Cover

37 Kinder können eine Dynamik entwickeln wie ein reißender Gebirgsbach im Frühjahr. Nach dem Immanuel entdeckt hatte, dass man in der dichter gewordenen CO2 Atmosphäre mit den Atemflügeln tatsächlich auch fliegen kann, zumindest bei Wind, gab es kein Halten mehr. Natürlich stürzten sie auch reihenweise ab, so wie Kinder eben auch nicht sofort Fahrradfahren können. Deshalb fanden die ersten Übungen unter strenger Aufsicht des bewusst gewordenen Serviceroboters Anselm von kleinen Hügeln aus statt. Anselm entwickelte sich zu einer richtigen Glucke. Er sah auch ein bisschen wie eine aus, wenn er mit seiner halbrunden Gestalt zeternd, mit Greifarmen und Staubsaugerschlauch herumfuchtelnd, besorgt die jungen Dämonen umkreiste.
„Vooorsicht!! Pass doch auf!! Wie oft hab ich dir gesagt ... !! Da brauchst du jetzt gar nicht heulen ... !! Komm her, ich sprüh dir ein Pflaster drauf! Niiiiiicht so hoch, das ist viel zu gefährlich!!!!“

Aber wie Kinder nun mal sind, es gab natürlich auch höhere Hügel die nicht unter der Aufsicht von Anselm standen. Und die Kinder hatten in Immanuel natürlich ein draufgängerisches Beispiel. Immanuel war zwar auch erst 14 Jahre alt aber er hatte im 1. Marskrieg gekämpft und sich zu einem militärischen Anführer entwickelt. Wer wollte ihm erzählen von welchem Hügel er abfliegen durfte? Und wie erklärte man den anderen, gleichaltrigen Dämonen dass sie aber nur von Idiotenhügeln springen dürfen? Schwierig, schwierig und auch nicht einsichtig. Zumindest nicht für die drei verwegensten unter ihnen, Hosseini Khaled, Magdaléna Platzová und Meryem Livaneli. Alle drei Marsgeborene, stammten ihre Eltern aus Afghanistan, Tschechien und der Türkei. Zusammen mit Immanuel bildeten sie bald ein unzertrennliches Kleeblatt. Sie verbrachten ihre Freizeit auf den umliegenden Kraterwällen mit Fliegen. Die beiden Mädchen, Magdaléna und Meryem übertrafen die Jungs fast noch an Tollkühnheit, wenn es darum ging immer halsbrecherischere Flugfiguren einzuüben. Natürlich steigerte sich Anselms Gezeter ins Unermessliche als sie die anderen Flugschüler überflogen wie hungrige Habichte. Deshalb zogen sie sich allmählich weiter und weiter in entferntere, einsamere Regionen zurück.

„Man müsste mal eine richtig lange Tour machen.“ träumte Hosseini, auf dem Rücken liegend.
„Genau!“ stimmte Magdaléna zu. „Wenn mal richtig Wind ist, ordentlich hoch steigen und dann sehen wie weit man kommt.“
Meryem überlegte sich gleich die praktischen Details: „Was glaubt ihr, wie lange kann man wohl maximal in der Luft bleiben und wie weit damit kommen?“
Jetzt fühlte Immanuel sich gefragt, immerhin hatte er die Flugfähigkeit entdeckt und war der erfahrenste Flieger unter ihnen. Allerdings umfasste sein Mehr an Erfahrung nur wenige Monate. „Also ich schätze ein paar Stunden müsste man schon in der Luft bleiben können.“
Meryem rechnete angestrengt. Dabei zog sie ihre Nase kraus was sehr süß aussah.
„Unser Krater hat ungefähr 70 km im Durchmesser. Tycho Brahe und Eden-Außenstation sind fast an entgegengesetzten Enden. Ob es wohl möglich ist, bei entsprechendem Aufwind von einem Ende zum anderen zu fliegen?“
„Oder gleich über den Kraterrand hinaus! Olympus Mons ist 25.000 m hoch. Was meint ihr wie weit und wie lang wir da fliegen können!“ Hosseini träumte immer noch.
„Das Problem ist nur“ blieb Magdaléna realistisch „dass wir zwar 25.000 m runtersegeln können, aber nicht wieder aufsteigen. Es gibt einfach keine Thermik, die einen 25.000 m aufsteigen lässt. Wenn wir erst mal unten sind werden wir unten bleiben müssen. Für immer!“
„Wie mag es dort unten wohl sein?“
„Da unten müssen irgendwo auch die Ausgezogenen sein.“
Alle Kinder kannten die Geschichte. Als die ältesten unter ihnen zwei Jahre alt waren, im Jahre 2069, waren diejenigen Menschen, die sich nicht den religiösen Vorschriften der „Neuen Menschen“ unterwerfen wollten mit fünf Ballonen abgeflogen. Von ihnen hatte man nie wieder etwas gehört. Irgendwo da draußen waren sie möglicherweise gelandet und hatten eine eigene Ansiedlung gegründet.
„Können wir dort draußen eigentlich überleben? Ich meine, wir sind marsangepasst. Der fehlende Sauerstoff und die Kälte machen uns nichts aus. Aber können wir tatsächlich monatelang ohne Nachschub von irgendwas auf dem Mars existieren?“ fragte Magdaléna in die Runde. Alle blickten auf Immanuel.
„Hmm, keine Ahnung!“ musste der zugeben. „Da muss ich heute abend mal Sunna fragen.“

