Cover



MAX




© Reinhard Nolte


---Ein lichter Buchenwald gleicht einer Kathedrale. Die glatten grauen Säulen der Stämme tragen in luftiger Höhe das vom Sonnenlicht durchflutete hellgrüne Gewölbe des Blätterdaches.---
Wer immer das geschrieben hat, war an einem hellen und freundlichen Sommertag unterwegs. An einem späten Oktoberabend, wenn es schon kühl ist und früh dunkel wird, sieht so ein Buchenwald ganz anders aus. Da rücken die Stämme näher zusammen und stellen sich dem müden Wanderer in den Weg.
Hätte ich nur einen einzigen Verdauungsschnaps getrunken und nur mit einem einzigen Bier nachgespült, ich hätte vermutlich den längeren aber gut beleuchteten Weg über die asphaltierte Straße zu meinem Ferienhaus genommen. Aber das frische Fischfilet, in einer zarten Ei-Hülle gebraten, war extrem lecker gewesen, ebenso die knusprigen Bratkartoffeln mit reichlich Räucherspeck und Zwiebeln. So kam es, dass dem ersten Aquavit ein weiterer folgte und noch einer und noch einer. Das Bier in dem gemütlichen Restaurant bei dem keinen Yachthafen war kühl und gut gezapft, und es blieb auch nicht bei nur einem Glas.
Es wurde bereits dunkel, als ich das Restaurant verließ und mich auf den Heimweg zu meinem Ferienhaus machte. Ich wählte den vermeintlich kürzeren Weg. An meiner Backbordseite die Flensburger Förde, an Steuerbord ein Weidezaun, später eine Hecke, dann ein hohes Schilfdickicht und endlich vor mir der schräge, steile Anstieg hinauf zum Geestrand.
Es gab zwar einen Wanderweg durch das Waldstück, aber der war durch einige umgestürzte Bäume unpassierbar geworden. Bei Tageslicht konnte man problemlos drüber hinweg klettern, aber im Dunkeln, war das so gut wie unmöglich. Ich musste mir also den Weg zwischen den Bäumen hindurch suchen. Kein Vollmond leuchtete, aber zwischen den Ästen der Buchen an Backbord schien der Himmel ein wenig heller als die Schwärze an Steuerbord. Ein Fehltritt allerdings wäre fatal gewesen, denn an der Abbruchkante ging es fünfzehn Meter senkrecht abwärts zur Flensburger Förde. Eine Taschenlampe wäre hilfreich gewesen, aber die lag wohlverwahrt im Handschuhfach meines Autos.
„Prrryht!“ etwas Warmes drängte sich kraftvoll gegen meine Wade. Ich ging in die Hocke und fühlte mit vorsichtig tastenden Fingern harte Muskeln unter kurzem Fell, ein zerfleddertes Ohr: Max!
„Prrryht!“
Max war der Kater vom Hansen-Hof.
Die Hansens betrieben keine Landwirtschaft mehr, sondern hatten die Wirtschaftsgebäude ihres Hofes zu Ferienhäusern umgestaltet und überaus liebevoll ausgestattet. Bei ihnen hatte ich mich auch dieses Jahr wieder eingemietet.
Damals, als wir zum ersten Mal, noch als ganze Familie, hier die Herbstferien verbracht hatten, war das ehemalige Backhaus unser Favorit gewesen. Dieses Haus lag direkt an der Abbruchkante zur Förde. Die Terrasse aus dicken Holzbohlen ragte weit über den Abgrund und ruhte auf schräg in den Abhang gerammten Stützten. Auf einem hölzernen Tisch lag, an diesen ersten Nachmittag, lang ausgestreckt, ein gewaltig großer, rot-orange getigerter Kater. Er hieß Max, wie ich kurze Zeit später erfahren sollte.
Max erhob sich träge, reckte und streckte sich ausgiebig und musterte mich aus Bernsteinaugen. Ich hielt ihm meine Hand entgegen, Handrücken nach oben, die Finger leicht gekrümmt und er schnupperte erst, drückte seine Stirn gegen die gekrümmten Finger und rieb sich endlich den Backenbart daran. Dann kam er näher, nickte seine Stirn gegen meine und stupste endlich seine feuchte, kalte Nase auf meine Nasenspitze. Wir mochten uns gegenseitig vom ersten Augenblick an.
Gleich am ersten Abend, wir hatten gerade gegessen, verlangte Max lautstark, eingelassen zu werden. Er marschierte durch die Küche und blieb erwartungsvoll vor dem Kühlschrank sitzen, den Schwanz ordentlich um die Vorderpfoten gelegt. Wir hatten ein Glas Rindswürste mitgebracht und ich holte eine davon aus dem Glas und schnitt sie in kleine Stückchen. Eines dieser Häppchen warf ich Max zu und er fing das Teil geschickt aus der Luft. Wir wiederholten das Spiel bis nichts mehr von dem Würstchen übrig war.
Dann legte Max sich auf das lange Ende der Kücheneckbank, gähnte ausgiebig, streckte sich lang aus und, während meine Frau und mein Sohn es sich im Wintergarten/Wohnzimmer vor dem Fernseher gemütlich gemacht hatten, nahm ich auf dem kurzen Ende der Kücheneckbank mit meinem Buch Platz. Max drückte seine Hinterpfote gegen meinen Oberschenkenkel und schlief. Jedes Mal, wenn ich mir ein neues Bier holte, maunzte er unwillig im Schlaf und sobald ich mich wieder gesetzt hatte, drückte er mir wieder eine Pfote gegen den Oberschenkel. Der Kontakt musste da sein, jedenfalls für Max. Etwa zweieinhalb Stunden später erhob Max sich, gähnte, streckte sich und wollte raus, um seinen nächtlichen Aktivitäten nachzugehen. Ich war mir sicher, dass junge Katzen eine Hauptrolle darin spielten. Dieses Ritual wiederholte sich nun jeden Abend, zwei Wochen lang.
Einige Jahre lang verbrachten wir die Herbstferien auf dem Hansenhof. Wir wohnten in unterschiedlichen Ferienhäusern aber in jedem Jahr war Max, kaum dass er mich entdeckt hatte, mein Begleiter am Abend.
Inzwischen ging unser Sohn eigene Wege, meine Frau wollte lieber zwei Wochen mit einer Freundin in einem Wellness-Hotel verbringen und so kam es, dass ich in diesem Jahr allein an die Flensburger Förde gefahren war. Im Gepäck etliche Bücher und Hörbücher.
Jetzt stand ich also hier in diesem kleinen Buchenwäldchen, wohlig gesättigt aber etwas orientierungslos und lauschte auf die Rufe von Max.
„Prrryyyyht!“
Es klang schon drängender und vorsichtig setzte ich einen Fuß vor den anderen, immer bemüht, mich in die Richtung zu bewegen, aus der Max rief.
„Prrryyyyht!“
Endlich schienen die Bäume weniger dicht zu stehen, der Boden unter meinen Schuhsohlen fester und die Dunkelheit weniger dicht zu sein. In einiger Entfernung konnte ich die Umrisse meines Ferienhauses erkennen. Natürlich hatte ich vergessen, die Außenbeleuchtung einzuschalten.
Max erwartete mich vor der Tür des Ferienhauses und, kaum dass ich die Tür aufgeschlossen hatte, schlüpfte er zwischen meinen Beinen hindurch in die Diele. Ich folgte ihm und machte erst einmal Licht. Max bekam eine Handvoll Trockenfutter auf einer Untertasse serviert, dazu ein Puddingschälchen mit Wasser. Während er sich gierig über das Futter hermachte, ging ich ins Wohnzimmer und machte Feuer im dänischen Kaminofen. Max setzte sich, sobald er alles aufgefuttert hatte, neben mich auf das Sofa, den Schwanz ordentlich um die Vorderpfoten geringelt und gemeinsam betrachteten wir die lodernden Flammen durch die dicke Glasscheibe in der Ofentür. Max war kein Schmusekater, aber hatte es gern, wenn ich ihn zwischen den Ohren kraulte oder im Nacken. Schließlich gähnte er, reckte und streckte sich und legte sich lang. Er schlief nie zusammengerollt wie andere Katzen, sondern immer lang ausgestreckt, eine Pfote gegen meinen Oberschenkel gedrückt. Manchmal zuckte er im Schlaf. Vielleicht träumte er von Luna, der Mondkatze. Einige Male schon hatte ich die Beiden einträchtig nebeneinander zum Pferdestall laufen gesehen.
Die Mondkatze gehörte zu keinem der umliegenden Höfe. Niemand wusste, woher sie kam und wo ihr Unterschlupf war. Mondkatze wurde sie genannt, weil sie stets erst in der Dämmerung auftauchte und ihr hellgraues Fell silbrig glänzte.
Ich musste wohl auch eingeschlafen sein, denn ich erwachte davon, dass Max mit seiner feuchten, kalten Nase gegen meine Wange stupste und laut maunzte. Das Feuer im Ofen war heruntergebrannt und nur vereinzelt leuchtete es noch rot unter der dicken grauen Ascheschicht. Ich öffnete für Max die Haustür und er verschwand lautlos in der Nacht.
Ich ging zu Bett und wusste, am nächsten Morgen würde Max vor meiner Haustür sitzen und auf sein zweites Frühstück warten. Vielleicht säße ja diesmal die Mondkatze neben ihm.

Impressum

Texte: alle Rechte am Text beim Autor
Tag der Veröffentlichung: 19.12.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
für Michaela-Editha, der ich diese Geschichte schon vor langer Zeit versprochen hatte und für die Mondkatze

Nächste Seite
Seite 1 /