Bildnachweis:
Archiv der Autorin
3. überarbeitete Auflage 2012
E-Book: Dieter Schwandt, Minden
Alle Rechte vorbehalten, auch die des auszugsweisen Nachdrucks und der fotomechanischen Wiedergabe.
Gestaltung und Satz: Bernd Kirchhoff, Rinteln; Christoph Ehleben, Hannover
Druck und Buchbindnerische Verarbeitung: Bookstation GmbH, Sipplingen
© Renate Gerda Maschmeier
Telefon: 0571/4041522 • www.heimatverein-exten.de
ISBN 978-3-00-036686-4
Das Buch
Was fange ich mit meiner Freizeit an?
Diese Frage stellte ich mir vor einem Jahr.
Der Beginn einer Altersteilzeit und ein „Blick“ auf meine Rente machten mich ein bisschen wehmütig! Kleine Wehwehchen stellten sich ein. Sollte dies nun alles gewesen sein? Mein Beruf hat mir immer viel Freude bereitet. Ja, es war nicht immer leicht, Familie, Haus, Garten und die Arbeit unter einen Hut zu bringen. Doch dies hatte sich alles nebenbei geregelt. Ich bin auch nicht jemand, der gerne stillsitzt und die Seele baumeln lässt, ich brauche immer etwas, womit ich mich beschäftige! Der Zufall wollte es, meine „Heimatzeitung“ brachte Berichte und Bilder aus den Nachkriegsjahren heraus: Rinteln an der Weser - meinem Geburtsort. Hier kam mir vieles so bekannt vor. Erinnerungen wurden wach! Also entschied ich mich: Ich wollte für meine inzwischen acht Enkelkinder meine Kindheit schriftlich festhalten. Leider wohnen sie nicht in unserer unmittelbaren Nähe, ich sehe sie viel zu selten! Ja, und vielleicht interessiert es sie ja später einmal, was ihre Oma alles in ihrer Kindheit erlebt hat! Für mich schon erstaunlich, was einem nach über sechzig Jahren so einfällt, und da ich als Kind von Vertriebenen in dem Korbmacherdorf Exten im Schaumburger Land groß geworden bin, habe ich mich für den Titel entschieden:
„Weidenkäpsel“
Die Autorin
Renate Gerda Maschmeier wurde 1947 in Rinteln geboren. Ihre Eltern hatten als Vertriebene eine neue Heimat in Exten im Schaumburger Land gefunden. Dort verlebte die Autorin eine bewegte Kindheit und Jugend. Erinnerungen aus dieser Zeit veröffentlichte sie in einer Weihnachtserzählung in der „Schaumburger Zeitung“. Das durchweg positive Echo inspirierte sie, weitere Geschichten aus der „guten alten Zeit“ in diesem Buch zusammenzufassen.
Folgende Geschichten sind Erinnerungen aus der Sicht eines Kindes nachempfunden! So gesehen könnte es sein, das manche Begebenheiten vom Datum oder Zeitpunkt her im Geschehen anders dargestellt sind.
Meinen Kindern
und Enkelkindern
gewidmet.
Ich danke meinen Freundinnen Bärbel Ladage,
Marie-Luise Engelmann (Möller),Gerda Wacker(Nolting), ihrem Bruder Gert Frevert und Sieglinde Wölfel. Besonderen Dank
Bernd Kirchhoff vom „Verein für Heimatpflegeund Kultur Exten e.V.“.
und Christoph Ehleben für die Gestaltung des Einbandes.
Als Korrektorin war Barbara Krause, Rintel nund Gundula Eckels, Braunschweig (3.Auflage) eine große Unterstützung.
Mit freundlicher Unterstützung der Sparkasse Schaumburg
Erinnerungen an die Kindheit als Kind von Vertriebenen, an die Nachkriegszeit, an meine Eltern, Großeltern, an meine schöne Kind- und Schulzeit in Exten bei Rinteln im Weserbergland! Es war eine aufregende Kindheit mit hoffnungsvollen Jugendträumen! Sie fielen zusammen mit dem Wiederaufbau nach dem Krieg in den Jahren von 1947 bis 1965. Es wurden aber auch die Weichen gestellt für die Welt von heute, ich erlebte unbewusst eine stürmische Entwicklung und den Aufbruch in eine moderne Zeit! Meine Erinnerungen reichen von materiellen Alltagsnöten der Nachkriegszeit, von den Hamsterfahrten aufs Land, bis zum deutschen Wirtschaftswunder. Nach 1945 mussten alle für den Wiederaufbau ganz von vorne anfangen.Gerade als Kind und Jugendliche habe ich dieses hautnah miterlebt. Meine erste Bekanntschaft mit dem „Plumpsklo“, mein Lieblingsbrotaufstrich süßer Rübenzapp und die Liebe zur Musik, verbunden mit dem Schifferklavier meines Vaters. Da gab es im Jahre 1951 den Sieg über die Kinderlähmung, kostenlose Impfungen durch das Gesundheitsamt. 1952 das Röhrenradio, den ersten KABA- Kakao, Hula-Hoop-Reifen, Schneider-Bücher, Kinderverschickung, Möbel im 50er-Jahre-Stil. Ich wuchs auf zwischen Korbmachern, dem Rübenacker, Kindergottesdienst, Hausbau, erstem Roller, Zitronenlimonade mit Eierlikör. Freute mich über die erste Puppe und das erste Fahrrad. Ja, und 1957 erlebte ich die ersten Fernsehsendungen: Familie Schölermann, den Fernsehhund „Lassie“ und Späße mit Peter Frankenfeld. Ich begeisterte mich für das erste Tonband, den Plattenspieler und die ersten Single-Schallplatten. Rock‘n’ Roll fesselte mich, Sänger, wie Peter Kraus und Elvis Presley, aber besonders begeisterte mich Caterina Valente mit ihren Liedern und ihren Musikfilmen. Ich machte
Erfahrungen in der Großstadt Berlin, verbunden mit dortigen Schulbesuchen. Liebte das erste italienische Eis, Pizza, Bravo, Micky Maus-Hefte, Kino-Erlebnisse, Brausepulver und die Tanzstunde, dazu Beatmusik, live im Ratskeller in Rinteln und später dann der Twist. Zu dieser Musik gehörte natürlich auch die entsprechende Kleidung, der weite Rock mit Petticoats, die enge Nietenhose und dann 1965 der erste Minirock. 1963 die erste
Antibaby-Pille, mit der ich aber vorerst nur beruflich zu tun hatte. Und der erste Erotikfilm: „Das Schweigen“, nach dem weitere Aufklärungen von Oswald Kolle folgten. Aber es war dennoch eine schöne, alte Zeit, eben eine andere Zeit!
Mit zunehmendem Alter denke ich oft an meine Kindheit zurück. Es fallen mir dann Begebenheiten ein, die mir schon längst entfallen zu sein schienen,ja, an die ich schon gar nicht mehr dachte! Angefangen haben meine Erinnerungen Pfingsten 2006 mit
einer Busfahrt zur Mecklenburgischen Seenplatte. Unsere Reise führte uns durch
kilometerlange Alleen, umsäumt von großen Lindenbäumen.
Schon immer neigte ich dazu, dass mir beim Anblick solcher Baumalleen richtig warm ums Herz wurde. So war es auch an jenem Tag, um es genauer zusagen: Es entstand so eine Art Sehnsucht in mir und es war mir unerklärlich, warum dies so war.
Wir fuhren durch die schöne Stadt Prenzlau, ja, und genau jetzt erinnerte ich mich, dass hier nach dem Krieg einmal ein Onkel meines Vaters mit Familie gewohnt hat. Er war ein Bruder seiner Mutter, ein Onkel von vielen, denn hier gab es in jener Familie Neumann drei Mädchen und vier Jungen. Aber dieser Onkel Alfred war sein Lieblingsonkel und so weiß ich noch, dass wir Ende der 50er- und in den 60er-Jahren so manches Paket dorthin geschickt haben. Damals bekamen alle Rentner, die über sechzig Jahre alt waren, die Genehmigung von Ost nach West zu Besuch zu kommen und so kam es, dass Onkel Alfred uns auch einmal Ende der fünfziger Jahre in Exten besucht hat. Er sollte bei uns bleiben, doch seine Kinder wohnten noch drüben, so wollte er dann doch lieber wieder zurück in den Osten, in die damalige „DDR“.