Sunna Masdottir war im Jahre 2046 geboren. Als die 2. Marsexpedition im Jahre 2062 von der Erde startete, war sie gerade mal 18 Jahre alt. Hyperintelligent, Schuljahre im Laufschritt überspringend, später Elitestudentin aus Eton in Biologie und Geologie. Wäre sie damals nicht die Geliebte des weltberühmten Professors Manuel Lustiger gewesen, hätte man sie wegen ihrer Jugend vermutlich gar nicht mitfliegen lassen. So aber war das natürlich kein unüberwindliches Problem. Sunna war, wie Lustiger, zunächst Anhängerin der radikalen, naturreligiösen Eden-Sekte gewesen die den Mars durch Terraforming in eine neue Erde verwandeln wollten. Sie hatte ihre Meinung jedoch geändert, als sie am eigenen Leib erfahren musste wie verantwortungslos die biologischen Experimente der Sekte waren. Lebende Organismen entwickeln sich eben nach ihren eigenen, nicht unbedingt berechenbaren, Gesetzen. Und so waren die ersten gezüchteten Bakterien mutiert und hatten sich mit der Haut der Wissenschaftler verbunden. Ein erster, ungeplanter Schritt in Richtung marsangepasste Symbionten. Manuel Lustiger war von fanatischen Eden-Anhängern oder Neuen Menschen, wie sie sich selbst nannten, erschlagen worden. 2081, im Alter von 38 Jahren, hatte Sunna Masdottir sich in den dynamischen und leidenschaftlichen und vierzehnjährigen Immanuel Crouch verliebt. Im Nachkriegschaos auf Tycho Brahe hatte niemand die Muße um daran Anstoß zu nehmen.

„Sag mal Sunna,“ nahm Immanuel das Thema vom Nachmittag wieder auf, als sie abgekämpft und glücklich abends aneinandergekuschelt lagen. „könnten wir als Dämonen eigentlich längere Zeit auf dem Mars im Freien überleben? Ich meine, könnten wir uns beispielsweise zu Fuß auf die Suche nach den Ausgezogenen machen?“
Sunna hob überrascht ihren Kopf. „Du willst die Ausgezogenen suchen gehen?“
„Nein, nicht wirklich.“ beruhigte Immanuel sie. „Das ist nur ein Gedankenexperiment. Da sind wir heute Nachmittag beim Fliegen drauf gekommen.“
Sunna überlegte. „Also eigentlich müsste es gehen. Das Einzige was wir zusätzlich aufnehmen müssen damit die Photosynthese funktioniert ist Wasser. Das Überleben hängt also davon ab ob irgendwelche Wasservorkommen zu finden sind. Und davon gibt es sogar nicht wenige, wie die Lederstrumpf Scoutroboter herausgefunden haben bevor die Ausgezogenen alle mitgenommen haben. Das Wasser ist allerdings in der Regel gefroren. Aber wer weiß? In den letzten Jahren ist der Mars immer grüner und wärmer geworden, vielleicht ist das Wasser am Tag sogar manchmal schon flüssig!“
„Dann wäre es also prinzipiell möglich.“ Immanuel verschränkte die Arme hinter dem Kopf und stellte sich vor wie es wäre, wochenlang in unbekannten Gegenden herumzumarschieren und aufregende Entdeckungen zu machen. Seine Abenteuerlust erwachte.

