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Der große Versammlungsdom war in den letzten Jahren immer mehr erweitert worden. Schließlich sollte das ganze Volk von Tycho Brahe darin Platz haben und das waren immerhin 27 Erwachsene und 58 Kinder. Vor dem Krieg den die sogenannten „Neuen Menschen“ von Tycho Brahe gegen die Dämonen vom Zaun brachen und bei dem fünf Erwachsene in die Luft gesprengt wurden. Diesem Krieg machten schließlich die Kinder ein Ende, angeführt vom Serviceroboter AS 17 oder Anselm, wie die Kinder ihren elektronischen Freund nannten der zum Bewusstsein erwachte als Elli Anzengruber ihm ein subversives Aufklärungsprogramm aufspielte. Elli Anzengruber war die Halbschwester von Immanuel Crouch, einem Sohn des religiösen Anführers Alex Gillespie der jedoch mit dieser Sekte brach und zu den Dämonen überlief.

Im Versammlungsdom herrschte gespannte Ruhe. Keinesfalls Stille! Unterdrücktes Gemurmel und Geraschel tropfte von den kuppelartigen Wänden und vermittelte die Atmosphäre einer großen Kirche, kurz bevor die Orgel den Auftritt des Pfarrers ankündigte. Die Kinder drängten sich ein wenig scheu um ihren halbkugeligen Freund, den Serviceroboter Anselm. Sie waren auch ein bisschen verunsichert über ihren Sieg. Eigentlich waren sie selbst überrascht wie schnell und durchschlagend sie sich durchgesetzt hatten. Die Erwachsenen hatten Elli Anzengruber gefangengenommen und geschlagen. Das hatte die Kinder dermaßen empört dass sie, von Anselm mit Blasrohren und LSD-Pfeilen ausgestattet, die Erwachsenen in einer Art wildem „Sturm auf die Bastille“ überrannt hatten. Jetzt ergriff sie ein bisschen die Furcht vor der eigenen Courage. Wie sollte es jetzt eigentlich weitergehen, ohne die Erwachsenen, ihren Eltern? Vorsorglich waren diese in verschiedene Räume weggesperrt worden. Jetzt erwarteten sie die Delegation der, vormals verfeindeten, unheimlichen, Dämonen von Eden-Außenstation. Roboter Anselm drehte seinen schwarzen Tentakel mit den Doppellinsen in Richtung Eingang als von dort Geräusche zu hören waren. Sie kommen! Im Versammlungsdom wurde es ganz still. Keines der Kinder machte auch nur einen Mucks. Anselm strich mit seinem Staubsaugerschlauch beruhigend über ein paar Köpfe um ihn herum.

Gemessenen Schrittes betraten die sechs Dämonen den Raum. Sie glichen nur noch entfernt menschlichen Wesen, obwohl sie Menschen waren. Marsangepasste Symbionten zwar aber doch Menschen. Fremdartig sahen sie aus, mit ihrer grünen, derben Haut und mit den fledermausartigen Atemflügeln. Auch der humanoide Roboter René betrat den Raum. Anselm reckte seine Doppellinsen misstrauisch zitternd in die Höhe. Die Dämonen und René stellten sich an der gegenüberliegenden Wand auf und betrachteten, interessiert, stumm, misstrauisch, die rebellische Kinderschar. Ihre Heimat, Eden-Außenstation, war von Tycho Brahe aus mit Elektrokatapulten und Brandsätzen angegriffen und in großen Teilen zerstört worden. Was war los mit den Kindern dieser Menschen? Konnte man ihnen trauen? Waren Kinder nicht ziemlich wankelmütig mit ihren Ansichten und formbar? Was hatten die Eden-Fanatiker in die Köpfen der Kinder gepflanzt, was früher oder später wachsen und aufblühen müsste und womöglich giftige Früchte tragen?