Vorbei an Prenzlau, folgte als nächste Stadt Pasewalk. Ich wagte kaum zu atmen.Beim Blick seitlich aus dem Fenster schaute ich mit klopfendem Herzen über die Felder in jene Richtung, wo ich den kleinen Ort Stolzenburg vermutete. Jener Ort, wo die Eltern meiner Mutter nach der Flucht eine „Neue Heimat“ gefunden hatten und ja, auch ich während unserer Besuche dort schöne Kindheitstage verbracht habe. Jetzt fuhren wir direkt am Städtischen Krankenhaus vorbei. „Hier, in diesem Krankenhaus, ist im Jahre 1953 meine Oma Martha gestorben“, dachte ich so für mich. Es war schon eigenartig: Nachso vielen Jahren erfasste mich eine Unruhe und meine Gedanken und Erinnerungen gehen zurück in jene Nachkriegszeit, eben meine Kindheit.
Das historische Pommern, das Land meiner Vorfahren, entdecke ich als ideale Landschaft wieder. Hier steht das harmonische Verhältnis von Land und Stadt, umgeben von herrlicher Natur. Seit Jahrhunderten kann man zurückblicken auf slawische Vorfahren. Im Laufe der Zeit „schmolzen“ als „Pommeranen“ eingewanderte Niedersachsen, Friesen, Westfalen und Franken zusammen. Das Symbol dieser Verschmelzung ist die pommeraner Fahne. Die Bezirkshauptstadt ist Schneidemühl, jene Stadt, die bei meiner Mutter in ihrer Kind-und Jugendzeit von 1920 bis zu ihrer Vertreibung 1945 eine große Rolle spielte.Die Umgangssprache war Plattdeutsch.
Ich beginne mit einer Hochzeitsfeier im Jahre 1941 in Pommern. Genauer gesagt in Kietz, Kreis Flatow, heute Polen. Damals war eine Hochzeit genau wie heute etwas sehr Schönes. Man feierte drei Tage lang und die Bewohner des ganzen Dorfes feierten mit. Das hört sich gewaltig an, aber die einzelnen Dörfer bestanden ja nur aus wenigen Familien, so war es verständlich, dass jeder mitfeiern durfte und die gesamte Verwandtschaft aus nah und fern sich traf. Wer ein Instrument besaß, brachte dieses mit, es wurde gerne gesungen und getanzt, vor allem Polka. Nur einen Wermutstropfen gab es auf dieser Hochzeit: Überall war Krieg, die ersten Männer waren schon eingezogen, keiner wusste, ob man sich je wiedersah und wann es mal wieder eine Gelegenheit zum Feiern gab. Ja, und auf so einer Hochzeit, die des jüngsten Bruders meiner Mutter, haben sich meine Eltern kennengelernt. Dabei muss ich im Nachhinein noch schmunzeln, denn Mama hatte mir einmal erzählt, dass Papa garnicht ihr Typ war, ihr Herz gehörte eigentlich einem Anderen. Sie war vorher mit einem Förster verlobt, und wie das Leben so spielte, es war Krieg und ihr Verlobter kam gleich in den ersten Monaten in Russland, während eines Angriffs, ums Leben.
Die Hochzeit meiner Eltern fand dann im Oktober 1943 statt. Es war ein Freitag, der 13. Papa hatte extra ein paar Tage Heiratsurlaub bekommen und am Montag musste er wieder zurück an die Front. Im März 1944 kam er dann noch einmal auf Fronturlaub und dann ging es ab, mit unbekanntem Ziel an die Ostfront, entlang der Weichsel bis Ostpreußen!
Gerda Martha Rost, so wurde meine Mutter im Jahre 1920 als jüngste von vier Kindern (zwei Jungen und zwei Mädchen) in Louisenhof/Kreis Flatow in Pommern, heute Polen, geboren. Später zog ihre Familie in ein anderes Dorf, das seinem Namen alle Ehre machte: Seedorf, ein idyllisches kleines Dorf, umgeben von Seen und viel Wald, wie es dort für die Gegend so üblich war. Vom Ort aus führte ein langer, sandiger Weg entlang an Buchen und Kiefern, umgeben von Lindenbäumen, die majestätisch eine Allee bildeten. Den Erzählungen nach sind jene Lindenalleen, die es dort in Pommern so zahlreich gibt, vor ca. 200 Jahren von Napoleon bei seinem Russlandfeldzug angelegt worden.
Seedorf war ein kleiner Ort mit einigen Häusern, besaß aber sogar eine Volksschule, in der eine Klasse für alle Kinder reichte.
1930
1928
Der Tagesablauf im Ort und innerhalb der Familien drehte sich hauptsächlich um die Landwirtschaft. Alle wichtigen Dinge, die man zum täglichen Lebensunterhalt brauchte, hatte man selbst im Garten oder in der Tierhaltung. Schon damals war das Land Pommern wegen seines leichten Bodens als Kartoffelland bekannt. Mein Opa Hermann, gelernter Stellmachermeister, besaß eine kleine Werkstatt. Schon sein Vater war Stellmacher und so war es wie selbstverständlich, dass dieser Beruf auch an seine beiden Söhne Willi und Siegfried weitergegeben wurde. Beide Söhne arbeiteten bei ihm als Gesellen, bis sie zu den Soldaten einberufen wurden. Auch Opas Schwiegervater war Stellmacher. Wahrscheinlich waren gerade dieser Beruf und der des Bauern jene, die damals am häufigsten erlernt wurden. Opa liebte seinen Beruf und die Verarbeitung von Naturmaterialien, dem Holz. Hiervon gab es in der Umgebung jenes kleinen Ortes reichlich. Ebenso suchte er sich in der Natur Beschäftigung, wobei ihm das Veredeln von Bäumen und Sträuchern am meisten Spaß bereitete. Man zählte nicht zu den Reichen, aber es reichte, um seine sechsköpfige Familie zu ernähren.
Meine Oma war gelernte Schneiderin, nähte für die Kinder alles selbst, da war sie schon erfinderisch, konnte die schönsten Kleider für die Mädchen nähen, aber auch bei Nachbarn und Verwandten war sie wegen ihrer Nähkünste bekannt und beliebt. Brauchte sie mal einen besonderen Stoff, musste Opa Hermann seinen „Braunen“ vor den Kastenwagen spannen und mit ihr in die nächstgelegene Stadt Schneidemühl fahren, das waren den Erzählungen nach etwa sieben Kilometer. Später, in Kriegsjahren war es schon schwierig, einen schönen Stoff zu bekommen, überhaupt war alles Schöne rationiert, es wurde eingeteilt. Das Gleiche geschah auch, wenn die Kinder mal neue Schuhe brauchten. Das kam nicht sooft vor, da ein jeder die Schuhe des anderen nachtrug und dies dauerte so lange, bis die Sohle löchrig war, der Sand durch die Schuhe rieselte und selbst Opa ratlos war. Er besohlte alle Schuhe selbst, aber dann konnte auch er leider nichts mehr für sie tun. Im nahegelegenen Wald hielt sich meine Mutter immer am liebsten auf, sie liebte die Natur und da bot sich der ruhige See gerade als idealer Platz für Naturschauspiele an. Der See, umgeben von Birken, Eichen und Buchen, bot mit seinen vielen Seerosen ein Bild der Stille.
