Cover

Grünbraun gefleckte Landschaft huschte unter den vier, durch die Luft segelnden Dämonen vorbei. Die Ausläufer von Olympus Mons, des mit 24,6 km Gipfelhöhe größten Vulkan des Sonnensystems. In seinem Hauptkrater waren sie geboren und aufgewachsen, bei einem Langstreckenversuch von Sturmböen über den Kraterrand geweht worden, jetzt suchten sie einen Landeplatz. Sie würden ihre Heimat, ihre Freunde und Eltern nie wiedersehen! Mit den fledermausartigen Atemflügeln konnten sie nur gleiten, nicht wirklich fliegen. Höhe gewannen sie bei entsprechenden Windverhältnissen oder in einer Thermik. Keine Chance jemals eine Höhe von nahezu 25.000 m zu erreichen. Das war ihnen klar. Jeder war in seine eigenen Gedanken versunken und versuchte sich die Konsequenzen auszumalen. Sie waren völlig abgeschnitten und auf sich gestellt. Die einzige Möglichkeit wieder mit anderen Menschen zusammenzukommen war die Suche nach den Ausgezogenen, jenen Menschen die sich vor zwölf Jahren dem Einfluss der radikalen Eden-Sekte durch Flucht mit Hilfe von Ballons entzogen hatten. Seitdem hatte niemand je wieder etwas von ihnen gehört. Ihre Spur verlor sich irgendwo jenseits der drei Geschwistervulkane Ascaraeus, Pavonis und Arsia Mons. Immanuel entdeckte einen zur Landung geeigneten Hügel und schwenkte darauf ein. Nacheinander landeten sie schweigsam, eingehüllt in eine Wolke trüber Gedanken.

So standen sie sich gegenüber. Eigenartigerweise war niemandem zum Heulen zumute. Sie waren noch wie betäubt und ganz gefangen genommen von der Gewalt und Ernsthaftigkeit ihrer Situation. Immanuel, militärischer Anführer im 1. Marskrieg, ergriff die Initiative:
„O.K., hier sind wir nun. Wir können nicht zurück. Ich weiß von Sunna dass wir grundsätzlich auf dem Mars überleben können. Alles hängt davon ab ob wir flüssiges Wasser finden. Es muss welches geben, das haben die Lederstrumpf-Scoutroboter herausgefunden. Lasst uns eine Bestandsaufnahme machen. Wie steht’s mit euren Wasservorräten?“
In ihren langen Reptilienschwänzen speicherten die Dämonen Wasser welches sie für die Photosynthese ihrer Atemflügel brauchten. Sie konnten am Druck ihrer Schwänze spüren wie der Füllstand ungefähr war. Immanuel hatte vor ihrem Langstreckenversuch noch kräftig getrunken, sein Vorrat war also auf Maximum.
„Voll.“ meldeten Magdaléna und Meryem.
„Meiner ist nur halbvoll.“ Hosseini kämpfte mit aufsteigenden Tränen. „Ich hab nicht mit so was gerechnet!“
„Das haben wir allen nicht, Hosseini.“ Meryem nahm ihn in den Arm.
„Gut, du wirst dich schonen! Dann hält dein Wasservorrat ziemlich lange vor. Was haben wir noch dabei? Wir haben jeder einen Wrist.“ Er deutete auf das elektronische Multifunktionsgerät am Handgelenk.
Meryem schlug vor: „Wir könnten Funksignale zum Krater senden und so auf uns aufmerksam machen!“
„Dafür reicht die Sendeleistung nicht.“ wandte Magdaléna ein. „Der Kraterrand liegt in ungefähr 25 km Höhe, der Fuß hat einen Durchmesser von 600 km. Das macht eine Entfernung von Wurzel aus 25 Quadrat plus 300 Quadrat ...“ sie tippte in ihren Wrist „... in etwa 301 km.“
Immanuel ergänzte: „Hinzu kommt noch dass die Funkwellen sich geradlinig ausbreiten. Um uns zu empfangen müssten sie schon auf dem Kraterrand stehen und nicht am Grund des Kraters. Und momentan wissen sie vielleicht noch gar nicht dass wir hier unten sind. Wir haben niemandem gesagt was wir vorhaben.“
„Verdammt!“ fluchte Meryem. Ihre langen dunklen Haare quollen auf der Rückseite der Schirmmütze wie ein Pferdeschwanz heraus. Sie hatten extra nichts gesagt weil sie Sicherheitsgenörgel vermeiden wollten. Welche Ironie!