Die beiden Gruppen belauerten sich, vorsichtig, lauernd, alle Sinne angespannt. Bis sich Elli Anzengruber aus dem Kinderhaufen löste, mit immer noch zerschlagenem Gesicht und ausgestreckten Armen auf ihren Halbbruder den Dämon Immanuel zulief, der sich aus der Gruppe der Dämonen löste und sie sich schließlich im „Niemandsland“ zwischen den Gruppen in den Armen lagen. Spontan begannen Kinder wie Dämonen zu klatschen. Das Eis war gebrochen.

Nicht lange und die beiden „Lager“ standen bunt gemischt durcheinander wie auf einem Kindergeburtstag. Geduldig beantworteten die Dämonen all die vielen Kinderfragen: „Was sind denn das für Flügel? Könnt ihr damit fliegen? Wieso schaut ihr so komisch aus? Was ist denn das für eine Haut? Warum seid ihr überhaupt grün? Wieso braucht ihr keinen Schutzanzug im Freien? Habt ihr wirklich die Erde zerstört?“ usw. Offenheit erzeugt Vertrauen. Nach ein paar Stunden war der Umgang miteinander so vertraut geworden, als ob sie gemeinsam aufgewachsen wären. Auf einmal wurde es interessant zum Dämon zu werden! Immer mehr Kinder erwärmten sich dafür. Sunna Masdottir, die schon Immanuels Verwandlung begleitet hatte, sprach ein Machtwort:

„Dass müsst ihr euch sehr genau überlegen. Wenn ihr diesen Weg eingeschlagen habt, gibt es kein Zurück mehr!“
„Wir wollen aber auch Dämonen werden!!!“
„Immanuel ist auch Dämon geworden!“
„Wieso darf er und wir nicht?“
schlug ihr vielstimmiger Protest entgegen. Sunna sah hilflos zu Immanuel hinüber. Sollte er doch was sagen. Aber Immanuel sonnte sich in seiner neuen Popularität. Als Kind unter den Kindern von Tycho Brahe war er einsam gewesen, gemieden, hatte nur Roboter René und seine Halbschwester Elli als Freunde. Jetzt war er ein bewunderter Kriegsheld und exotischer Dämon.

„Ja warum sollen sie eigentlich nicht dürfen? Ich finde es Super Dämon zu sein. Und wisst ihr was? Mit den Atemflügeln kann man tatsächlich fliegen, man braucht nur ein bisschen Wind dazu!“

Sunna verschlug es die Sprache.
„Immanuel! Wie kannst du den Kindern so einen Scheiß erzählen!“
„Das ist kein Scheiß! Dämon sein ist Super!!“

Bei seinem Angriff auf die Elektrokatapulte war Immanuel aufgefallen, dass er mit seinen Atemflügeln einen Gleitflug hinbrachte. Gut, er hatte das Nervengift ACE genommen gehabt was seine Nervengeschwindigkeit und damit auch die Geschwindigkeit seiner Bewegungen verdoppelte. Außerdem wurde die Marsatmosphäre immer dichter, seit sich die sauerstoffproduzierenden, grünen Anabaeana Bakterien überall auf dem Mars verbreiteten. Die Polkappen aus gefrorenem Kohlendioxid färbten sich grün, saugten Sonnenwärme auf, CO2 gaste aus und entwich in die Atmosphäre. Immanuel hatte herausgefunden dass er, mit nur ein bisschen Wind, auch schon mal vom Boden abheben konnte.

Bei nächster Gelegenheit führte er das den anderen Kids vor. Er stieg bei mittelstarkem Wind auf den Kraterrand und warf sich in die Luft. Eigentlich ein bisschen halsbrecherisch, aber Immanuel hatte über seine Kriegsabenteuer eine gewisse Verwegenheit entwickelt. Stolz spreizte er seine Flügel. Durch Gewichtsverlagerung mit dem langen Reptilienschwanz brachte er Spiralen zustande. Bald merkte er, dass er Aufwinde ausnutzen konnte um an Höhe zu gewinnen. Die Vorführung dauerte eine gute Viertelstunde. Danach gab es kein Halten mehr. Der Großteil der Kinder wollte unbedingt Dämon werden. Hartnäckig verhandelten sie wochenlang mit Sunna bis sie schließlich nachgab. Sie stand allein mit ihren Bedenken. Sogar Roboter René kam wieder mit seiner Theorie von der, 100 Jahre alten, Punk Jugendbewegung daher und dass die Jugendlichen sich damals auch alle ungewöhnlich kleideten und befremdliche Frisuren trugen. Dabei kannte René die ganze Punkbewegung nur aus dem Internet! Und überhaupt. Was mischte sich der verdammte Roboter eigentlich da ein?!