Die Natur hatte hier viel zu sagen, es siedelten sich beliebte Vögel an,von denen der Weißkopfseeadler besonders auf dem Wasser auffiel. Mit seinen Flügeln von etwa anderthalb Metern Spannbreite bot er ein atemberaubendes Bild. Doch näherte man sich ihm , suchte er schnell das Weite, er galt dem Menschen gegenüber als scheu. Im Frühjahr siedelten sich in der nahen Umgebung auch viele Schwarzstörche an, von denen aber die meisten, etliche Tausend, dann doch weiter nach Norden Richtung Masuren, Ostpreußen zogen. Nun ist ja bekanntlich der Waldboden auch ideal für Pilze. Gerade dort gab es bekannte Stellen, an denen man Maronen, Steinpilze und Pfifferlinge sammeln konnte. So auch an einem bestimmten Sommertag. Mama und ihre Schwester machten sich auf die Suche, ausgerüstet mit einem Henkelkorb. Sie kannten eine Stelle, wo sich die meisten Pilze befanden, hier hielten sie sich besonders gerne auf. Es roch nach Morast und frischem Moos und es war eine Freude durch den sandigen Boden, zwischen kreuz und quer liegenden Ästen zu laufen. Sie mussten schon aufpassen, dass sie nicht stolperten. Überall lag Gestrüpp, ja, teilweise war es so dicht zwischen kleinen Buchen, dass es immer beschwerlicher wurde, die Richtung zu halten. Vor allem wollten sie die vorhandenen Pilze ja nicht zertreten. An dem Tag lohnte es sich nicht so richtig, „wahrscheinlich war schon vorher jemand aus dem Dorf hier und hat Pilze gesammelt“, meinte ihre Schwester Hildegard. „Nun, für eine Mahlzeit würde es bestimmt für alle reichen. “Zu Hause angekommen hatte die Mutter schon den großen Küchenofen für das Mittagessen angeheizt. Im Sommer gab jener weiß / silberne Metallherd eine enorme Hitze ab, aber an einen elektrischen Ofen dachte damals noch keiner. Außerdem war der Herd ziemlich geräumig und es passten allerhand Töpfe darauf, die bei einer sechsköpfigen Familie ja auch gebraucht wurden. Ein silberfarbener Wasserkessel zierte immer die Herdplatte, mit und ohne Wasser. Nun, erst wurde die große, schwarze Eisenpfanne auf den Herd gestellt, einen Esslöffel Gänseschmalz hineingetan, klein gehackte Zwiebeln dazu und alles angebraten. Jetzt die geputzten Pilze dazu, es roch köstlich, das Wasser lief einem schon im Mund zusammen. Mamas Mutter stellte die Pfanne in die Mitte des großen Eichentisches. Die Männer kamen aus der Werkstatt und jeder setzte sich auf seinen gewohnten Platz, nahm sich mit dem Löffel die Pilze und dazu Bratkartoffeln aus der Pfanne. Nur Opa Hermann aß nichts von den Pilzen. Er mochte angeblich die Zwiebeln nicht so gerne. Das entsprach wohl der Wahrheit. Es waren nicht allein die Zwiebeln, die er nicht mochte: Er hatte wohl Angst um sein Leben...! Das Essen war beendet. Meine Mama erzählte mir später einmal, wenn die Zwiebel beim Braten hell bleibt, sind die Pilze nicht giftig. Leider kann ich bis heute noch keine giftigen von essbaren Pilzen unterscheiden. Da verlasse ich mich lieber nicht drauf und da man heute ja auch gezüchtete kaufen kann, erübrigt sich dies für mich. Obwohl, der Geschmack von den selbst gesuchten Pilzen ist doch viel intensiver, man möchte meinen, sie haben ein ganz besonderes Aroma - sie schmecken besser!
Die Umgangssprache dort in Pommern war „Plattdeutsch“, und so unterhielt man sich beim Mittagessen untereinander über die bevorstehende Hochzeit des ältesten Bruders Willi. Man schrieb das Jahr 1935, meine Mama war gerade fünfzehn Jahre alt, sie fand es spannend, dass endlich mal wieder eine größere Feier stattfinden sollte. Die zukünftige Frau hieß Olga, kam aus dem benachbarten Ort Kietz im Kreis Flatow. Ja, und es sollte eine große Hochzeit werden, wozu alle Verwandten von nah und fern eingeladen wurden. Und sollte man den Erzählungen Glauben schenken, zog sich diese Feierlichkeit dann laut Tradition über drei Tage hin. Meine Mutter spielte schon seit Längerem in einem Mandolinenorchester, bestehend aus mehreren Mädchen aus dem Ort. Dieses machte ihr solchen Spaß, dass sie sich überlegte, auf der Hochzeitsfeier einige Lieder zu spielen. Es gefielen ihr am besten: „Lustig ist das Zigeunerleben, faria, faria ho“ und das Pommernlied „Wenn in stiller Stunde“. Das letzte Lied mochte sie besonders. Ja, sie fand, dass es eine unstillbare Sehnsucht hervorrief - es war ein bisschen wehmütig. Sie behielt dieses für sich, es sollte doch eine Überraschung für das junge Paar werden.
Ihre Mutter hatte inzwischen Teig für Brot angemengt und das bedeutete immer viel Arbeit. Einmal in der Woche wurde Brot gebacken. Da Brot als Grundnahrungsmittel galt, waren das bei der großen Familie meistens fünf große Brote, von denen jedes ein Gewicht von etwa sieben Pfund hatte. Ja, alle drei Männer mussten hart arbeiten und hatten somit immer großen Hunger. Die Hausfrau hantierte am Holztrog, dort lag der Teig schon angemengt und wartete darauf, zu Broten verarbeitet zu werden. Mit beiden Händen nahm sie sich jetzt jeweils einen Klumpen Teig und knetete ihn mit enormer Kraft tüchtig durch. Dies machte sie so oft, bis die Brotlaibe der Reihe nach auf dem Tisch lagen. Nun öffnete sie die Backofentür, wobei ihr schon die Hitze entgegenströmte und schob nach und nach die Brote in den Backofen. Nun dauerte es bei der Menge den ganzen Morgen, bis alle Brote gebacken waren. Durch die Küche zog ein Duft nach frischem Brot. Da das Brot mindestens für eine Woche haltbar zum Verzehr sein musste, kam es in einen Steintopf. Nach und nach waren die letzten Brotkanten aufgegessen und die Backzeremonie wiederholte sich von Neuem. Wieder wurde Teig angemengt und hatte sich Besuch angemeldet, durften es auch schon ein oder zwei Brote mehr sein. Dies war Oma Marthas Arbeit, die ließ sie sich auch von keinem abnehmen.
Hildegard, die Schwester meiner Mutter war vier Jahre älter und somit zog es diese schon mal eher in die Stadt nach Flatow oder in die Bezirkshauptstadt Schneidemühl. Manchmal nahm sie meine Mutter mit, es war eine große, schöne Stadt, eben ganz anders als im Dorf. Hier gab es Geschäfte, große Häuser, Kirchen, es war eine andere Welt. Doch zum Leidwesen meiner Mutter zog es ihre Schwester noch weiter entfernt in eine viel größere Stadt - nach Berlin.
Beide hingen sehr aneinander. Auch noch später, im Alter, wie es bei Geschwistern so sein sollte. Und direkt nach der Flucht im Januar 1945 spielte Tante Hilde dann auch für die Familie eine wichtige Rolle, denn im Falle eines Wiedersehens sollte dies dann bei ihr in Berlin sein.
Mama (li) mit Bruder Siegfried und Olga, ihre Schwägerin
Im Alter von erst fünfzehn Jahren war meine Mutter in Deutsch Fier im Kreis Flatow vom 1. September 1935 – 1.Mai 1939 als Haus Mädchen bei Familie Schön. Damals nannte man dies in „Stellung“ sein. Ihr monatliches Einkommen betrug 25 RM (Reichs-mark), zusätzlich für Unterkunft und Verpflegung 36RM.
Dann kam der Krieg und mit zwanzig Jahren wechselte meine Mutter in einen Arzthaushalt vom 1.Januar 1940 – 1. März 1943 nach Flatow. Hier gefiel es ihr sehr, zumal zwei Mädchen zur Familie zählten, es entwickelte sich eine Art Freundschaft untereinander, an die sie sich später gern erinnerte. Sie wurde voll mit ins Familienleben integriert. Hier verdiente sie dann monatlich 50RM, inkl. Kost und Unterkunft.
