Eine weitere häufig auftretende Reaktion ist Depressivität. Das ist vor allem bei Personen der Fall, die schon immer zu Selbstzweifeln neigten. Bei Misserfolgen werden sie den Fehler – genau wie früher – sich selbst anlasten: „Ich tauge auch zu gar nichts, ich kann wirklich überhaupt nichts.“
Andere mögliche Reaktionen auf Frustration oder Existenzangst sind: Nahrungsmittel oder Gegenstände hamstern (der Kranke fühlt innerlich den drohenden Niedergang und bereitet sich folglich auf kommende schlechte Zeiten vor); körperliche Unruhe und nervöses Verhalten, z.B. rastloses Auf-und-Ab-Gehen und die Unfähigkeit, ruhig in einem Stuhl zu sitzen; übermäßiges Essen und Trinken – oder im Gegenteil die Weigerung, überhaupt noch etwas zu sich zu nehmen.

All diese psychischen Reaktionen sind nicht ausschließlich demenzkranken Menschen vorbehalten oder nur für diese kennzeichnend: Auch gesunde Menschen, die mit einem Verlust, psychischem Schmerz oder Angst konfrontiert werden, können sich so verhalten. In diesem Sinne ist das psychische Funktionieren eines demenzkranken Menschen durchaus nicht „merkwürdig“. Es ist im Gegenteil sehr normal.



Viele Betroffene zeigen nicht nur eine der genannten Reaktionsweisen, sondern mehrere. So wechselt sich etwa Zorn mit Depression ab, für andere sind Hamstern und Ruhelosigkeit kennzeichnend, wieder andere werden passiv und abhängig: Ihre einzige Aktivität besteht im Essen und Zusehen.
Im Anfangsstadium der Demenz reagiert ein Mensch nicht nur genauso auf Angst und Unsicherheit wie wir – auch sein Verhalten unterscheidet sich wesentlich von unserem. Auch uns widerfährt manchmal Folgendes: sich in einer fremden Umgebung verirren, einen Schlüssel verlieren, eine Verabredung vergessen, aggressiv oder depressiv auf Angst oder einen Fehlschlag reagieren, misstrauisch werden, wenn etwas unserer Meinung nach ohne unser Zutun missglückt usw.
Der Unterschied zwischen uns und dem demenzkranken Menschen besteht darin, dass wir lediglich ab und zu

etwas falsch machen oder ungewöhnlich reagieren, während dies bei Demenzkranken ständig

geschieht.




Im nächsten Buch wird es um das zweite Demenzgesetz gehen: Der Gedächtnisabbau

Impressum

Texte: Cover von Renate M. Kaufmann
Tag der Veröffentlichung: 17.05.2009

Alle Rechte vorbehalten

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