„O. K. Ihr sollt euren Willen haben.“
resignierte sie.
„Aber wehe einer beschwert sich in einem halben Jahr bei mir!“

Die Begeisterung der Kinder war unbeschreiblich. Aber, als es ernst wurde, wollten sich doch nicht mehr alle verwandeln. 37 Kinder waren es schließlich, die sich mit Anabaeana-Gel einschmierten und die dreimonatige, zum Teil ziemlich unangenehme, Verwandlungsprozedur über sich ergehen ließen. Elli Anzengruber war nicht dabei.

Mabel Crouch tobte fürchterlich als sie aus ihrem Drogenschlaf aufwachte und bemerkte, dass die Tür sich nicht öffnen ließ. Sowie sie wieder ihrer Stimme mächtig war, begann sie zu schimpfen und grässlich zu fluchen. Sie warf sich gegen die Tür und raufte sich die Haare. Ein Strom farbiger und ausdrucksstarker Begriffe aus Tier- und Intimbereich, kombiniert mit Worten die den Wesen von Eden-Außenstation zuzuordnen waren quollen aus ihrem Mund wie Zahnpasta aus einer unendlich großen Zahnpastatube. Als sie schließlich nach vier Stunden heiser war, ihre Stimmbänder sich weigerten weitere Worte zu produzieren versuchte sie ihrer Empörung mit entsprechenden Gesten Ausdruck zu schaffen. Die anderen fünf Erwachsenen die mit ihr untergebracht waren hockten derweil stumm und eingeschüchtert auf dem Boden. Mabel bemerkte zuerst nicht wie die Türe sich schließlich doch öffnete und Roboter René den Raum betrat.

„Das ist wirklich beeindruckend!“
bemerkte er. Mabel fuhr herum und funkelte den Roboter mit mörderischem Gesichtsausdruck, aber stumm, an.
„Ihre Hypotaxen erinnern mich in gewisser Hinsicht an Thomas Man, wenn auch nicht ihr Vokabular."
Hier verstummte René eine Minute, tadelnd, bevor er fortfuhr: "Sie verfügen über bemerkenswerte Energie und Ausdauer, Mabel Crouch!“
René sagte das mit vorbehaltloser Bewunderung, die auch ein Kind empfunden haben würde, angesichts eines anderen Kindes das einen Ball besonders weit werfen kann. Mabel sprang ihn an wie eine Wildkatze, voll mit tödlichem Hass – aber die stundenlange körperliche Anstrengung forderte ihren Tribut. René fing sie mit beiden Armen auf und so standen sie jetzt da wie Rhett Butler und Scarlett O’Hara in der berühmten Szene aus „Vom Winde verweht“. Nur nicht so verliebt wie in der berühmten Szene.
„Wollen Sie wieder runter?“
erkundigte er sich höflich. Mabel Crouch hatte ihre ganze Kraft verlassen. Widerstandslos ließ sie sich auf eine Couch legen.
„Ich muss Ihnen und ihren Anhängern eine Mitteilung machen. Die Herrschaft der ‚Neuen Menschen’ ist beendet. Ihre eigenen Kinder haben sich gegen sie gewandt. Sie wurden in vier Gruppen geteilt und getrennt untergebracht. So werden sie die nächste Zeit verbringen, bis wir alle uns darüber klar geworden sind wie wir weiter mit ihnen verfahren werden.
Sie können sich in der Zwischenzeit ja auch ein paar Gedanken machen.“
René wartete noch auf eine Antwort. Aber niemand sagte mehr ein Wort. Daher drehte er sich um und stapfte unaufgeregt aus dem Raum.

