Begegnung
Reinhard Nolte
Ein Traum?
Träume haben ihre eigenen Gesetze
Unvollständige Sätze sind da zugelassen
Wir waren uns nie begegnet, nie im realen Leben, hatten uns nie gesehen, kannten nur unsere Avatare aus dem Internet. Und doch hatte ich dich sofort erkannt. Du fuhrst auf der Rolltreppe des Kaufhauses nach unten, ich fuhr aufwärts. Es dauerte nur wenige Sekunden, fragend, erkennend dich anlächelnd zu winken. Auch in deinem Gesicht Zweifel, Erkennen, Lächeln. Minuten später sah ich dich wieder, du fuhrst auf der Rolltreppe nach oben, ich nach unten.
„Bleib da!“, rief ich dir zu, “ich komme zu dir!“
Dann standen wir uns verlegen gegenüber, umarmten uns zaghaft, ich küsste deine Wange, dein Haar duftete und kitzelte meine Nasenspitze; unsere Lippen fanden sich und Augenblicke später unsere Zungen.
In dem Café, auf dem schmalen Tisch, hatte ich meine Hand auf deine gelegt, bedeckte deinen Ehering, meinen sah man umso deutlicher.
„Ich möchte deine Lippen küssen.“, sagte ich.
„Hast du doch schon.“, erwidertest du. Dein schelmisches Lächeln verriet mir, du hattest genau verstanden, was ich meinte.
„Ich möchte dich schmecken.“, sagtest du und unter dem Tisch legtest du ganz kurz deine Hand in meinen Schoß.
Unschlüssig standen wir vor einem kleinen Hotel. Wir sahen uns an und fühlten uns schäbig. Wir gingen nicht hinein. Hand in Hand schlenderten wir stattdessen durch den Park. Es war viel zu kühl, lange auf einer Bank zu sitzen.
Im Bahnhof stand schon dein Zug, abfahrbereit. Eine letzte feste Umarmung, ein letzter langer Kuss.
„Träum von mir.“, sagtest du und stiegst in den Waggon.
Tag der Veröffentlichung: 25.02.2010
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