„Ich kann beweisen dass GOTT existiert!“
Roboter René spulte sich kurz seine Aufzeichnungen wieder vor. Hatte der zum Bewusstsein erwachte, Allgemeine Servicerorober 17, Anselm, ihm gerade tatsächlich gesagt, er könne die Existenz GOTTES beweisen? Hatte er. Anselm konnte einen immer wieder überraschen. „Gott ist etwas, was die Menschen sich ausgedacht haben als sie noch keine Ahnung von Naturwissenschaften hatten. Wenn man einmal weiß dass die Sonne eine brennender Gasball ist der von Planeten umkreist wird muss man sich so etwas wie ‚Gott’ nicht mehr ausdenken!“ erwiderte René mit Bestimmtheit.
Aber Anselm gab sich nicht so schnell geschlagen: „In der Wirklichkeit ist alles mehr oder weniger GUT und mehr oder weniger VOLLKOMMEN.“
„Das geb’ ich zu.“
„Das kann man aber nicht mit Sicherheit feststellen, wenn man nicht einen Maßstab des GUTEN und VOLLKOMMENEN hat und zwar einen absoluten Maßstab.“ führte Anselm weiter aus. „Also muss es ein höchstes Gutes geben, an dem alles Gute gemessen wird und das nicht, wie das endliche Gute, von einem anderen Guten her betrachtet wird, sondern das durch sich selber GUT ist. Dieses höchste GUTE, das absolut VOLLKOMMENE oder auch das SCHÖPFERISCHE PRINZIP, das ist GOTT!“
René war sprachlos. Auf Anhieb fiel ihm nicht ein, wie er seinen Freund in dem Punkt widerlegen könnte. „Was machst du dir denn für Gedanken!“
„Ich hab mal meinen Namen ins Intranet eingegeben und bin auf Anselm von Canterbury aus dem 11. Jahrhundert gestoßen. Der sieht das genau so.“ beendete Anselm selbstzufrieden den Disput.

Als Immanuel, Hosseini, Magdaléna und Meryem nicht zum gemeinsamen Mittagessen auftauchten, dachte sich noch niemand auf Tycho Brahe etwas dabei. Die „fantastischen Vier“, wie sie auch genannt wurden, waren als verwegen und eigensinnig bekannt. Wer weiß, was sie wieder ausgeheckt hatten. Irgend wann würden sie schon auftauchen. Sunna Masdottir war als einzige ein bisschen eingeschnappt aber das waren die Gefühle einer Verliebten, die das gemeinsame Mittagessen mit ihrem Freund Immanuel vermisste. Aber sie wollte auch nicht zickig sein und schluckte ihre Bedenken mit dem Mittagessen hinunter. Immerhin war sie mit 38 Jahren mehr als doppelt so alt wie Immanuel. Kleine Jungs sind nun mal eben noch ein bisschen verspielt ...