Der Arzt war ein passionierter Jäger, ging liebend gern auf die Jagd und lagerte seine Beute im Keller. Hier hingen dann das Reh oder der Hirsch, je nach Fang, und mussten einige Tage abhängen. Zum Leidwesen meiner Mutter war dieses jedes Mal ein Albtraum für sie, es stank im Keller. Sie musste immer mithelfen, das Wild zuzubereiten, sei es beim Zerlegen oder natürlich auch zum Vorbereiten des Sonntagsbratens. Man kann sich da gut vorstellen, dass sie selbst vom Braten keinen Bissen herunterbekam.
Meine Mutter war nur bis 1943 in dem Arzthaushalt tätig. Bedingt durch den Krieg wurde sie bis zu ihrer Heirat am 13.Oktober 1943 als Ernte-Kindergärtnerin verpflichtet.
Meine Mutter mit ihren Eltern (Opa Hermann, Oma Martha), Bruder Willi und Neffe Gert
Seedorf, Kreis Flatow-1940/41
Vorbei an Feldern, umgeben von großen Lindenbäumen, war meiner Mutters Lieblingsweg. Sie liebte die Natur und sooft sie konnte, fuhr sie mit dem Kinderwagen und ihrer Nichte Helga hier entlang. „Schon bald“, dachte sie sehnsuchtsvoll, „in einem halben Jahr werde ich mein eigenes Kind hier entlang fahren können“.
Man schrieb das Jahr 1944.
Vor der Vertreibung - Witzleben - 1943
die Taufe meiner Cousine Helga.
Aber es sollte anders kommen: die Flucht…!
Mein Vater wurde im Jahre 1917 in Westpreußen geboren, genauer gesagt in Witzleben, Kreis Wirsitz in der Nähe von Posen. Er war das zweite von drei Kindern, hieß genau wie sein Vater mit Vornamen Richard und seine Geburtsurkunde trug damals noch das Siegel mit dem polnischen Adler. An seine Mutter konnte er sich nicht mehr erinnern, sie ist nach der Geburt seiner Schwester Margarete, im Jahre 1920 gestorben, somit stand sein Vater mit drei kleinen Kindern alleine da. Und da seine Mutter aus einer kinderreichen Familie stammte, war es damals so üblich,dass man sich untereinander kümmerte. So kam es, dass Anna, die unverheiratete Schwester von Papas Mutter die drei Halbwaisen in ihr Herz geschlossen hatte. Mein Opa Richard wohnte mit seiner Familie in einem kleinen Dorf in Witzleben, das aus einigen Arbeiterhäuschen bestand, sie alle bildeten mit dem nahegelegenen Gutshof Witzleben eine Einheit. Nun muss man gerade dort in Westpreußen an eine andere Tradition und Lebensgewohnheit zurückdenken. Hier war selbst innerhalb der gleichen sozialen Schicht die Lebensart nicht die gleiche und so war gerade für den Osten das Bild des Arbeiters und das des Aristokraten typisch. Hier bewirtschaftete der Besitzer einen landwirtschaftlichen Großbetrieb selbst, also war er sein eigener
Unternehmer, man nannte es dort „Gutsherrschaft“. So war es auch nicht verwunderlich, dass das Verhältnis vom Besitzer zu Untergebenen ganz verschieden war, enger und herzlicher als im Westen. Man war stärker aufeinander angewiesen, man kannte sich genau, ja, es gab eine persönliche Vertrautheit. Genau auf so einem Gut arbeitete mein Opa Richard als Bauer und bewirtschaftete somit einige Ländereien, wobei seine Vorliebe schon immer der Haltung von Bienen galt. Inzwischen hatte er seine Schwägerin (Oma Anna) geheiratet, die bis zu dem Zeitpunkt als Schaffnerin bei der“Reichsbahn“ beschäftigt war. Aus dieser Ehe wurde 1921 noch ein Sohn geboren, der leider als „Totgeburt“ auf die Welt kam. Mit der Tante hatte nmein Vater und seine beiden Geschwister wieder eine Mutter (Stiefmutter). Oma Anna, an die ich mich noch gut erinnere, da sie später auch einige Zeit in Exten wohnte und auch dort bei uns verstarb. Gerade schrieb man das Jahr 1920, der 1. Weltkrieg (bis1918) hinterließ noch seine Spuren und der Kreis Wirsitz, wo sie wohnten, wurde nach dem Versailler Vertrag an Polen abgetreten. Durch den verlorenen Krieg und die Übertragung der Provinz Posen an Polen war es nicht verwunderlich, dass es zwischen den Angehörigen der beiden Völker vor Ort zu Konflikten kam. Den Erzählungen nach gab es vielerlei Schikanen: So mussten deutsche Bauern im Jahre 1918 nach Kriegsende noch einmal die Steuern des Jahres an den polnischen Staat zahlen. Auf den Behörden wurde nur noch polnisch gesprochen und so kam es, dass mein Vater von 1923 bis 1930 die polnische Volksschule in Witzleben besuchte, wo nur polnisch unterrichtet wurde. Noch Jahre später prägte ihn die Erinnerung an seine Schulzeit und besonders an einen Mitschüler. Es handelte sich um den Sohn des Freiherrn von Braun in Wirsitz, bekannt unter dem Namen Wernher von Braun. Da dieser aber vier Jahre älter war und somit dann auf eine höhere Schule weiterging, haben sie sich aus den Augen verloren. Erst viele Jahre später erfuhr Papa dann durch die Presse und gelegentlichen Beiträgen im Fernsehen, dass eben dieser ihm bekannte Mitschüler Wernher von Braun ein bekannter Mann geworden ist. Er erlangte in den USA große Popularität und war eine Koryphäe in der amerikanischen Raumfahrt. Nun, mein Vater machte auch seinen Weg: Nach Ende der Schulzeit arbeitete er von 1932 bis August 1939 als Maurer auf dem Gut Witzleben in Westpreußen, eine Lehre war zu der Zeit leider nicht möglich. Ab August 1939 bis Dezember 1939 wechselte er als Arbeiter auf das „Gut Kleinmünsterberg“ in Ostpreußen. Dann im Januar 1940 ergab sich die Möglichkeit, als Postanwärter mit Anstreben zum Postbeamten beim Postamt Lobsens im Kreis Wirsitz anzufangen. Hier konnte er in der Zeit bis Oktober 1940 seine Eignungsprüfung zum Postbeamten ablegen. Leider machte der Krieg meinem Vater einen Strich durch sämtliche Pläne, er wurde zum Wehrdienst einberufen und ab 1945 scheiterten durch seine Kriegsverletzung alle beruflichen Pläne. Schon damals wurde die Zeit dort in Westpreußen durch die polnische Sprache geprägt. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges trat der Landkreis Wirsitz zunächst wieder zum Deutschen Reich über, es hieß wieder Wirsitz in Westpreußen. Im Januar 1945 mussten deutsche Bewohner, somit auch meine Großeltern, mit der Familie aus Westpreußen gen Westen flüchten. Mein Papa war damals noch an der Front, so erlebte er nicht hautnah mit, wie seine Eltern von ihrem Hof, ihrem Land vertrieben wurden, mit nur wenig Hab und Gut. Sie erlitten das gleiche Schicksal wie meine Mutter mit Kind und ihren Eltern aus Seedorf in Pommern. Ja, wie andere Hunderttausende von Landsleuten, die Vertreibung aus ihrer Heimat im Osten.
1944, Vor der Vertreibung in Witzleben
Nachder Vertreibung 1945 fand mein Großvater mit seiner Familie und Verwandten in Farpen, Kreis Wismar in Mecklenburg (später DDR), eine neue „Bleibe“. Hier wurde ihm dann für das enteignete Land aus Westpreußen neues Land in Farpen bei Wismar zugewiesen.
Mein Vater war inzwischen nach der Verwundung in Exten angekommen, sein neues Zuhause war jetzt dort. Fragte man ihn aber nach seiner Heimat, so antwortete er, dass er gerne in Rinteln lebe, aber manchmal fehle ihm die schöne Landschaft, die Natur, die vielen Seen und die Tiere jener vergangenen Welt. Das erklärte wohl auch seine Liebe zum Angeln, dem Doktorsee und dem Kiesloch in unserer Nähe.