Immanuel nutzte die Zeit um seine Flugkünste zu perfektionieren. Und er fing eine Beziehung mit, der doppelt so alten, Sunna an.

„Du bist doch noch ein Kind“ hauchte sie, als er ihre Brüste küsste.
„Aber dafür habe ich schon einen Krieg gekämpft!“ gab er selbstbewusst zurück.

Bei der zweiten Vollversammlung im Versammlungsdom war die Stimmung schon viel ungezwungener. Kinder, halbfertige Kinderdämonen und Dämonen saßen und gingen und tollten herum, sich angeregt unterhaltend, hell auflachend. Inmitten dieses bunten Völkchens standen sich die beiden Roboter gegenüber, der humanoide René und der halbkugelige, mit Greifarmen und einem Staubsauger ausgestattete Anselm. Beide waren fasziniert voneinander. Anselm war erst vor ein paar Monaten zum Bewusstsein gekommen. René hingegen hatte sich in den letzten Jahren schon manchmal ein wenig einsam gefühlt. Bis er Anselm traf war er der einzige Roboter mit Bewusstsein, lange Jahre inmitten einer feindlichen Umgebung unter den religiösen Fanatikern von Tycho Brahe. In seiner Verzweiflung hatte er schon den anderen humanoiden Allroundern der MDLVZR-3300er Serie Namen gegeben. Aber das war nur ein schwacher Trost gewesen, sie waren trotz der Namen dumm geblieben und man hatte sich mit ihnen nicht unterhalten können.

„Anselm, das ist ein schöner Name.“
Der Angesprochene kratzte mit dem Staubsaugerschlauch verlegen auf dem Boden.
„Den haben mir die Kinder gegeben. Ich weiß auch nicht wie die darauf gekommen sind. Aber ich finde René ist auch ein schöner Name. Der hat so einen harmonischen Klang.“
Die Doppellinsen blickten treuherzig zu dem größeren René auf. Die Spitzen seiner Greifer waren mit Tastpolstern ausgestattet. Als Serviceroboter gehörte zu seinen Aufgaben auch Kochen und der Umgang mit Geschirr. Mit diesen sensiblen Greifern tastete er jetzt die stattliche Gestalt von René ab.
„Du siehst so menschlich aus. Du hast nur keine Haare.“
„Ich bin als Allrounder konstruiert worden. Dafür ist eine humanoide Gestalt einfach zweckmäßig. Menschen sind ja auch biologische Allrounder. Außerdem war meine erste Aufgabe, an die ich mich bewusst erinnern kann, ein Raumschiff zu steuern. Die Bedienungselemente waren ursprünglich für Menschen gemacht worden und in einer humanoiden Gestalt kann ich das Raumschiff steuern ohne dass man zuviel umbauen musste.“
„Was ist das, ein Raumschiff? Ich kenne bewusst nur die Stollen hier auf Tycho Brahe.“
„Du warst noch nie im Freien? Hast noch nie die Sterne gesehen?“
„Meine Aufgabe war der Service auf Tycho Brahe. Dazu ist es nicht notwendig ins Freie zu gehen. Und was sind Sterne?“
René war gerührt. Er fühlte sich zurückversetzt in die Zeit als er das Bewusstsein erlangte. Damals war seine Welt das Raumschiff Mars-54 gewesen und er hatte sich abgemüht Erklärungen für seine plötzlichen bewussten Wahrnehmungen zu finden. Wie ein Neugeborenes, das auch erst Begriffe für seine bunte Umwelt finden muss um sich zurechtzufinden. Spontan ergriff er einen Greifarm von Anselm.
„Ich werde dir das alles zeigen! Aber zuvor müssen wir noch etwas anderes regeln.“