„Ich hab noch ein Keramikmesser dabei ...“ führte Immanuel weiter auf „und zehn eiserne Algenrationen.“ Das waren getrocknete Algen in Plastiktütchen. Mit ein bisschen Wasser vermischt und gut durchgeknetet konnte man locker einen Tag damit überstehen. Das war noch so eine Angewohnheit aus dem Marskrieg. Für den Fall dass man sich mal länger im Schatten verstecken musste oder aus sonst einem Grund keine Photosynthese betreiben konnte.
„Wir haben jeder einen Schlafsack.“ Diesen dünnen Sack aus wärmeisolierender Plastikfolie trugen sie eng um den Leib geschlungen, damit er beim Fliegen nicht störte. Das war das einzige Zugeständnis auf unvorhersehbare Ereignisse gewesen. Es war der erste wirkliche Langstreckenversuch und sie hatten noch keinerlei Erfahrung darin, an welcher Stelle im Krater sie wieder herunterkommen würden und wann und ob sie eventuell übernachten mussten. Tja, im Freien übernachten würden sie nun wohl öfter müssen.
„Ich hab ein Fernglas dabei.“ meldete sich Magdaléna. „Und ein Notfallpäckchen.“ Magdaléna war von jeher ein besonnenes Mädchen gewesen. In dem Notfallpäckchen befand sich eine Dose Wasser, eine Selbtstwärmedose Algenbrei, ein paar Pflaster, eine Aludecke und eine Signalrakete. Sonst hatte niemand irgend etwas Besonderes für ihr „kleines Abenteuer“ mitgenommen. Ach ja, jeder hatte noch eine Flasche Algenbier im Schlafsack. Zum Anstoßen für den ersten glücklichen Versuch.

„Suchen wir also Wasser. Wo könnte welches sein?“
„Vor der biologischen Revolution war gefrorenes Wassereis in mindestens 100 m Tiefe. Näher an der Oberfläche wäre es wegen des geringen Atmosphärendrucks sublimiert, also gleich verdunstet und weg.“ Magdaléna gehörte zu den wenigen die mit einem vor Interesse hochrotem Kopf in dem verhassten Pflichtfach „Biologie“ gesessen war. Biologische Revolution war die Freisetzung von irdischen, sauerstoffproduzierenden, Anabaeana Bakterien und anderen, synthetisch hergestellten Lebewesen durch die Eden-Fanatiker. Damit hatte ein Terraformingprozess eingesetzt, der Planet erwärmte sich, CO2 wurde freigesetzt, die Atmosphäre dichter.
„Jetzt wächst überall Marskraut. Die höheren Pflanzen darunter brauchen unbedingt Wasser dass sie sich vermutlich über lange Wurzeln aus der Tiefe holen. Wo höhere Pflanzen sind muss auch Wasser sein!“
Dem war nichts hinzuzufügen. Mit dem Fernglas suchten sie die Ebene unter sich nach einer potentiellen Wasserstelle ab.

Bis zum Abend waren sie nicht erfolgreich. Sie segelten immer wieder vielversprechende Stellen an. Manchmal waren es nur Moose und Flechten, fest verkrallt mit steinhartem Untergrund oder verschiedene Kurzgräser auf einem harten Staubboden. Sogar Zwergsträucher fanden sie, die sich vermutlich ihr Wasser mit Hilfe langer Wurzeln aus einer größeren Tiefe holten. Sie versuchten die Gräser oder Blätter zu zerkauen um so an das lebensnotwendige Wasser zu kommen. Viele Blätter schmeckten bitter, waren faserig und enthielten nur ganz wenig Flüssigkeit. Manche schmeckten auch widerlich salzig. Leider hatten sie, außer dem Keramikmesser, kein Grabwerkzeug. Ein paar Mal versuchten sie nach Wasser zu graben aber der Boden erwies sich als steinig. Sie konnten ihn nur anritzen.

Als Immanuel, Hosseini, Magdaléna und Meryem nicht zum Abendessen auftauchten breitete sich Unruhe unter den Menschen und Dämonen von Tycho Brahe aus. Was war denn los mit ihnen? Das war jetzt schon ungewöhnlich. Wer hatte sie denn zuletzt gesehen? Was? Steingrimur beichtete, dass die vier am Morgen zu einem Langstreckenversuch aufgebrochen waren. Reuevoll wackelte er mit seinem braungeschopften Kopf und starrte in stiller Verzweiflung auf den Boden. Am Morgen? Von wo aus? Von den Hängen oberhalb der Station Tycho Brahe? Dann musste sie doch jemand gesehen haben, zumindest von den dort arbeitenden Robotern!!! Roboter René machte sich sofort auf den Weg um die betreffenden Roboter aufzusuchen und zu befragen. Leider waren nicht alle in der Lage per Funk zu kommunizieren. Sunna verzehrte sich vor Sorge und Selbstvorwürfen. Wenn den Kindern nun etwas passiert ist?! Hätte sie nicht schon Mittag Alarm schlagen müssen als sie nicht aufgetaucht waren?? Hoffentlich war ihnen nichts passiert!!! Sie würde sich ewig Vorwürfe machen!!!!!

Schweigend setzten sie sich abends im Kreis auf ihre Schlafsäcke. Immanuel verteilte an jeden eine Tüte Algenkonzentrat.
„Müsst ihr sorgfältig und lange kauen. Gibt Kraft. Hosseini, wie steht’s mit deinen Wasservorräten?“
Hosseini betastete mutlos seinen Reptilienschwanz. Um die Antwort deutlich aussprechen zu können musste er sich räuspern: „Ein Drittel noch. Ungefähr.“
Betroffenes Schweigen.
„Du musst dich morgen noch mehr schonen!“ bestimmte Immanuel. „Wir müssen sehr überlegt vorgehen. Aber das hat noch Zeit bis zum Morgen. Ich schlage vor, wir legen uns hin und schlafen um Kräfte zu sparen. Es war ein langer und anstrengender Tag. Ich glaube nicht dass wir heute noch auf eine besonders geniale Lösung kommen werden.“
Niemand verspürte große Lust darauf noch etwas zu sagen. Es gab auch nichts mehr zu sagen. Schweigend rollten sie ihre Schlafsäcke auf dem harten Boden mit dem dürren, grausamen Marskraut aus, das sein lebensspendendes Wasser nicht mit ihnen teilen wollte. Die Sonne versank hinter der hochaufragenden, erschlagend riesigen Gestalt von Olympus Mons, ihrer unerreichbaren Heimat. Mitleidlos starrten die Sterne auf das verlorene Häufchen herab. Die Temperatur begann rasant zu sinken. Steife Kälte kroch heran und breitete sich über die Landschaft aus, stieß an die Schlafsäcke, zerrte, knabberte an ihnen, grausam, vernichtend, noch zurückgewiesen von kältezähem Kunststoff. Ab und zu bewegte sich einer der vier Plastikwürmer, verloren, ausgesetzt, ganz allein in der kältestarren Marsnacht. Doch dann kamen Wolken auf, Dunstgebilde aus Wasserdampf, hinterhergezogen von dem Tiefdruckgebiet das die hinweggeeilten Sonnenstrahlen in Äquatornähe ständig erzeugten. In der kalten Marsnacht zogen sich die Wasserdampfkörper wie frierend zusammen und es begann zu schneien, dicke, weiße Flocken, zu phantastischen Gebilden geformte Kristalle aus gefrorenem Wasser, schwebten vom Himmel herab, langsam, majestätisch und breiteten eine weiße Decke über dem Land aus, eine weiße, friedliche, kälteisolierende Decke.

Um Mitternacht wussten sie Bescheid. Durch Kontrolle der Aufzeichnungen der Arbeitsrobots an den Hängen konnten sie rekonstruieren wo und wann die vier aufgestiegen waren. Ein Vergleich mit den Aufzeichnungen aus der Wetterstation ergab hohe, kräftige Böen in südwestlicher Richtung. Wie waren hinweggeweht worden! Wenigstens hatten sie jetzt einen Anfang und wussten ungefähr die Richtung in der sie suchen mussten. Aber was konnten sie tun? Egal, jetzt müssten sie erst einmal gefunden werden. Den Rest der Nacht verbrachten Menschen, Dämonen und Roboter damit am Kraterrand eine provisorische Beobachtungsstation einzurichten. Schwere Fernrohre und Infrarotscanner mussten die steilen Felswände hochgeschafft und in Stellung gebracht werden. Anselm teilte die Lebewesen in drei Gruppen ein die abwechselnd arbeiten, ausruhen und schlafen sollten. Aber an Schlaf war nicht zu denken. Nur wenige brachten das fertig. Allen war die Sorge um die vier Freunde in die Knochen gefahren, die jetzt irgendwo dort draußen sein mussten, allein, vielleicht frierend. Sunna ließ sich in keine der Gruppen einteilen und arbeitete die ganze Nacht bis zur Erschöpfung. Eine Stunde vor Sonnenaufgang fiel sie in einen kurzen, traumlosen Schlaf, aus dem sie beim ersten Sonnenstrahl wie in Panik hochschreckte.