Weihnachten 1944 : Meine Mutter hatte am Samstag, dem 23.12.1944 Zwillinge zur Welt gebracht. Es waren meine beiden Brüder Klaus und Dieter. Damals wurden die Kinder noch zu Hause geboren, nur im Notfall wurde ein Arzt gerufen. Es war harter Winter, 15 Grad minus und viel Schnee. Außerdem war Krieg. So war auch das nächste Krankenhaus in der nächsten Stadt Schneidemühl von jenem kleinen Ort Seedorf, wo meine Eltern damals wohnten, einige Kilometer entfernt. Vor der Heirat war meine Mutter in Flatow bei einem Arzt, der auch gleichzeitig ihr Hausarzt war, in Stellung. Er wäre ihr bei der Hausgeburt mit Sicherheit behilflich gewesen, doch die Wetterlage machte es ihm unmöglich, bis dorthin durchzukommen. So war die Hebamme dann auf sich alleine angewiesen und alle hofften, dass es gut ging. Nun ist ja bekanntlich eine Geburt eigentlich eine ganz normale Sache. Doch bei meiner Mutter dauerte und dauerte es. Stunden vergingen, die Hebamme machte es sich gemütlich und ließ sich von meiner Oma beköstigen. Und um es genau zu sagen, sie hatte die Ruhe weg und es dauerte noch Stunden. Aber es blieb meiner Mutter auch nichts Anderes übrig. Endlich wurde ein Junge geboren und zu dem Zeitpunkt wusste noch keiner, selbst die Hebamme nicht, dass noch ein zweites Kind folgte. Sie hatte sich genau wie meine Mutter so erschrocken:„Huch, da kommt ja noch eins“, rief sie erstaunt. Dies hatte zur Folge, dass der zweite Säugling dann am 27.Dezember 1944 an den Folgen von Krämpfen verstarb.
Zu der Zeit war mein Vater in Ostpreußen bei den Pionieren an der Front stationiert. Er hat erst viel später von seiner Vaterschaft erfahren. Meine Mutter wohnte damals seit ihrer Kindheit erst in Louisenhof, später in „Kietz“, dann in Seedorf bei Schneidemühl im jetzigen Polen. Diese kleinen Orte, die zum Landkreis Flatow, „Grenzmark Posen-Westpreußen“, gehörten, hatten alle eines gemeinsam: Jedes Dorf war klein und bestand nur aus wenigen Häusern, lagen aber idyllisch, mit der Natur und Seen in Einklang. Später hat mir meine Mutter oft erzählt, dass sie schon im Herbst merkten, dass sich irgendetwas ändern würde. Es wurde soviel erzählt und spekuliert. Sie wollten sich versorgt wissen, schlachteten ein Schwein und vorsorglich wurde alles geräuchert, um dies dann haltbar zu machen. Weihnachten 1944, war durch die traurigen Ereignisse kein Fest der Freude. Allein der Gedanke, dass es vielleicht das letzte Weihnachtsfest in der Heimat sein könnte! Schon bald überschlugen sich die Ereignisse, erst die Nachricht vom Tode der beiden Brüder, beide hatten für das Vaterland ihr Leben lassen müssen, die Geburt der Zwillinge, dann der Tod des zweiten Kindes, was würde nun noch alles auf sie zukommen? Die „Rote Armee“ stand in unmittelbarer Nähe und schon vor Weihnachten zogen die ersten Flüchtlinge mit Pferd und Wagen durchs Dorf. Keiner glaubte mehr an Sieg, man hatte nur noch einen Gedanken: Sich in Sicherheit zu bringen, schnell fort gen Westen, man dachte nur noch an Flucht, weiter in eine unbekannte Zukunft. Wenn sie jetzt nicht schnell handelten und alles, ja alles, das ihnen vertraut war, verließen, bestand die Gefahr einer Gefangenschaft. Es war eine Unsicherheit, keiner wusste, wie weit der Russe vorgehen würde. Angst und Schrecken machten sich breit, man hörte schon aus den entfernten Orten von Plünderungen und Vergewaltigungen der Frauen, egal, ob jung, ob alt. So kam es, dass meine Großeltern Mitte Januar 1945 begannen, ihr Hab und Gut, wichtige Papiere, Lebensmittel und alles, was ihnen lieb und wertvoll erschien, zusammenzupacken. Was sie nicht mitnehmen konnten an Porzellan, „verbuddelten“ sie im Garten, in der Hoffnung, dass sie, wenn der Krieg vorbei wäre, einmal wieder zurückkehren würden. Schweren Herzens hatten sie mit einigen Familien aus dem Ort beschlossen, sich mit einem Ochsengespann und einem Kastenwagen zu einem Treck zusammenzuschließen. So verließen meine Mutter mit einem Säugling, ihre Eltern und einige Familien bei ca.15 Grad Minus, Schnee und Eis ihren Ort. Innerhalb der einzelnen Familien herrschte tiefste Verzweiflung, so manche Träne wurde vergossen. Man wusste ja nicht, ob man je die Heimat wiedersehen würde. Schon früh am Morgen begaben sie sich mit vier Wagen auf die Flucht. Noch ein wehmütiger Blick zurück auf ihre vertraute Umgebung, ihr zurückgelassenes Haus, ihr geliebtes Seedorf. Stapfend durch hohen, knirschenden Schnee, ein Marsch ins Ungewisse. Nach einigen Kilometern nahmen sie abends das erste Quartier ein. Der lange Fußweg und die Kälte hatten sie müde und hungrig gemacht. Sie waren nicht die einzigen Flüchtlinge dort. So verbrachten sie diesen Abend und die Nacht mit Menschen, deren Schicksal das gleiche wie ihres war. Ebenso hatten sich deutsche Soldaten eingefunden. Dieses sollte sich die nächsten und auch die übernächsten Tage gleichen. Immer und immer wieder traf man unterwegs auf weitere Flüchtlinge. Alle wollten gen Westen. Langsam wurden es weniger, dafür aber mehr Militärtransporte aus beiden Richtungen. Inzwischen war es schon Februar: Der Winter zeigte sich jetzt etwas milder. Ja, vereinzelt schien die Sonne, es war Tauwetter. In einem der letzten Unterkünfte, einem verlassenen Bauernhof, geschah etwas, was alle schon lange befürchtet hatten und man konnte nur in einem stillen Gebet hoffen, dass Gott sie davor behüten würde: Sie wurden von russischen Truppen überrumpelt. Im Nachhinein kann man nur erahnen, wie schlimm das gewesen sein muss. Mama erzählte, dass sie sich alle, Männer, Frauen und Kinder auf einem Heuboden der Unterkunft versteckt hätten. Die Russen feierten gerne und waren sehr dem Alkohol zugeneigt. Ja, sie benahmen sich wie die Vandalen, es gab da keine Ausnahmen. Nachdem sie die Frauen gefunden hatten, was nicht zu vermeiden war, kann man sich vorstellen, was die Ärmsten da durchgemacht haben. Meine Mutter hatte den kleinen Säugling dabei. Nur ihm konnte sie es verdanken, dass sie verschont wurde. Ihr ganzes Mitgefühl galt der Frau ihres Bruders, sie wurde vergewaltigt und es war wie ein Wunder, dass diese jenes grauenvolle Ereignis überlebt hat.
Noch oft erzählte meine Mutter später, dass sie Gott nicht genug danken konnte, dass der Säugling auf der Flucht am Leben geblieben ist. Es gab kaum Milch und so gab sie als Nahrungsmittel zeitweise Hacheln vom Hafer mit Wasser angemengt.