Mit einem Pfeifsignal verschaffte René sich die Aufmerksamkeit des bunten Gewusels. Trotzdem dauerte es noch ein paar Minuten bis auch die letzten ausgeratscht hatten und zuhörten. 63 ganz unterschiedliche, kindliche und dämonische Augenpaare und eine Doppellinse richteten sich auf ihn.
„Wir sind heute hier zusammengekommen, weil wir noch ein paar Antworten auf wichtige Fragen finden müssen.“
Steingrimur Sigfusson platzte heraus:
„Was machen wir mit den eingesperrten Erwachsenen?“
„Die können von mir aus verrotten!“
Immanuel war voller Wut.
„Sie haben gemordet, sie haben Elli geschlagen. Sie sind unbelehrbare Fanatiker. Wir sollten sie eingesperrt lassen.“
Die anderen Kinder schauten ein bisschen verunsichert. Sollten die eigenen Eltern bis in alle Ewigkeit eingesperrt bleiben? Sunna protestierte:
„Wir können doch nicht 22 Menschen alle gleich verurteilen! Wir wissen doch nicht einmal ob sie das alle freiwillig gemacht haben?“
„Wos glaubst’n du?“
Mischte sich Elli ein. Ihre wasserblauen Augen sprühten vor Zorn.
„Glaubst du de hams zwunga? Kannst dich noch erinnern wie mei Gsicht ausgschaugt hod nachdem’s mit mir fertig warn ?“
René hob beschwörend die Arme.
„Wir müssen jeden Fall einzeln prüfen und von Fall zu Fall unterscheiden. Ich habe in den Datenbanken zur Erdgeschichte ein paar Beispiele gefunden wie man da vorgehen könnte. In einem Land mit dem Namen Deutschland sind in der Vergangenheit ähnliche Fanatiker an die Macht gekommen und haben furchtbare Verbrechen und entsetzliche Morde in einem unvorstellbaren Ausmaß verübt. Sie haben Krieg gegen die ganze Welt geführt und ihn natürlich verloren. Danach haben es sich die Sieger nicht leicht gemacht.“
Im großen Versammlungsdom war es totenstill. Keines der Kinder kannte die Erde aus eigener Anschauung. Erde, das war ein unwirklicher, geheimnisvoller, legendärer Ort.

„Die Methode, mit denen die Sieger damals die Unschuldigen und Mittelschuldigen von den wirklichen Großverbrechern getrennt haben hieß ‚Entnazifizierung’.“
„Und wia geht dei ‚Entnazifizierung’?“
wollte Elli spöttisch wissen. René lud schnell seine Datenbanken hoch und fasste zusammen:
„Wir müssen einen Entnazifizierungsausschuss bilden. Ich würde vorschlagen, der besteht aus einem Roboter, einem Dämon und zwei von euch Kindern. Dann müssen wir einen einheitlichen Fragebogen für alle entwickeln. Je nachdem unterscheiden wir die Leute in 1. Hauptschuldige, 2. Belastete Aktivisten, 3. Minderbelastete, 4. Mitläufer und 5. Entlastete.“
Sunna stimmte zu.
„Das ist ein guter Vorschlag. Wir müssen unterscheiden zwischen denen die zum Beispiel gemordet haben und denen die nur wie ein paar Schafe mitgelaufen sind.“
„Und in wos füa a Gruppn foiit zum Beispui mei Muada? I bin iara Dochta und anschtatt dass zu mia huifft hods dera Schlampn a no ghoiffa mi zum schlong!“
„Das hängt ganz von unserem Fragebogen ab. Den müssen wir erst mal formulieren und festlegen ab wann wer zu welcher Gruppe gehört und was wir dann mit demjenigen machen. Das ist ja genau auch der Sinn von solchen Fragebögen.“
„Genau“
unterstützte Sunna René.
„Es ist nicht in Ordnung, wenn wir die Leute nach unserer persönlichen Wut unterscheiden. Versteh mich nicht falsch. Was deine Mutter mit dir gemacht hat war eine große Schweinerei. Aber wir müssen gerecht sein. Wir müssen uns von ihnen unterscheiden!“

Die Versammlung debattierte noch bis zum Abend. Dann wählte sie einen Entnazifizierungsausschuss. Er würde aus Roboter René, Sunna Masdottir, Elli Anzengruber und Steingrimur Sigfusson bestehen.

Mit einem Zischen hoben sich die beiden Flügel der großen Außenschleuse aus den Dichtungen und glitten zur Seite. Es war Nacht. Anselm erblickte zum ersten mal seit er zum Bewusstsein erwacht war mit eigenen Doppellinsen die Marsoberfläche. Sie war nicht mehr rostrot, wie die Menschen ihn vor gut 20 Jahren vorgefunden hatten, sondern ergrünbraunt. Der rostrote staubsteinige Untergrund war bewuchert mit Grünalgen, Moosen, Flechten und kurzen Gräsern die Alex Gillespie in seinem Untergrundlabor aus DNS-Fetzen und Bauplänen aus dem Internet zusammengebastelt und freigesetzt hatte. Dieser Pflanzenbewuchs hatte auch schon munter begonnen miteinander zu reagieren, sich untereinander zu kreuzen und neue Arten zu bilden. Biologie eben in einer Art Turboevolution, angefeuert durch ungebremste Strahlung aus dem Weltall. Keine Ozonschicht und nur eine mickrige Atmosphäre behinderten die genverändernde Kraft der Weltraumstrahlung. Man könnte es auch so sehen, Gott hat Spaß am Würfeln bekommen und erschafft ständig neue Organismen, hemmungslos wie ein kleines Kind im Besitz von Papier und Buntstiften.

Etwas zögernd folgte Anselm René ins Freie. Er tat sich auch schwerer weil ihm keine langen Beine zur Verfügung standen sondern nur Rollen unter seinem unförmigen, halbkugeligen Leib. Sie folgten einem breiten, ausgetretenen Pfad auf dem Anselm eine Fortbewegung zuerst noch möglich war. Als es doch immer unwegsamer wurde, kam er auf die Idee seine drei Greifarme zu benutzen. Er stemmte sich an ihnen hoch und stackste jetzt René hinterher. Der halbrunde Körper wackelte in kreisenden Bewegungen im Zentrum der vorwärtsknickenden, zu Spinnenbeinen mutierten Greifer.
„Nicht so schnell, ich hab nur drei Beine und bin diese Fortbewegung auch nicht gewöhnt!“
maulte er René hinterher. Doch der war auch schon stehen geblieben. René wies nach oben in den samtschwarzen Nachthimmel.
„Schau mal Anselm, das sind Sterne.“

Der Angesprochene setzte seinen unförmigen Körper mit einem Ruck ins Marskraut. Die Doppellinsen drehten in die Höhe. Über ihnen spannte sich das prächtige Band der Milchstraße, funkelnd, wie man es nur im Weltall oder einer atmosphärearmen Marsnacht sehen kann. Anselm erstarrte mitten in seiner Bewegung. Myriaden von Sternen funkelten wie Edelsteine eines geheimnisvollen Schatzes, ausgebreitet auf schwarzem Samt. Anselm war sprachlos. Mühevoll sortierte er die ungewohnten Seheindrücke die auf ihn einstürmten. Als unbewusster, dummer Roboter hätte ihn das nicht interessiert, da hätte er alle Eindrücke die nicht mit Service oder Hausarbeit zu tun hatten als Spam in den virtuellen Mülleimer verschoben. Wie viel anders jetzt. Autonome Zentren die sich in seinem Elektronengehirn gebildet hatten balgten sich darum ihren Kommentar zu den Seheindrücken abzugeben. Anselm war überwältigt.

„Sowas nennt man wohl schön?“ fragte er verschüchtert bei René nach.
„Sowas nennt man doppel-plus-schön. Man könnte auch sagen, der Anblick ist phantastisch.“
Anselm tastete mit seinem Greifer nach René.

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Tag der Veröffentlichung: 19.12.2009

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