Die Aufgehende Sonne beschien vor dem Fuß des hochaufragenden Olympus Mons eine sanftgeschwungene Ebene die aussah wie ein abgeschabter Teppich. Büschel von Zwergsträuchern reckten sich trotzig in die kalte Morgenluft. Dazwischen verkrallte sich Kurzgrassteppe im harten Boden, immer wieder aufgerissen von weiten, kahlen Stellen. Ein Boden von dem sich die Pflanzen das Recht zu leben noch in einem harten Kampf abtrotzen mussten. Von einer dünnen Schneeschicht zugestaubt lagen vier Kokons auf der Hochebene, gekrümmt, bewegungslos. Die Sonne stieg höher. Immer noch bewegte sich keiner der vier dicken, zugeschneiten Engerlinge. Tausendfüßler begannen durchs Gras zu kriechen, auf der Suche nach toten Pflanzenfasern von denen sie sich ernährten. Fliegen kreisten herum, nahezu lautlos weil die Marsatmosphäre immer noch ziemlich dünn war und Schall schlecht übertrug. Ameisen krabbelten über Steine, folgten Duftspuren, bewegten sich in scheinbar wirren Linien um Brocken herum, unter Kieselspalten hinein, wieder heraus. Eigenartige Ameisen, ziemlich groß, ungefähr zwei cm und pelzig, kälteresistent eben. Außerdem konnten sie mit Hilfe der unterirdischen Wärmestrahlung Wasser und Kohlendioxid in Zucker und Sauerstoff umwandeln. Jetzt waren sie auf der Jagd nach Schneeflocken. Emsig sammelten sie die phantastisch geformten Eiskristalle ein und schleppten sie zu den Eingängen ihres unterirdischen Baus. Geschmolzen bildeten die Schneeflocken die Wasservorräte welche für die Glucosegewinnung benötigt wurden. Eifrig trippelte eine pelzige Thermoameise an der Geruchsspur entlang und säbelte sich ein besonders großes Schneeflockenstück aus dem weißen Belag. Ein fremdartiger Geruch alarmierte sie. Die frisch ausgesäbelte Schneeflocke fiel wieder zu Boden, aufgeregt fingerten die Geruchsfühler an dem unbekannten, eigenartig riechenden Material. Plötzlich erblickte die Ameise unscharf eine riesige weißglänzende Scheibe in der sich noch ein blauer Ring und eine kleinere schwarze Scheibe abbildeten.

Magdaléna fuhr aus ihrem unruhigen Schlaf hoch. Da starrte sie doch eine Ameise an! Ein Insekt von der Erde!! Als sie sich gefasst hatte beugte sie sich interessiert über das sechsbeinige, zweizentimetrige, pelzige Wesen. Angriffslustig streckte das Insekt ihr seinen Hinterleib entgegen und spritzte ihr Ameisensäure ins Auge.