Nach so vielen Jahren, ist der Gedanke für mich unvorstellbar: die Flucht meiner Angehörigen in etlichen Wochen unter menschenunwürdigen Umständen mit schrecklichen Erlebnissen. Ihr Weg führte von Hinterpommern bis Mecklenburg, mit einem Ochsengespann beladen nur mit dem Nötigsten. Dann der Gedanke, ob der Mann noch lebte,und ob meine Mutter selbst am Leben bleiben würde. Ja, was wohl noch weiter auf sie zu kam? Sie hatten ihr ganzes Hab und Gut verloren. Hinzu kam noch, dass meine Mama auf der Flucht, gerade vom Kindbettfieber genesen, durch die fehlende Hygiene Typhus bekam. Nach Wochen schrecklicher Not und Verzweiflung kamen sie abgekämpft in Stolzenburg bei Pasewalk/Mecklenburg an. Aber der Gedanke, dass sie selbst lebten, ließ sie neuen Mut schöpfen. Die Zukunft begann mit einem neuen Kampf ins Ungewisse. Hier fanden sie ersteinmal eine neue Bleibe, wobei meine Mutter schon lange nichts mehr von ihrem Mann gehört hatte. Wo mochte er jetzt sein, lebte er überhaupt noch? Inzwischen schrieb man Mitte Mai 1945, der Krieg hatte ein jähes Ende gefunden. Es waren neue Sorgen, die sie quälten. Und dann erinnerte sie sich, dass sie beim letzten Zusammensein wohl schon geahnt hatten, dass die Flucht bevorstand. Für den Fall hatten sie vereinbart, alles über Berlin, ihrer Schwester Hildegard und einer Schwester ihrer Mutter, Tante Emma, laufenzulassen. Es konnte ja vorher keiner ahnen, dass gerade Berlin sehr zerstört und viele Menschen ausgebombt wurden. Wie durch ein Wunder haben alle, die ihr lieb waren, diese schrecklichen Ereignisse überlebt. Nach bangen Monaten kam dann endlich, gegen Ende 1945 Post von ihrem Mann. Er hatte den Krieg überlebt und wohnte in Exten, einem kleinen Dorf bei Rinteln im Weserbergland.
Im Frühjahr 1945 wurde das Kreisgebiet Flatow durch die „Rote Armee“ besetzt und kam danach unter polnische Verwaltung.Daran hat sich bis heute nichts geändert.
Mama erzählte mir oft von Pommern, ihrer Heimat, der schönen Landschaft, den verträumten Wäldern mit den vielen Seen. Ich glaube, dann hatte sie großes Heimweh!
Als mein Vater im Jahre 1941 zum Soldaten einberufen wurde, konnte er noch nicht ahnen, wie sich sein weiteres Leben verändern sollte. Es war Krieg! Sein Marschbefehl sollte die „Ostfront“ lauten, und zwar bei den Pionieren entlang der Weichsel Richtung Stalingrad. Der Kampf ums Reich sollte für ihn beginnen und da denkt man gerade im Russlandkrieg an Panzer. Aber auf deutscher Seite an der Ostfront waren es Tausende von Pferden, die als treue Begleiter dem Soldaten zur Seite standen, mit durchs große Land zogen, durch Flüsse, Schlamm, Eis und Schnee. Die Ereignisse an der Front hatten sich 1943 verschlechtert, Soldaten verließen ihre Abschnitte, in denen sie lange Zeit dem Feind getrotzt hatten. Sie zogen sich in neue Gebiete zurück. Bei eisiger Kälte war die Truppe tagelang ohne warmes Wasser, das gebliebene Brot zerkrümelt und gefroren. Die Kleidung war nass und steifgefroren und an Schlaf war zeitweise garnicht zu denken. Man war immer in Alarmbereitschaft.
In dieser Zeit wurde meinem Vater der rechte Mittelfinger abgeschossen.
Durch die Verletzung war er nicht einsatzfähig und das bedeutete für ihn Fronturlaub: Er durfte für einige Wochen nach Hause. Doch Papa musste zurück an die Front, bekam dann noch zweimal im Jahre 1944 Urlaub. Und dann brach die Verbindung zu seinen Lieben ab, seine Truppe wurde Anfang 1945 weiter in den Westen versetzt, es ging immer mehr ins westliche Deutschland. Ja, und bei einem der feindlichen Angriffe, es war Ostern, vier Wochen vor Kriegsende, wurde mein Vater sehr schwer verwundet. Er erlitt einen Kopfschuss und das linke Bein wurde ihm bis zum Oberschenkel zerschmettert. Man brachte ihn in das nächste Lazarett und das war damals in Rinteln. Dort, wo später das für mich bekannte KB-Haus am Wall war, wurde meinem Papa das linke Bein bis zum Stumpf amputiert. Bei der Kopfverletzung, einem Granatsplitter, konnte man weiter nichts machen. Ich weiß aber noch, dass gerade bei Wetterumschwung, außer den Phantomschmerzen im Stumpf auch noch starke Kopfschmerzen sein weiteres Leben oft schlimm belastet haben. Sein behandelnder Lazarettarzt Dr.Reuß ist auch später noch sein Hausarzt geblieben. Es kam oft vor, dass gerade bei Wetterumschwung und Sturm seine Schmerzen unerträglich waren. Da konnte ihm auch nicht seine Selbstmedikation mit Novalgin Tropfen und Zäpfchen Schmerzfreiheit bringen. Nein, da mussten wir dann den Hausarzt rufen, es ging nicht ohne Spritzen. Als mein Vater aus dem Lazarett entlassen wurde und es ihm den Umständen entsprechend besser ging, war der Krieg schon längst beendet, es war Frieden.
Sein Aufenthalt im Lazarett dauerte über ein halbes Jahr, inzwischen war es Winter geworden, es war kurz vor Weihnachten, man schrieb den 15. Dezember im Jahre 1945. „Was passiert nun weiter, wo soll ich hin?“, diese Frage beschäftigte ihn immer wieder. Doch das Wichtigste für ihn war: Er hatte inzwischen erfahren, dass seine Frau und sein Kind noch lebten, sie hatten die Flucht aus Pommern überstanden, er wusste endlich, wo sie sich aufhielten. Und das machte meinem Vater Mut. Er vergaß seine Leiden. Vergaß, dass er ein Krüppel mit nur einem Bein war. Ein Krüppel mit nur 28 Jahren. Er dachte nur noch daran, dass er seine Familie bald wiedersehen wollte. Im Lazarett hatte er sich mit Alfred Neumann aus Ostpreußen angefreundet. Ihm ging es noch viel schlechter, beide Beine waren ihm unterhalb des Knies abgeschossen worden. Zu der Zeit gab es in der Nähe des Rintelner Bahnhofs, in jenem kleinen, weißen Häuschen, direkt vor dem Bahnübergang, schon die orthopädische Werkstatt „Reisgis“. Und da dieses Häuschen dort noch steht, erinnert es mich immer daran, dass meinem Papa dort das erste Holzbein nach Maß angefertigt wurde. Die Anfertigung dauerte aber noch einige Zeit und somit musste er sich erst mit zwei Holzkrücken zufriedengeben. Nun, voller Optimismus machte er sich damit auf den Weg und ging in Rinteln auf Wohnungssuche. Einfach war es nicht, es gab ja schon so viele Flüchtlinge und alle suchten eine neue Unterkunft. Als letzte Möglichkeit bliebe ihm da noch eine „Bleibe“ in einer der Baracken, aber er gab den Mut nicht auf. Er hatte schon so vieles in letzter Zeit durchgestanden, da würde er hierfür auch schon noch eine Lösung finden. So kam mein Vater nach Exten in die Nähe von Rinteln. Und gerade dieser Ort hatte es ihm von Anfang an angetan. „Hier gefällt es mir, hier möchte ich gerne bleiben“, sprach er zu sich selbst und begann dann ab Exter Bahnhof die Behrenstraße runterzugehen, fragte in jedem Haus, ob er für sich und seine kleine Familie eine Unterkunft bekommen könnte. Einfach war es nicht, die meisten Häuser hatten schon Einquartierungen, langsam verließ ihn der Mut. Als letzte Hoffnung führte ihn sein Weg auf den Hof der Korbmacherei Röhmeier/Hasper.
Hier wollte er es noch einmal versuchen.
Ja, und wie mein Vater dann mit seinen zwei Krücken dastand, hatten Haspers wohl soviel Mitleid mit ihm: Sie gaben ihm ein Zimmer und nahmen ihn bei sich auf. Ein schöneres Weihnachtsgeschenk konnten sie ihm gar nicht machen.
Sophie und Wilhelm Hasper mit Tochter Christa
Nun wollte Papa endlich seine kleine Familie nachholen, er hatte seine Frau schon lange nicht mehr und sein Kind noch garnicht gesehen. Für sich und seine Familie hatte er endlich eine neue Heimat gefunden. So geschah es, dass meine Mutter, nach schwerer Krankheit vom Typhus geheilt und gezeichnet, auf dem Kopf wenig Haare, mit einem kleinen Säugling in Exten ankam. Es war der 26. März 1946.
Vertriebenen-Ausweise
Nach Kriegsende wurden genau wie meine Eltern viele Deutsche aus den Ostgebieten zwangsweise nach Exten umgesiedelt. So fanden allein in den Jahren 1945-1946 in Exten
403 Vertriebene eine neue Heimat. Die Einwohnerzahl in dem kleinen Dorf nahm dadurch um ein Viertel zu. Viele kamen aus Schlesien, Ostpreußen oder sowie meine Eltern aus Pommern und Westpreußen. Allein in Exten gab es gleich zwei Stellen als Sammellager zur Notunterkunft für Vertriebene, den Saal bei Gastwirt Stock und den Saal im Gasthaus Kretzer in der Mittelstraße. Wer nicht das Glück wie meine Eltern hatte und schon eine eigene Wohnung besaß, bekam ein Quartier im Lager. Da erinnere ich mich noch genau, direkt neben dem Rittergut von Meien befand sich das Gasthaus Kretzer. Wenn man dort hinter dem Haus über den Hof ging, kam man in den großen Saal. In meinem kindlichen Dasein erschien mir dieser groß mit hohen Fenstern. Hier fanden nun etliche Vertriebene vorübergehend eine neue Bleibe und zu diesem Zweck hatte man einzelne Parzellen mit Decken und provisorischen Stellwänden abgeteilt, damit die Familien untergebracht werden konnten und jede ihr eigenes kleines Reich für sich hatte. Da es ja nur als Übergangslösung gedacht war, freute sich jeder, nach der Flucht und den schlimmen Erinnerungen endlich ein Dach über dem Kopf zu haben. Aber da ja in einer Ehe nicht nur gegessen und getrunken wurde und man auch noch andere Bedürfnisse untereinander hatte, gab es da doch schon einige Probleme. Ja, und wenn sich die Geräusche nicht vermeiden ließen und es doch ein bisschen lauter wurde, konnte es schon passieren,dass dann irgend jemand im Saal aus Schikane das große Deckenlicht anknipste. Dass es dann untereinander auch schon mal deswegen Ärger gab, brauche ich wohl nicht erst zu erwähnen.
Das Lager wurde bis Mitte der 50er Jahre genutzt und in dieser Zeit kamen immer noch in Abständen Vertriebene, deren Ehemänner als Soldaten inzwischen hier sesshaft geworden waren. So war auch der Vater meiner Freundin während des Krieges von der Insel Samland aus Ostpreußen kommend in Minden beiden Pionieren stationiert worden. Er und ein anderer Soldat kamen 1943 nach Exten als „Einquartierungen“, und da Gerdas Mutter Witwe mit zwei Jungen war, wohnte er dort. Inzwischen erfuhr er von dem Schiffsunglück in der Ostsee. Viele Menschen kamen damals ums Leben. Gerdas Papa glaubte auch, dass seine Frau und seine Tochter bei diesem Schiffsunglück ums Leben gekommens eien und so gründete er in Exten wieder eine neue Familie. Ja, der Krieg konnte so grausam sein, etliche Familien wurden auseinander gerissen. Das Schicksal meinte es nicht so gut mit ebendieser ersten Familie. Sie waren nicht auf dem Schiff, kamen aber in russische Gefangenschaft und nach Jahren, also 1949 konnten sie Ostpreußen, das heutige Russland, verlassen und kamen dann in jenem Lager in Exten an.
Gleich nach der Einschulung hatte ich mich damals mit der gleichaltrigen Gerda angefreundet. Habe aber noch gut in Erinnerung, dass die erste Frau ihres Vaters sich oft, wenn sie mich sah, nach Gerda erkundigt hatte. Ich erwähne dieses auch nur, weil ich zwar noch ein Kind war, es mir aber dennoch sehr peinlich war, gerade darüber zu sprechen. Ich wusste schon, dass dies etwas Eigenartiges war, also etwas,was nicht so ganz in Ordnung sein konnte. Aber es waren persönliche Situationen, entstanden durch den furchtbaren Krieg. Was konnte ich als Kind dazu sagen?
Meine Eltern hatten sich mit der einen und anderen Familie im Lager angefreundet, ja, sie tauschten Erinnerungen der verlorenen Zeit aus und freuten sich dennoch und waren dankbar, dass sie in der neuen Heimat sein durften. Nach und nach bekamen die einzelnen Familien eine Wohnung, wenn diese auch manchmal klein war oder nur aus ein bis zwei Räumen bestand. Aber sie hatten doch etwas Eigenes. Einige zogen auch aus Exten fort, meistens, weil man im Ort weiter keine beruflichen Perspektiven sah. Man musste ja die Familie ernähren und da war geregelte Arbeit das Wichtigste. Die Schwester meines Vaters hatte auch ihren Mann an der Front verloren. So fand sie erst mit zwei kleinen Kindern nach der Flucht aus Westpreußen eine vorübergehende Bleibe im Lager „Friedland“, ebenso eine Cousine mit ihrer Mutter. Als sie erfuhren, dass mein Papa in Rinteln sei, wollten sie gerne bei ihm sein. So ergab es sich, dass sie erst in einem Lager in Rinteln unterkamen. Doch so sehr sich mein Papa auch bemühte, für alle eine Wohnung zu finden, da sah es gerade in Exten schlecht aus. Es waren schon zu viele Vertriebene und ja auch Flüchtlinge hier. Diese waren bei den Einheimischen nur geduldet, ja, sie waren nicht willkommen. Obwohl, wenn man heute bedenkt, war es für beide Parteien eine schwierige Situation. Auf der einen Seite die Vertriebenen, die ihre Heimat und alles, was ihnen lieb und vertraut war, verloren hatten und auf der anderen Seite die Einheimischen, die ihr Haus oder ihre Wohnräume mit „fremden“ Leuten teilen sollten! Das Zusammenleben war angespannt und erst nach und nach schätzten vor allem die einheimischen Bauern diese „fremden Eindringlinge“, die sich in ihr Leben eingemischt hatten. Sie galten als fleißig, vor allem die Frauen wurden gern zum Arbeiten auf den Feldern gesehen.
Nun muss man bei Vertriebenen und Flüchtlingen auch noch unterscheiden. Die ersten wurden aus ihrer Heimat im Osten von den Polen und Russen „vertrieben“. Letztere haben aus Angst vor der „Roten Armee“ freiwillig ihren Wohnort aufgegeben und sind geflüchtet. Die meisten kamen aus Sachsen, so wie die Eltern meiner Schulfreundin Sieglinde. Sie hat mir einmal erzählt, dass unser damaliger Bürgermeister, Herr Heierking, kein Verständnis gehabt hätte, dass man von dort hierher käme. Es war Wohnungsnot und so hatte er gemeint, sie sollten doch machen, dass sie wieder dorthin zurückgingen. Sie sind natürlich nicht wieder zurückgegangen, sondern fanden zunächst Unterschlupf über der„Gaststätte Vehrling.“ Durch Beziehungen und Verbindung mit der Korbmacherei fand mein Papa zwei Zimmer für die Schwester seiner Mutter, Tante Bertaund für seine Cousine Helene (für mich hieß sie immer Lenchen) auf dem Kehl im Edlerschen Haus bei Brakemeier. Tante Lenchens Mann war auch im Krieg gefallen, ihre Ehe blieb kinderlos. Auf dem Kehl wohnte in der Nachbarschaft eine Familie Wunsch mit Sohn Alwin. Und wie es so kommen sollte, fanden sich diese beiden und zogen dann später zusammen nach Hannover.Ja,und für seine Schwester und ihren zwei Kindern konnte Papa vorläufig nichts tun. Sie mussten weiterhin im Rintelner Lager bleiben. So kam der Zufall ihnen zu Hilfe, indem der Bürgermeister aus Hattendorf damals diesem Lager einen Besuch abstattete. Tante Margarete oder „Grete“,wie ich sie liebevoll nannte, erzählte oft, dass sie so traurig gewesen sei, keiner wollte sie mit den Kindern haben. Da nahm der Bürgermeister sie mit in sein Dorf, wo sie auf einem Bauernhof bei Fam.Stühmeier/Grupe unterkamen. Auch hier ergab es sich, dass der dortige Knecht als Soldat auch in Hattendorf geblieben war und sich in meine Tante verliebte. Zusammen zogen sie dann erst in ein Arbeiterhaus, das zum „Gut Südhagen“ gehörte,und in meinen Erinnerungen, umgeben von Wald und Wiesen, das reinste Paradies war. Hierhin sollte auch mein erster Urlaub gehen und noch später habe ich einige sehr schöne Erinnerungen an dort, bis 1957 meine Tante mit der Familie nach Hannover gezogen ist.
Ein Stück hinter dem Exter Bahnhof befindet sich die Gegend „Stumpfer Turm“. Hier standen auch Holzbaracken als Behelfsunterkünfte, wo auch viele weitere Familien vorübergehend eine Bleibe fanden. Später zogen viele, die hier vorübergehend wohnten, dann nach Rinteln, entweder ins Ostertor in den „Langen Jammer“ oder auch nach Steinbergen zu der „Alten Brauerei“. Auch neben dem Bahnhof Exten, dort, wo die Güterabfertigung für Körbe stattfand und die Genossenschaft ihren Sitz hatte, befand sich eine Holzbaracke. Hier wohnte gleich nachd em Krieg ein Kriegskamerad meines Vaters Onkel Alfred. Man hatte ihm während eines Angriffs in den letzten Tagen des Krieges beide Beine bis auf die Oberschenkel zerfetzt. Wir Kinder mochten ihn, er war trotz seiner schweren Verwundung ein lustiger Mann, mit dem typischen Ostpreußen Dialekt und es klang witzig, wenn er mich ärgern wollte und dabei „mein kleines Mädel“ sagte. Da die Unterkunft dort in dem Holzhaus nur eine Übergangslösung für ihn sein sollte, siedelte er dann Anfang der 50er Jahre mit seiner Schwester und deren Familie nach Süddeutschland in die Nähe von Vaihingen. Doch die Freundschaft der beiden Männer hielt. Sie hatten so viel Freud und Leid gemeinsam im Lazarett erlebt, so etwas verbindet und prägt einen für ein weiteres Leben. Sie besuchten sich noch Jahre später, erzählten vom Krieg und gingen ihrer Leidenschaft nach, dem Angeln!
Nach Onkel Alfred wohnte in der „Baracke“, wie sie von allen im Dorf genannt wurde, eine Familie mit fünf Kindern. Danach wurde sie bis zum Abriss von einem Mann als privates Tierheim genutzt, das gerade in den achtziger Jahren so einige Schlagzeilen machte.
Im Ort gab es vier Bäckereien:
Bäckerei Heinrich Hupe (später Kurt Hupe)und Bäckerei Teigeler, beide Am Anger
Bäckerei Hermann Hupe, Behrenstraße
Bäckerei Kölling, Exten-Uchtdorf
Weitere Geschäfte, die zu unserem alltäglichen Leben gehörten:
Kaufhaus Maack, Vor den Höfen
Milchgeschäft Aldag, Am Anger
Der Konsum (heute Volksbank), Am Anger
Gemischtwaren Brakemeier, Behrenstraße
Eine Drogerie im ersten Haus rechts, Auf der Insel
Schlachterei Teigeler, später Kallweit, Im Gallenort
Schuhgeschäft Frau Temme, Mittelstraße (neben Friseur Liggesmeier)
Schlachterei Paduschek, Am Kehl
Polsterei Lücke, Am Anger
Damen- und Herrenfriseur Liggesmeier, Mittelstraße
Damenund Herrenfriseur Prüfer, später Tarnowski, Mittelstraße
Sparkasse (später im Raumdes Schuhgeschäftes Temme), Mittelstraße
Volksbank (im Haus von GasthausVehrling), Mittelstraße
Schuster:
Schuster Grote, später Priv.-Haus Fam.Schmidt, Am Anger
Schuster Röhmeier, 1.Haus links, Auf der Insel
Schuster Karl Meier, hinter Friseur Liggesmeier, Mittelstraße
Schneider:
Herr Nolting, gegenüber der Kirche, Hohenroder Straße
Herr Bünte, Am Harrank
Herr Bünte,(hinter Neubert), Behrenstraße, (vorher in Düsseldorf)
Schneider Könnecke, Am Anger
Heinrich Meier, Hosen u. Jacken, Meierstrasse(später„Auf der Behrn“)
Kurz-und Strickwaren:
Ehepaar Beissner mit Kurzwaren-Vertretung, Behrenstraße (Haus vor Bäckerei Hupe)
Für die Gesundheit gab es:
Zahnarzt Kasten, Behrenstraße
Zahnarzt Böger, Im Obernfeld,(später inder Behrenstraße)
Dr. Thon, (1950-1961), Am Friedhof
Dr. Schmager (als Nachfolger) 1963-1979), Am Friedhof und in der Parkstraße
Dr. Quante (1945-1957), Uchtdorfer Straße, (rechtes Haus vor Bauer Giese)
Tierarzt Dr.Kirchner, Im Obernfeld
Hebamme Frau Brakemeier, Behrenstraße,(bis Anfang 50er-Jahre)
Hebamme Schwester Irmgard Rumpke, Fasanenweg
(Nachfolgerin v.Frau Brakemeier)
Für das leibliche Wohl gab es fünf Gasthäuser:
Gasthaus Vehrling(mit Saal), Mittelstraße
Gasthaus Stock(mit Saal), Mittelstraße
Gasthaus Kretzer, (mit separatem Saal), Mittelstraße,
danach Klausing, später Dieter Tornow
Gasthaus Aldag, Kasseler Straße, Am Exter Bahnhof
Exter Klause (Wirt: Harry Frischmann), Meierstraße
Getränkehandel in späteren Jahren: Otto Wendt, Gallenort
Bekannt über die Grenzen hinaus war:
Luthe-Ladenbau, Behrenstraße
Druckerei Noth, links neben Post-Stock, Mittelstraße, (später in der Behrenstraße)
Süßmosterei Hartinger, Hohenroder Straße, (späterAuf der Behrn,
bekannt als RIHA und Wesergold)
weitere Familienunternehmen:
Stellmacherei Edler, Behrenstraße
Fahrradladen bis 1951-Karl Selbig (gleich neben der Schule am Anger), danach Otto Wendt, der später in die Mittelstrasse zog, gegenüber vom Gasthaus Kretzer
Fahrräder Fa.Tünnermann, Behrenstrasse, später Autohaus
Klempnermeister Herbert Kirstein, Auf der Insel
Elektromeister Karl Focke
Schlossermeister August Fromme, Am Oberen Eisenhammer
Gärtnereien:
Herr und Frau Bünte, Hohenroder Straße
Herr und Frau Kapaun, Rittergut
Totenfrau Frau Düllmann ( Kuhfuss), Am Anger
(wohnte über Schuster Grote)
Ferner gab es zwei Eisenhämmer:
Unterer Eisenhammer - Familie Kretzer
Oberer Eisenhammer – FamilieWille
Mühle:
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Renate Gerda Maschmeier
Bildmaterialien: Renate Gerda Maschmeier
Tag der Veröffentlichung: 22.11.2012
ISBN: 978-3-95500-888-8
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