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Haare schneiden


Und es begab sich zu der Zeit, da Willy Brandt Bundeskanzler war und Helmut Schmidt Verteidigungsminister, dass ich meinen Wehrdienst ableistete. Meine Eltern hatten mir von der zehnten Klasse bis zum Abitur ständig erklärt, dass, sollte ich auf die vermessene Idee kommen, studieren zu wollen, ich mir doch schon mal Gedanken über die Finanzierung eines solchen Unternehmens machen möge. Mir fiel nichts Dämlicheres ein, als mich für zwei Jahre bei der Bundeswehr zu verpflichten. Eine etwas andere Art der Prostitution. Bei meiner Entlassung waren meine Haare noch militärisch kurz.
Ich begann frohgemut mein Studium der Sprachwissenschaften an der Universität Bremen und ließ die Haare wachsen. Meine Freundin, auf Wunsch eines einzelnen Herrn, tat das Gleiche. Bisher hatte ihre Mutter sie immer zu ihrer Friseurin mitgeschleppt und darauf geachtet, dass ihre Tochter adrett aber auch langweilig auf dem Kopf aussah. Das sollte sich jetzt ändern. Nach meinem ersten Semester bezogen wir gemeinsam eine kleine ein-Zimmer Wohnung. Die Haare wuchsen munter weiter und irgendwann sagte ein Freund zu uns: Ihr seht auf dem Kopf aus, wie ein Bär um die Eier.
Wir gingen gemeinsam zum Friseur. Ein kleiner Damensalon in der Nachbarschaft, der von zwei mittelalten Frauen betrieben wurde. Meine Freundin wollte ihre Naturkrause geglättet haben und die Spitzen sollten geschnitten werden; und ich wollte, dass bei mir etwas Form in den ungehemmten Wildwuchs gebracht wurde. Hinterher fand ich mich zu brav aussehend, jedenfalls für einen Studenten an einer linken Uni, meine Freundin freute sich, dass ihre Haare endlich mal glatt waren, meinte aber, dass diese dumme Pute von Friseurin zu viel abgeschnitten hätte. Wir zählten anschließend unser Geld und stellten fest, dass Kneipenbesuche bis zum Ende des Monats nicht mehr drin waren und wir außerdem unsere Zigaretten selber drehen müssten.
Friseurbesuche waren erst mal aus Kostengründen gestrichen. Die Haare wuchsen weiter. Ich fand das bei meiner Freundin äußerst attraktiv. Ihre dichte braune Mähne wurde wieder lockig als die Naturkrause erneut durchkam aber sie hatte von ihren Eltern zum Geburtstag einen Föhn bekommen, der diverse Aufsätze hatte, mit denen man, also ich, ihr Haar wenigsten zeitweilig glatt föhnen konnte.
Das US-Information-Center betrieb eine Bibliothek, deren Benutzung kostenlos war. Amerikanische Zeitungen und Zeitschriften gab es ebenfalls kostenlos. In einer Ausgabe von "Glamour" fanden wir einen fünfseitigen, reichlich bebilderten Beitrag mit dem Titel: Cut your friend's hair, a pro shows you how. Zuhause machten wir uns frisch ans Werk. In unserem kleinen Haushalt gab es fünf Scheren, wenn man die Tapezierschere mitrechnete. Alle Scheren waren für das, was wir vorhatten denkbar ungeeignet, aber wir waren wild entschlossen, der teuren Friseur-Mafia ein Schnippchen, oder besser ein Schnippelchen, zu schlagen. Wir einigten uns auf die Schneiderschere, die zwar zum Zuschneiden von Stoffen hervorragend geeignet, aber auch schwer und irgendwie unhandlich war. Wenigstens war sie scharf. Zeitungspapier wurde auf dem Fußboden ausgebreitet, ein Stuhl drauf und meine Freundin nahm Platz. Vor sich einen kleinen Klappspiegel, ein Handtuch um die Schultern und die Zeitschrift auf dem Schoß. Ich stellte fest, dass man unsere Schere bauartbedingt nicht so in die Hand nehmen konnte, wie auf dem zweiten Bild dargestellt, machte mich aber trotzdem vorsichtig ans Werk. Lage für Lage ließ ich die hochgesteckten Haare herunter und schnitt so etwa einen Zentimeter ab. Die Clips, die wir zum Hochstecken benutzt hatten waren zu klein, die Schere zu groß und außerdem rutschten die Haare immerzu seitlich zwischen den Klingen weg. Ich gab mir die größte Mühe, aber so richtig zufrieden war ich nicht. Das Ergebnis führte zwar nicht zu Begeisterungsstürmen, war aber auch nicht so niederschmetternd, dass meine Freundin mir nicht noch eine zweite Chance zugestanden hätte. Die Naturkrause verbarg gnädig kleine Fehler und die kaputten Spitzen waren ab.
Ich arbeitete zwei Wochen lang ein paar Stunden täglich in der Poststelle der Uni und kaufte von dem Geld ein "Home Barber Kit": Ein Karton mit einem Kamm, einer handbetrieben Haarschneidemaschine und zwei professionell aussehenden Scheren. Dass eine professionellen Ansprüchen genügende Schere sehr viel teurer ist, erfuhr ich erst, als unsere Scheren langsam stumpf wurden. Vervollständigt wurde der Einkauf mit einem Satz großer Clips mit kräftigen Federn.
Zwei Monate später war es dann mal wieder soweit. Diesmal war ich als erster dran. Meine Freundin warf noch einen Blick in die Zeitschrift und legte los, schnippelte hier, schnippelte da, trat zurück, um ihr Werk kritisch zu betrachten und schnippelte weiter. Das Ergebnis sah leicht schräg aus, eben Home-Made. Dann nahm sie Platz, mit nassen Haaren. Sie meinte, dass ihre Haare früher beim Friseur auch immer nass geschnitten worden wären. Nasse Haare lassen sich länger ziehen als trockene, aber das wusste ich damals noch nicht. Schneidet man im nassen Zustand auch nur ein Bisschen zu viel ab, ist das Ergebnis bei trockenem Haar oft dramatisch, besonders bei Naturlocken. Aber ich ging vorsichtig zu Werk. Die Schere, korrekt nach Anleitung angefasst, ließ sich präzise führen, die Haare rutschten nicht weg, dank Mikro-Zahn-Schliff und ich konnte unauffällig die kleinen Fehler, die ich beim ersten Mal gemacht hatte, korrigieren. Ich hatte ihre nassen Haare stumpf auf eine Länge geschnitten, gerade mal einen knappen Zentimeter abgeschnitten. Trocken geföhnt ergab sich plötzlich, zwar von mir ungewollt, aber gern in Kauf genommen, eine ganz leichte Abstufung an den Enden. Außerdem war es mir gelungen ihre Haare in einem sanft gerundeten Bogen zu schneiden, der sogar schön symmetrisch aussah. Meine Freundin betrachtete sich von allen Seiten mit zwei Spiegeln und diesmal war sie richtig begeistert. Natürlich musste sie ihren neuen Haarschnitt zeigen und wir trugen das eingesparte Geld in die Kneipe.
Seit diesem denkwürdigen Tag in den frühen 70er Jahren bin ich ihr Privatfriseur, bin es bis heute geblieben, und nicht nur ihrer. Später kamen Freundinnen und Bekannte dazu, neue Anleitungen und noch später Tipps und Tricks aus dem Internet.


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Texte: alles bei mir
Tag der Veröffentlichung: 15.10.2010

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