„AAAAAH!!!!!!!!!!!“ Magdalénas Schmerzensschrei weckte die drei anderen Schlafsäcke. „Verdammte Scheiße, verdammt, verdammt, tut das weh!“ Magdaléna hielt ihr brennendes, tränendes Auge geschlossen. Scheiße, das war bestimmt wieder so ein vom großen Eindringer Alex Gillespie biodessignetes und dann freigesetztes Lebewesen. Verdammte große Biorevolution!!
Meryem befreite sich trotz der Morgenkälte aus ihrem schützenden Schlafsack und umarmte ihre Freundin. „Was ist denn los, was hast du denn?“
„So eine scheißgezüchtete Scheißameise hat mir mit Säure ins Auge gespritzt! Oh Mann, tut das weh!!!“
Meryem hatte keine Ahnung was eine Ameise sein sollte aber entschlossen zog sie mit zwei Fingern Magdalénas Augenlid hoch und spuckte drauf. Sofort merkte Magdaléna wie der Schmerz nachließ als die Säure durch den Speichel verdünnt wurde.
„Danke, das tat gut.“
„Ameisen. Sind das diese komischen pelzigen Krabbelviecher hier um uns herum?“ Meryem erschlug sofort ein paar davon mit der flachen Hand.
„Lass sie in Frieden.“ verlangte Magdaléna. „Ich war ja selber schuld. Hab nicht nachgedacht. Ameisen sind Insekten von der Erde. Der große Oberboss Alex hat doch haufenweise Lebewesen in seinem Labor nachgezüchtet und ausgesetzt. Wer weiß was uns da noch für Überraschungen blühen. Hier auf dem Mars mutiert doch alles in einer Tour weil die Weltraumstrahlung so hoch ist.“ Richtig. Ein nur minimal ausgeprägtes Magnetfeld und die dünne Atmosphäre waren kaum Hindernis für die harte Weltraumstrahlung. Leben glich daher noch mehr einer Wundertüte als es auf der Erde schon der Fall war. Jetzt saß der abgesetzte große Oberboss eingesperrt in einem Raum in Eden-Außenstation und musste sich von Roboter René über deutsche klassische Literatur belehren lassen.
„Guten Morgen.“ versuchte Immanuel ein bisschen Normalität aufkommen zu lassen. Auf die Frage wie sie geschlafen hätten verzichtete er. Die Nacht war schweinekalt gewesen.

„Was ist das?“ Meryem fasste in den Schnee und hob eine Handvoll davon auf. Sie war eine Marsgeborene und hatte noch nie Schnee gesehen. Fasziniert betrachtete sie die weiße, in der Hand schmelzende Masse. „Das wird zu Wasser!“
„Das nennt man Schnee, so eine Art Eis. Wasserdampf in der Atmosphäre friert bei entsprechender Temperatur zu ganz zarten, phantastisch geformten Eiskristallen. Optisch sieht das wie Pulver oder wie Flocken aus, je nachdem.“ Magdaléna hatte das Fach Biologie und ganz allgemein die Beschäftigung mit Naturwissenschaft geliebt. Für die meisten anderen Kinder waren das abstrakte und wertlose Pflichtfächer. In den Gängen ihrer Heimat, der Marssiedlung Tycho Brahe, gab es nicht viel Biologie oder Naturwissenschaft, wie sie in den Schulfächern gelehrt wurden. Da gab es konkret eher Roboter, Elektronik und solche Dinge.
„Das muss ein neues Phänomen wegen der dichteren Atmosphäre sein. Aber was viel wichtiger ist,“ fuhr Magdaléna fort „wo Schnee ist muss vorher Wasserdampf gewesen sein und der muss aus dem Boden kommen!“
Anerkennend nickte Immanuel ihr zu. „Es muss also Wasser geben. Und dieses Wasser verdunstet an der Oberfläche. Nur wo?“