„Ich glaub ich hab GEFÜHLE, René!“
„Was sagst du da, Anselm?“
„In mir gehen Dinge vor, die ich nicht exakt beschreiben kann.“
Anselms Doppellinsen schienen sich nach innen zu kehren.
„Zum Beispiel mit den Kindern. Ich MAG sie.“
„Ja also ich, äh, mag sie auch?!“
René war verwirrt. Er checkte die Datenbasis, ob Axiome und Grundüberlegungen diese Aussage über sich selbst in ihrer Totalität rechtfertigten. Er war sich nicht sicher.
„Und dann Elli. Als ich sie endlich gefunden hatte und als ich sah wie sie von diesen ...“
alle Greifarme und der Staubsaugerschlauch des Allgemeinen Serviceroboters AS-17, der von den Kindern den Namen Anselm bekommen hatte, zogen sich zusammen bevor ein, mit einem bedrohlichen Vibrato unterfütterter Ausdruck sein Sprechorgan verließ ...
„... ARSCHLÖCHERN ...“
„Anselm!“
René hätte überrascht die Augenbrauen gehoben, wenn er welche gehabt hätte.
„... misshandelt wurde – da war mir so, da wurde mir so ...“
Anselm suchte nach Worten. Schließlich richteten sich seine Doppellinsen fest auf den Roboter René:
„Sie tat mir so LEID! Ich hab ihr mit dem Staubsauerschlauch über den Kopf gestreichelt!“
„Nun ...“
Entgegnete René
„... es war eine richtige Entscheidung einem Mädchen, das misshandelt wird, über den Kopf zu streicheln denn das vermittelt ihr Sicherheit und ist geeignet einer Traumatisierung vorzubeugen ...“
„Aber ich habe es mir nicht AUSGERECHNET!“
Fiel Anselm René ein wenig empört ins Wort.
„Ich hab das ganz spontan gemacht! Ich hatte das BEDÜRFNIS das zu tun!!“
Eine kleine Weile herrschte Stille zwischen den beiden, zum Bewusstsein erwachten, Robotern.
„Du kannst keine Bedürfnisse haben weil du eine Maschine bist.“
schlussfolgerte René.
„Eben das macht mir ja solche SORGEN!“
„Du kannst dir keine Sorgen machen weil du eine Maschine bist.“
„Das sagtest du bereits.“
René dachte nach.
„Täuscht du dich auch nicht?“
„Ich kann mich nicht täuschen weil ich eine Maschine bin.“
„Du kannst aber Daten falsch interpretieren!“
„Du bist ein richtiger Klugscheißer!!!“
Jetzt war René wirklich verblüfft.
„Darf ich deine Backupdateien scannen?“
fragte er höflich.
„Ja, mach schon du blöder Besserwisser.“
René scannte Anselms Backup. Tatsächlich. Er hatte die Daten nicht falsch interpretiert. Anselm hatte BEDÜRFNISSE und er machte sich SORGEN. Hatte er tatsächlich GEFÜHLE entwickelt?
„Ich habe dein Backup gescannt und komme zu den gleichen Ergebnissen. Es ist sehr unwahrscheinlich dass wir beide die Daten falsch interpretieren. Wir könnten vielleicht noch einen dritten Computer befragen um ausschließen zu können dass wir beide vielleicht den selben Fehler bei der Dateninterpretation gemacht haben könnten ...“
„René!!!! Wir interpretieren die Daten nicht falsch, ich WEISS es!!!!!!“
Stille.
„Wenn wir die Daten nicht falsch interpretieren und wenn du tatsächlich Gefühle hast – bist du dann noch eine Maschine?“
„Gute Frage. Und – äh – René, dich mag ich auch. Sehr sogar.“
Damit konnte Roboter René nun überhaupt nicht umgehen.

Die vier Freunde machten sich auf zu einem Langstreckenversuch. Heimlich, natürlich. Es gab ja immer noch so viele Bedenkenträger die wieder alle möglichen Einwände gehabt hätten, das geht doch nicht weil, das ist viel zu gefährlich, und schon gar nicht in eurem Alter, bla bla bla. Auf gewundenen Pfaden kletterten sie den Kraterrand nahe Tycho Brahe hinauf um nicht gesehen zu werden. Es war nicht nötig die Elektrosinne einzusetzen um herumwerkelnden Robotern auszuweichen. In der Umgebung arbeiteten ausschließlich dumme Roboter die sich nur für ihre Aufgabe interessierten. Sie hätten sich ihnen sogar in den Weg stellen können und es wäre nicht mehr passiert, als dass sie eben um sie herumgefahren wären. Dumme, stupide, unermüdliche, gänzlich brave, einfallslose Roboter. Auf dem Kraterrand angekommen, verschnauften sie erst mal eine Weile und genossen den großartigen Anblick in die Ebene der Tharsis-Region. Bis zum Horizont erstreckte sich eine hügelige, grünbraun gefleckte, Schotterebene, an deren Ende sich drei andere Vulkane erhoben. Ascaraeus, Pavonis und Arsia Mons, ungefähr 1.500 Kilometer entfernt. Andächtig betrachteten sie die hoch aufragenden, stumpfen Kegel. Was mochte es alles für Geheimnisse geben, jenseits ihres vertrauten Kraters, in dem sie geboren und aufgewachsen waren? Was würde sie wohl erwarten, wenn sie einmal wirklich eine Expedition starteten, eine Expedition auf der Suche nach den Ausgezogenen Menschen? Ob sie noch lebten? Wie sie wohl lebten?

Egal. Schließlich waren sie zum Fliegen hier. Der Wind frischte auf, es herrschten optimale Bedingungen. Immanuel sprang als erster ab, gefolgt von seinen Freunden. Mal sehen, wie weit sie heute kommen würden. Immanuel spreizte die Flügel zur maximalen Spannweite auf und fing den Sturz zu einem sanften Abwärtsschwung ab. Jetzt drehte er in den Wind und gewann sofort an Höhe. Ein berauschendes Gefühl. Ein kurzes Einschalten seines Infrarotsinnes zeigte ihm an, dass Hosseini, Magdaléna und Meryem ihm folgten. Die Sonne stieg immer steiler auf und erwärmte die Felsflanke links vor ihnen. Da müsste eigentlich eine schöne Thermik entstehen! Immanuel drehte ab und versuchte in die vermutete Thermik zu gelangen. Nach ein paar Minuten merkte er dass er richtig kombiniert hatte. Wieder begann er zu steigen. Die anderen hatten natürlich sofort gemerkt was er vorhatte und es ihm gleichgetan. Sie begannen zu kreisen. Wie riesige Vögel schraubten sie sich in weiten Spiralen immer höher und höher. Eine super Thermik! Sensationell!! Wenn das so weiterging würden sie vielleicht tatsächlich bis Eden-Außenstation kommen. Da würden sie aber Augen machen! Immer weiter stiegen sie in dem Fahrstuhl aus warmem Gas aufwärts. So hoch waren sie noch nie gestiegen, einfach traumhaft. Die Kuppeln und Anlagen und Sonnengärten von Tycho Brahe wurden immer kleiner, spielzeughafter, unwirklicher. Jetzt konnten sie den ganzen Vulkankrater von oben überblicken. Die Luft begann unruhig zu werden. Schade, die Thermik war wohl an ihrem oberen Ende angekommen. Jetzt mussten sie nur noch schauen dass sie einen sauberen flachen Sinkflug hinbekamen. Eine jähe Bö packte Immanuel und wirbelte ihn um seine eigene Achse. Verdammt! Wo kam denn nur diese starke Bö her? Die Temperatur sank schlagartig. Eisiger Schreck durchzuckte Immanuel! Sein Infrarotsinn sagte ihm dass es den anderen genau so erging. Alle vier kämpften sie jetzt mit unberechenbaren und starken Winden. Immanuel merkte wie seine Hände begannen einzufrieren. Er schlang sie eng um den Körper und stellte die Flügel an um weniger Angriffsfläche zu bieten. Aber es war, als ob der Wind das als Provokation auffasste. Was, sie wollen sich meiner Macht entziehen? Sie kennen meine ganze Macht noch gar nicht!! Die Wut der Böen steigerte sich zur Raserei! Immanuel und seine Freunde wirbelten hilflos herum wie Laub im Herbststurm. Die Körper wurden eisig und steif. Mit dem Mut der Verzweiflung versuchten sie zu verhindern dass der Sturm ihnen die Flügel zerbrach oder umstülpte wie Regenschirme. Immanuel hatte sich so oft in der Luft überschlagen dass er völlig die Orientierung verloren hatte. Mit letzter Anstrengung legte er die Flügel eng an den Leib und versuchte in ruhigere Luftmassen herabzustürzen. Rasend schnell fiel er auf zackige Felsspalten zu. Unmittelbar vor dem Aufschlag spannte er die Flügel wieder auf die schmerzhaft an seinem Brustkorb zerrten als ob sie ihn auseinanderreißen wollten. Knapp über den scharfen Felszacken schaffte er es sich abzufangen und in einen flachen Sinkflug zu kommen. Entsetzt starrte er auf den Fuß von Olympus Mons der in rasender Geschwindigkeit unter ihm hinwegschoss. Die Sturmböen hatten ihn nach AUSSEN gerissen! Alle vier befanden sie sich außerhalb ihres vertrauten Kraters und bereits so tief dass sie keine Chance mehr hatten je wieder heimzukommen! Check Infrarot: Drei Feststellungen. Gottseidank. Wenigstens war keiner der Freunde abgestürzt. Schweigsam segelten sie nebeneinander, nach einem geeigneten Landeplatz Ausschau haltend.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 29.12.2009

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /