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Fassungslos erblickten Viktor und Elli eine apokalyptische Szenerie. Gewaltige Feuerbälle detonierten im Minutentakt an der Stelle von Eden-Außenstation auf. Funkmasten erzitterten und knickten ab wie die Fühler von Insekten. Explosionen blähten sich auf, gleich schrecklichen, menschenfressenden Blüten, zeigten ihre tödliche Schönheit und wurden dann in der Kohlendioxidatmosphäre des Mars gelöscht. Abgesprengtes Gestein schoss in die Höhe in gewaltigen Fontänen aus Trümmern und Staub und der Staub senkte sich nur langsam und begann ein mildes, halbdurchsichtiges Leichentuch über Eden-Außenstation zu legen. Mit jeder neuen Explosion wurde der Staubschleier dichter. Die Außenanlagen wurden völlig zerfetzt, begannen zu schmelzen. Der Eingang zur Hölle! Im Halbkreis hockten schwarzklumpige Höllenhunde herum, zitternde Schatten von Beobachtungsroboter deren Aufgabe es gewesen wäre, die Station vor einem Angriff zu warnen. Niemand hatte ahnen können dass diese verdammten Neue-Menschen-Fanatiker-Scheiß-Spaghettis, diese Arschlöcher, unterirdische Hallen angelegt hatten um ihre elektromagnetischen Katapulte zu tarnen. Oder doch? Zu spät! Verdammt!

„Elli: wir kommunizieren auf UKW 99,4 MHz im Vigenère Code mit dem Codetext „Was ist Aufklärung“ von Kant. Ich muss versuchen wenigstens eines der Katapulte auszuschalten.“

Wortlos drehte Eleonore Anzengruber sich um und lief gebückt zum nächstgelegenen Eingang der weitläufigen unterirdischen Anlagen von Tycho Brahe. Sie war ein sehr ernstes, 16jähriges Mädchen und wusste genau wann der Worte genug gesprochen waren. Viktor zerkaute eine Kapsel ACE. Die Abkürzung leitete sich von Acceleration ab, dem englischen Wort für Beschleunigung. Dabei handelte es sich um ein Nervengift. In zwei bis fünf Minuten würde es jeden zweiten Ranvier’schen Ring seiner Nervenaxone isolieren. Dadurch verdoppelte sich die Durchleitungsgeschwindigkeit im Nervensystem. Der Wirkstoff begann anzufluten. Die Vorgänge um ihn herum schienen sich abzubremsen, zu verlangsamen. Das war nur eine subjektive Wahrnehmung, in Wirklichkeit änderte sich an der Umgebungsgeschwindigkeit nichts. Nur Die Impulsgeschwindigkeit in Immanuels Nervensystem wurde schneller. So schnell, dass kein menschlicher Gegner mehr eine Chance gehabt hätte.

Er begann zu rennen, lief auf das nächstgelegene Katapult in einem Kilometer Entfernung zu. Mit Hilfe gewaltiger Hydraulikzylinder war die Hallendecke aus Marsgestein aufgeklappt worden und lag jetzt kreisförmig als Schuttwall um die Grube, mit dem Katapult darin, herum. Er streckte seine Atemflügel flach seitwärts aus um maximale Leistungsfähigkeit zu bekommen. Das Grau des Morgens begann sich zu verflüchtigen, die Sonne ging auf am fernen Horizont. Der scharfgezackte Kraterrand von Olympus Mons reckte seine spitzen Zähne in den Himmel als ob er ein Stück herausreißen wollte. Immanuel spürte wie die Anabaeana Bakterien die Photosynthese aufnahmen und immer mehr Sauerstoff und Glucose in seine Blutbahn strömte. ACE war voll angeflutet, seine Beine erinnerten an flitzende Gestänge antiker Expressdampfloks. Er flog nur so dahin. Viktor merkte dass er tatsächlich ein Bisschen vom Boden abhob. Was war denn das? Lag es an seiner, durch die Droge verdoppelte, Laufgeschwindigkeit oder war die Marsatmosphäre mittlerweile so dicht geworden? Egal, wenn er mit seinen Atemflügeln gleiten konnte so war das ein unerwarteter, hocherwünschter Vorteil! Nach zehn Minuten erreichte er den Schuttwall. Er ließ sich auf alle Viere fallen und schaltete seinen Elektrosinn ein. Sofort bemerkte er den Roboter, der in einiger Entfernung, optisch hervorragend getarnt, herumstand und mit Radarstrahlen die Eden-Station abtastete. Das war bestimmt das „Auge“ für das Katapult. Seit sie sich mit den „Neuen-Menschen“ sozusagen im Krieg befanden, hatten sie sich auch bewaffnet. In einem Rucksack befanden sich fünf programmierbare Raketen. Viktor entnahm eine und stellte sie auf den feindlichen Radarstrahl ein. Zehn Sekunden später explodierte der Emitter. Das Auge des Katapults war blind. Viktor schwang sich über den Wall. Die neuentdeckte Fähigkeit zum Gleitflug ausnutzend, schoss er wie ein Falke auf das Katapult hinab. Glücklicherweise waren nur dumme Roboter ohne Bewusstsein zu sehen die Munition herbeischleppten. Die Roboterkolonne war zum Stillstand gekommen weil das Katapult mangels Zielangaben zu feuern aufgehört hatte. Viktor scannte es mit seinem Elektrosinn. Dreidimensional begannen sich die elektromagnetischen Eingeweide herauszuformen, Stromversorgung, Elektromotoren, Elektromagnete zum Herausschleudern der Munition – aaaah – Bingo! Das Elektronengehirn, die Steuerung. Mit wenigen Schritten war Viktor heran. Die Steuerungselektronik war an der Vorderseite angebracht. Viktor konzentrierte sich mit seinem Elektrosinn auf die Steuerung. Erst grob, dann immer feiner enthüllte sich ihm das elektronische Innenleben, all die mikroskopischen Drähte und Mikroprozessoren. Viktor konzentrierte sich noch mehr um in die Mikroprozessoren selbst einzudringen. O.K., jetzt hatte er gefunden, wonach er suchte. Er schaltete seinen Elektrosinn um und programmierte die Steuerung von außen so, dass sie eingehende Steuerungskoordinaten jeweils mit einer Zufallszahl multiplizierte. Viktor war völlig erschöpft von der Anstrengung. Ohne das beschleunigende ACE hätte er unmöglich in eine elektronische Steuerung eindringen können. Trotzdem musste er sich vor Erschöpfung erst einmal hinsetzen.

Die Roboter kamen wieder in Bewegung. Irgend eine ferne Zentrale musste den Ausfall des Feuerleitroboters bemerkt haben. Das Katapult bekam jetzt von wo anders her Zielkoordinaten. Viktor sah ängstlich und machtlos zu wie das Katapult schussbereit gemacht wurde. Wie ging es den anderen Symbionten in der Eden-Außenstation? Gab es Verletzte? Überlebende?

Dann lachte er triumphierend auf! Die Atemflügel majestätisch gespreizt reckte er beide Fäuste in Siegerpose! Die Brandbombe schoss in einem irren Winkel nach Rückwärts und schlug inmitten der Außenanlagen von Tycho Brahe ein. Mit dem Wrist am Handgelenk, versuchte er Kontakt zu seinen Leuten aufzunehmen. „Eden-Außenstation von Immanuel. Ich weiß wie man die Katapulte ausschalten kann. Hört mich jemand? Eden-Außenstation von Immanuel.“

...Rauschen...

Eleonore war die Tochter von Elisabeth Anzengruber, einer hyperintelligenten Physikerin und fanatischer Adeptin von Alex Gillespie. Eleonore war NICHT hyperintelligent! Sie hatte sogar Lese- und Rechenprobleme. War das der Grund dafür, dass ihre Mutter sie mehr oder weniger links liegen ließ? Oder lag es daran, dass all ihre Gefühle für Alex Gillespie und die „Große Sache“ der Neuen Menschen reserviert waren? Oder dass Elisabeth von Alex eher nebensächlich gezeugt worden war, aus Pflichterfüllung, damit die „Neuen Menschen“ sich schnell genug vermehrten, die Mutter aber nach erfolgreicher Befruchtung keine weitere Beachtung mehr fand? Elisabeth hatte es nie verwinden können, dass Alex ihr Mabel Crouch, der Mutter seines Sohnes Viktor, jetzt Immanuel, vorzog? Sie versuchte dieser Ungerechtigkeit mit 150%iger Hingabe zu begegnen. Und wenn man eine Sache 150%ig betreibt, bleiben natürlich nicht mehr viele Ressourcen übrig– zum Beispiel für eine Tochter. Eine Tochter mit Lese- und Rechenschwäche noch dazu. Wie peinlich! So wuchs Eleonore ziemlich einsam auf. Einziger Freund war ihr Halbbruder Immanuel. Eleonore sprach nicht viel. Mit wem auch. Aber wenn sie etwas sagte, dann mit dem bayerischen Akzent den sie von ihrer Mutter erbte. Hättest du nur stattdessen meine Intelligenz geerbt, stöhnte ihre Mutter gelegentlich. Zumindest als sie sich noch mit ihrer Tochter beschäftigt hatte. Vielleicht war es ja eine Trotzreaktion, dass Elli ihren bayerischen Akzent geradezu pflegte. Das unterstrich natürlich ihre Außenseiterposition auf Tycho Brahe. Zu Anfang hatte sie unter den Zurückweisungen wie eine Hündin gelitten. Diese Hilflosigkeit war Wut gewichen. Und, sie hatte sich in sich selbst zurückgezogen.

Leseschwäche ist nicht gleichbedeutend mit Stumpfsinn. Sie brauchte vielleicht länger um gewisse Dinge zu kapieren, aber wenn sie die einmal kapiert hatte, dann saßen sie auch 100%ig. Elli interessierte sich beispielsweise für Funkelektronik. Es war ihr nicht schwer gefallen im Computer der Funkzelle ein kleines Programm zu installieren dass es ihr erlaubte den Receiver fernzusteuern. Als Trägerfrequenz nutzte sie die 50 Hertz des stationseigenen Stromnetzes. Darauf modulierte sie ihre Steuerungsbefehle auf, die mittels eines Transmitters dem Computer der Funkzelle übermittelt wurden. Umgekehrt wurden empfangene Funksignale im Wechselsprechmodus ebenfalls auf das Stromnetz aufmoduliert. So konnte sie von jedem beliebigen Raum aus der eine Steckdose besaß den Funkcomputer manipulieren und Funksprüche empfangen. Nach tagelanger, sorgfältiger Überwachung der Frequenz 99,4 Mhz fing sie schließlich einen Funkspruch auf:

SIJ EGELYS KWEB VHGLUYMBPN HJ GHYAL NQW JECFK AHLHRLTEYLUVVGE GALXMVQVF



Was macht eine gute Verschlüsselung aus? Einfachheit und Sicherheit. Eine komplizierte Vorschrift ist nicht unbedingt von Nutzen, denn sie könnte gefunden werden. Das Geniale am Vigenère Code ist, dass der dem Gegner ruhig bekannt sein kann. Wenn er das Codewort nicht kennt hilft ihm das gar nichts. Blaise de Vigenère entwickelte seine Verschlüsselung im Jahre 1585. Fast 300 Jahre lang war der Code unbrechbar! Er basiert darauf, dass jeder Buchstabe des Klartextes durch einen Buchstaben eines Geheimtextalphabetes ersetzt wird. Und zwar jeder Buchstabe nach einem anderen Geheimtextalphabet. Welches Geheimtextalphabet benutzt wird, das bestimmt das Codewort oder der Codetext. Und den konnte man sich auswendig merken. Dann konnte ihn die Gegenseite auch nicht finden.

Eleonore Anzengruber schrieb sich sorgfältig den aufgefangenen Geheimtext, in Großbuchstaben, wie das Geheimdienstprofis eben so machen, auf ein Blatt Papier. Darunter notierte sie den Codetext, „Was ist Aufklärung“ 1784, von Immanuel Kant:

SIJ EGELYS KWEB VHGLUYMBPN HJ GHYAL
Was istAuf klae rungAufkla er ungis

NQW JECFK AHLHRLTEYLUVVGE GALXMVQVF
tde rAusg angdesMenschena usseiners



Jetzt konnte sie sich an die Entschlüsselung machen. Der Buchstabe unter dem Geheimtext, legte jeweils das Entschlüsselungsalphabet fest. Geheimtext S war dem Entschlüsselungsalphabet W zugeordnet (das mit WXY anfängt und mit V aufhört). Im Entschlüsselungsalphabet W hieß S ein Klartext w. Beim Verschlüsseln geht man natürlich umgekehrt vor. An der Stelle von Klartext w befindet sich im Verschlüsselungsalphabet W der Geheimtextbuchstabe S. Klartext wird immer in Kleinbuchstaben geschrieben, damit es nicht zu Verwechslungen kommt. Geheimtext I ist dem Entschlüsselungsalphabet A zugeordnet und bedeutet i. Dementsprechend wird aus Geheim J mit Hilfe von Entschlüsselungsalphabet S ein r. Das erste Wort hieß also „Wir“. Nach zehn Minuten (Elli hatte sich die Entschlüsselungsalphabete in alphabetischer Reihenfolge untereinander aufnotiert, ein sogenanntes Vigenère-Quadrat) lag Elli der entschlüsselte Text vor:

SIJ EGELYS KWEB VHGLUYMBPN HJ GHYAL
Was istAuf klae rungAufkla er ungis
wir wollen alex entfuehren du musst

NQW JECFK AHLHRLTEYLUVVGE GALXMVQVF
tde rAusg angdesMenschena usseiners
uns seine aufenthaltsorte mitteilen



Alex entführen. Das macht Sinn. Wenn man den Fanatikern ihr krankes Hirn nimmt, dann irren sie hilflos umher. Elli machte sich auf den Weg um die Aufenthaltsorte ihres Vaters, Alex Gillespie, herauszufinden.

Dunkle Marsnacht. Keiner der beiden Monde leuchtete und so verschmolzen die Schatten des Marskrautes mit herumliegenden Felsbrocken zu einem zotteligen Flokatiteppich aus Schwarz- und Oliv-Brauntönen. Mit dem Flokatiteppich verschmolzen duckten sich sechs Dämonen. Langsam, vorsichtig pirschten sie sich durchs Gelände. Sie hatten ihre Elektrosinne eingeschaltet. Deshalb bot sich ihnen ein völlig anderer Anblick dar: diffuses Hellblau, umherwabernd, in dem sich aber gestochen scharf die Elektrofelder der Scoutroboter abhoben. Mit bloßem Auge unsichtbare Radarstrahlen blitzten im Elektrosinn wie Scheinwerfer von Leuchttürmen deren bleiche Finger die Umgegend abtasteten. Gerade krabbelte wieder ein radarstrahlender Leuchtfinger auf der Suche nach verräterischen metallischen Ausrüstungsgegenständen über das Gelände. Für Radarstrahlen waren die Dämonen unsichtbar. Sie trugen keinerlei metallische Ausrüstungsgegenstände bei sich. Geschickt wichen sie den Scoutrobotern aus, die sich im Elektrosinn wie auf dem Präsentierteller darboten. Einzeln sickerten die Dämonen zwischen den Robotern durch. Immanuel kontrollierte von Zeit zu Zeit mit dem Infrarotsinn ob die Gruppe noch beieinander war. Sie hatten noch vier Stunden Zeit um den Luftgarten, einer großen Polymerblase an der Oberfläche, die mit Hilfe Sauerstoffproduzierender Anabaeanabakterien mit atembarer Luft gefüllt wurden, zu erreichen. Eleonore hatte ihnen verschlüsselt mitgeteilt, dass Alex dort seinen Gottesdienst abhalten würde.

Schweigend kontrollierte Alex im Funkraum die Aufzeichnungen. Der Funkraum war im Moment nicht besetzt. Das war auch nicht nötig. Die abartigen Monster hatten ihre verdiente Lektion erhalten. Seit dem Angriff waren keine feindlichen Aktivitäten mehr zu verzeichnen. Alex hatte beschlossen, die Eden-Außenstation erst einmal zu beobachten. Bei der Sprengung unter dem Landeplatz hatte er fünf Leute verloren. Sie waren jetzt nur noch 22 Erwachsene auf Tycho Brahe. Er wollte kein unnötiges Risiko eingehen. Moment mal, was war denn das? Vor drei Tagen hatten sie ein ganz eigenartiges Funksignal auf einer, von ihnen unbenutzten Frequenz, aufgefangen. Alex runzelte die Stirn als er den seltsamen Buchstabensalat las: SIJ EGELYS KWEB VHGLUYMBPN HJ GHYAL NQW JECFK AHLHRLTEYLUVVGE GALXMVQVF
Was sollte das denn bedeuten? War das ein verschlüsselter Text? Dann konnte er nur von den Monstern kommen. Aber warum sendeten sie sich gegenseitig verschlüsselte Texte? Oder nährten sie etwa eine Schlange an ihrer Brust, einen Judas, hier in ihrer Mitte?

Vorsichtig öffnete sich eine Türe in der Wand. Eleonore Anzengruber spähte in den dahinterliegenden Raum. Er war leer. Das war gut so. Elli huschte in den Raum und zog die Tür hinter sich zu. Sie befand sich im Allerheiligsten. Hier wurden die letzten Weinflaschen aufbewahrt die vor 14 Jahren mit der 4. Expedition auf den Mars gebracht worden waren. Viele waren nicht mehr da. Nur zu besonderen religiösen Feierlichkeiten wurde mal eine Flasche geöffnet. Ellis Blick schweifte über die leeren Weinkisten. Wo lag die zuletzt geöffnete? Welche Flasche würde Alex wohl auswählen? Gedankenverloren fuhr sie mit ihren Fingern über die bauchigen grünen Glaszylinder. In der oberen Reihe der dritten Kiste fehlten vier Flaschen. Es war also davon auszugehen dass Alex die nächste Flasche in jener Reihe nehmen würde. Elli schaute sich schnell noch einmal um, dann griff sie entschlossen in die Kiste. Sie stellte die Flasche vor sich auf einen Tisch. Mit geschickten Fingern zog sie eine Phiole mit einer glasklaren Flüssigkeit, eine Plastikspritze und eine Kanüle aus der Tasche. Rasch war die Phiolenspitze abgebrochen, die Spritze zusammengebaut und die Flüssigkeit aufgezogen. Vorsichtig durchbohrte sie mit der Kanüle den Korken. Nein, der Einstich war kaum zu sehen. Alex würde sowieso nicht nach einem Einstich suchen. Er war völlig arglos.

Die sechs Dämonen lagen geduckt im Marskraut, 100 m von der Luftgarten entfernt. Sie hatten ihre Atemflügel eng an den Körper gefaltet, um sich vor Auskühlung zu schützen. Eine Stunde mussten sie noch warten, ehe der Marstag begann. Im Morgengrauen würde der Gottesdienst stattfinden, wenn die verschlüsselten Angaben stimmten. Diese blöden ‚Spaghettis’ würden dann ihr blaues Wunder erleben. Wenn alles gut ging. Was, wenn Eleonore aufgeflogen war? Dann würden in der Luftgarten bewaffnete Truppen auf ihren Angriff warten. Die Dämonen hatten keine tödlichen Waffen mitgenommen. Das war vielleicht ein Fehler gewesen. Immanuel runzelte besorgt die Stirn.

Alex Gillespie betrat mit langsamen Schritten den Vorbereitungsraum. Heute war ein besonderer Tag. Ein Siegtag! Sie hatten ihren Widersachern einen empfindlichen Schlag versetzt. Wenn auch die Elektrokatapulte seitdem unbrauchbar waren (niemand konnte sich erklären warum, aber aus irgend einem Grunde funktionierte die Steuerung nicht mehr, die Katapulte schossen völlig unkontrollierbar in der Gegend herum), sie hatten genügend Schaden in der Eden-Außenstation angerichtet dass der Feind entscheidend geschwächt war. Alex dachte an den aufgefangenen Funkspruch. Die endgültige Niederwerfung konnte nur noch eine Frage der Zeit sein. Er lächelte selbstzufrieden in sich hinein, das konnte auch kein Verräter mehr verhindern. Alex beschloss spontan, für die religiöse Zeremonie diesmal zwei Flaschen Wein zur Verfügung zu stellen. Das war dem Anlass angemessen. Jetzt war ein Wendepunkt in der jungen Geschichte des Mars. Die Neuen Menschen würden das Ruder übernehmen!

Immanuel hob seinen Kopf vorsichtig aus dem Marskraut. Er schaltete seinen Infrarotsinn ein. Dahinter konnte er eine Gruppe Menschen sehen. Wie viele waren es? 20? 27? Es war nicht einfach sie zu zählen, er war sich nicht sicher. Wenn nicht alle an der Zeremonie teilnahmen, waren die anderen irgendwo postiert, weil sie mit einem Angriff rechneten? Sie mussten auf jeden Fall doppelt vorsichtig sein. Alle sechs Dämonen der Eden-Außenstation waren für das Kommandounternehmen aufgeboten. Seine Augen suchten Sunna Masdottir. Sie war der politische Kopf der Dämonen oder marsangepassten Symbionten. Obwohl sie fast doppelt so alt war wie er, rann es ihm heiß durch den Körper, wenn er an sie dachte.

Die Aktion musste entweder ein Erfolg werden oder aber sie mussten alle wieder entkommen. Ein Fehlschlag würde bedeuten, dass die Eden-Fanatiker keine Gegenspieler aus Fleisch und Blut mehr hätten. Immanuel schaltete seinen Elektrosinn ein. Sorgfältig tastete er die Umgebung auf elektronische Überwachung hin ab.

Keine Feststellung.

O.K. Riskieren wir es. Immanuel wusste, dass im Augenblick alle Infrarotsinne der anderen Dämonen auf ihn gerichtet waren. Er hob seine Hand, spreizte alle fünf Finger ab, das stand für die fünf anderen – und winkte nach vorne.

Die Dämonen rückten vor. Langsam, ganz langsam, schoben sie sich durchs Marskraut. Ein bisschen sahen sie aus wie Leguane. Einen Arm und das gegenüberliegende Bein, laaaaaangsam vor, aufsetzen. Den anderen Arm und das andere Bein, laaaaaangsam vor, aufsetzen. Meter für Meter krochen sie über das Gelände, die Bäuche nur knapp über dem Grund. Schließlich lagerten die fünf Dämonen, flach auf den Boden gepresst, in gleichmäßigen Abständen um die Hülle aus Flüssigkristall-Polymer herum. Immanuels Zeigefinger deutete eine Schluckbewegung an. Sechs Dämonen schluckten Filmkapseln mit ACE. Die ferne Sonne ging auf. Scharfgeschnittene Felsenkämme begannen sich gegen den heraufdämmernden Nachthimmel abzuzeichnen. Noch lagen Tal und Dämonen im Schatten.

Die 22 Neuen Menschen, alle lebenden Erwachsenen auf Tycho Brahe, hatten sich um Alex Gillespie gruppiert. Zwei Weinflaschen kreisten. Jeder nahm nur einen kleinen Schluck. Alex lächelte. Niemand sagte etwas. Sie waren alle Eins. Die Neuen Menschen waren Eins, eine Gemeinschaft, sie würden der Natur zu ihrem Recht verhelfen. Er, Alex Gillespie, war der Messias, der Eindringer, der Besamer der neuen Welt. Er schuf das Leben!! Vor seinem Auge bildeten sich wundervolle, vielfarbige geometrische Muster, ein Feuerwerk! Sie kamen und gingen, tausend mal in der Sekunde. Es war wie im Meer, 20.000 Meilen unter der Oberfläche, wie in einer Höhle, einer schnurgeraden Höhle, einer Höhle? Nein, es war eine Vagina! Alex fühlte sich wie in einer Vagina, deren Wände dekoriert waren mit hunderten, pulsierenden Brüsten, unaufhörlich floss ein klebriges, plastelinartiges Material aus der Vagina ...

Das LSD im Wein müsste mittlerweile wirken. Alle hatten auf Infrarot umgestellt. Immanuel wusste, dass es jetzt auf ihn ankam. Durch seinen Erfolg gegen die elektromagnetischen Katapulte war er zu einer Art natürlichem militärischen Anführer geworden. Immanuel checkte noch einmal mit Hilfe des Infrarotsinnes die Region hinter der Flüssigkristall-Polymer-Schicht. Man konnte eindeutig einen Haufen und einen Einzelnen unterscheiden. Der Einzelne war – mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit – Alex Gillespie. Hoffentlich. Die Wirkung des ACE begann jetzt einzusetzen. Bewegungen schienen immer langsamer zu werden, wie eingebremst. Er wusste dass es nur ein subjektiver Eindruck war. In Wirklichkeit waren sie jetzt so schnell geworden dass kein Mensch mehr eine Chance gegen sie haben sollte.

Immanuel hob dir rechte Hand – mit ausgestrecktem Zeigefinger – zeigte auf den vermuteten Alex. Seine Hand senkte sich. Check – Elektrosinn – keine Feststellung. Check – Infrarot – keine Feststellung. O. K. Es gilt. Wer wagt gewinnt.

Immanuels Faust schoss in die Höhe.

Sechs Dämonen machten einen Satz – sechs Keramikmesser schnitten Folie auf. Sie sahen taumelnde Menschen die mit irren Blicken ihre Umgebung anstarrten, imaginäre Schmetterlinge zu fangen versuchten. Einige verhielten sich ziemlich erotisiert. Aber es gab auch klare Blicke, die sich den Eindringlingen alarmiert zuwandten. Viktor erblickte die beiden geöffneten Weinflaschen. Scheiße!

Mittlerweile begann sich die entweichende Sauerstoffatmosphäre auf die Neuen Menschen auszuwirken. Sie begannen nach Luft zu ringen. Sechs reaktionsschnelle Dämonen zogen Blasrohre hervor und verpassten den Klarblickenden ihre Dosen LSD. Rhythmisch blinkten Warnlichter auf die den Druckverlust anzeigten und Sirenen heulten unheimlich in der entweichenden Atmosphäre. Mit einem Satz war Immanuel an der Schleuse und öffnete sie. Aus den Augenwinkeln erkannte er dass die anderen fünf Dämonen mit den Klarblickenden rangen. Es dauerte eben seine Zeit bis das Halluzinogen zu wirken begann. In der Schleuse befanden sich mehrere Schutzanzüge mit Pressluftflaschen. Immanuel schnappte sich eine davon und sprang, geschmeidig wie ein Leopard, in langen Sätzen auf Alex Gillespie hin, der gerade versuchte mit einer seiner Anhängerinnen zu schlafen. Der klare Blick der ringenden Neuen Menschen trübte sich zusehends, sie bekamen wahnsinnige Angst, einen Horrortrip. LSD wirkte irgendwie wie ein Verstärker. Immanuel riss Alex von der jungen Frau weg und stülpte ihm die Atemschutzmaske über. Die anderen Dämonen begannen die Menschen in die Luftschleuse zu schleppen. Warnlichter blinkten, Sirenen heulten. Zu dritt stopften sie den Anführer der Neuen Menschen in einen kälteisolierten Sack den sie mitgebracht hatten. An der Seite waren Schlaufen angebracht. Jeder Dämon ergriff eine und im Laufschritt traten sie den Rückzug an.

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Tag der Veröffentlichung: 09.11.2009

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