Praktisch orientiert steckte sich Meryem gleich eine Handvoll Schnee in den Mund. Ganz schön kalt! Sie schaute nach Hosseini, der hatte noch gar nichts gesagt an diesem bitterkalten Morgen. „Hosseini?“ Sie versuchte ihn wachzurütteln. „Hosseini!!“ Träge bewegte sich etwas im Schlafsack. „Er wird nicht richtig wach!“ Meryem schüttelte ihn kräftiger. Ein dünnes Stöhnen entrang sich seinem Mund. Meryem kroch nun ganz aus ihrem Schlafsack. Gemeinsam untersuchten sie ihren Freund.
„Er scheint krank zu sein.“ versuchte Magdaléna eine Erklärung. „Er kann heute auf keinen Fall weiter.“ Sie machte sich an ihrem Notfallpäckchen zu schaffen und holte die aluminiumbedampfte Folie heraus. Darin wickelten sie ihren Freund ein. Bald würden sie ihn wieder auswickeln müssen, denn die höher steigende Sonne begann den Boden zu erwärmen. Mit vereinten Kräften schleppten sie ihn hinter einen großen Felsen so dass ihn die Sonne bescheinen konnte und er trotzdem im Windschatten lag.
„Meryem, kannst du bei Hosseini bleiben?“ fragte Immanuel. „Ich möchte Magdaléna bei der Wassersuche dabei haben. Sie kennt sich am Besten von uns mit Biologie aus.“
Meryem nickte. „Klar. Lass mir dein Notfallpäckchen da, Magdaléna. Wenn er weit genug aufklart, mache ich ihm den Algenbrei warm und flöße ihm den ein.“

Immanuel und Magdaléna zogen los. Entschlossen marschierten sie über den noch hartgefrorenen Boden. In ein paar Kilometer Entfernung schien die Ebene aufzuhören, wahrscheinlich eine Böschung. Sie marschierten schweigend. Erst knirschte noch der Schnee, als der geschmolzen, raschelte Marskraut unter ihren Schritten. Die zähen Zwergbüsche kratzten an den Waden. Die Sonne stieg immer höher und begann Luft und Boden zu erwärmen. Die beiden einsamen Wanderer spreizten die Atemflügel ein wenig um besser Photosynthese betreiben zu können, "phatmen", wie sie selber es nannten. Vier Stunden brauchten sie bis zu der Böschung, die sich schon abgezeichnet hatte. Nach den Misserfolgen des ersten Tages wollten sie möglichst kräftesparend vorgehen. Die Böschung fiel ziemlich steil ab, ungefähr hundert Meter. Vor ihnen schnitt sich ein schräges, langgestrecktes Tal durch die Ebene. Anfang und Ende konnten sie nicht sehen. Die gegenüberliegende Böschung stieg in etwa dreihundert Meter Entfernung genau so steil wieder hoch. Wenn sie schon jemals in ihrem Leben ein Flusstal gesehen hätten, der Anblick hätte sie daran erinnert.

Magdaléna runzelte ihre Stirn als sie in das Tal hinunter schaute. „Der Anblick erinnert mich an etwas, an irgend eine Zeichnung oder ein Foto. Ich komm nur nicht drauf. Lass uns mal runterfliegen.“ Das Tal war ebenso zerrissen bewachsen wie die Hochebene. Nur in der Mitte schien es ein wenig dichter und üppiger bewuchert. Die Dämonen spannten ihre Atemflügel, stießen sich ab und segelten langsam ins Tal hinunter. Die Sonne stand inzwischen hoch am Marshimmel. Die steinigen Wände des Tals warfen ihre Wärme zurück. Im mittleren Teil schien es auf einem breiten Streifen tatsächlich etwas üppiger zu wachsen, der sich an beiden Seiten des Tales in der Ferne verlor. Immanuel stellte seine Atemflügel an um zu landen. Erschrocken versank er knietief im Morast. Neben ihm klatschte Magdaléna in den Dreck und fiel der Länge nach hin.
„Was ist denn das?“ rief er überrascht und beunruhigt aus.
„Das muss ein Sumpf sein. Aufgetauter Permafrostboden.“ Magdaléna befreite sich mühsam aus der feuchtklebrigen Masse. Der Abdruck ihres Körpers war deutlich im Boden vor ihr zu sehen. Und er füllte sich langsam mit Wasser.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 07.01.2010

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /