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„Halten wir jetzt Kriegsrat?“ fragte der Roboter René in die Runde. „In den Karl May Romanen wurde das immer so genannt.“ „René liest Bücher.“ Klärte Immanuel die anwesenden, verblüfften Marssymbionten auf.

„Nun gut, halten wir also Kriegsrat.“ Sunna Masdottir, marsangepasste Symbiontin mit dem Aussehen einer Dämonin griff die Formulierung auf. Sie war die Lebensgefährtin des ermordeten Manuel Lustiger auf dem Mars gewesen. Bevor sie sich, wie alle anderen Bewohner der Eden Außenstation, mit Hilfe der Anabaeana Ares Bakterien und ein paar biotechnologischen Kniffen an den Mars angepasst hatte, war sie eine blondgelockte, eher kleine, dralle junge Isländerin gewesen. Geblieben waren ihr die blonden Locken. Die Haut hatte den grünmusterigen Farbton der Anabaeana Bakterien angenommen, mit denen sie jetzt in Symbiose lebte. Die Bakterien konnten durch Photosynthese Sauerstoff und Glucose herstellen und direkt in die Blutbahn abgeben. Dadurch konnte sie ohne künstliche Atemluft auf der Marsoberfläche existieren. Die Haut war darüber derb geworden, so machten ihr die tiefen Außentemperaturen nichts mehr aus. Nur im Bereich der Brüste blieb die Haut zart. Deshalb musste sie auch ein dickes, kälteisolierendes Bustier tragen wenn sie sich im Freien aufhielt. Ansonsten lief sie nackt herum, wie alle marsangepassten Symbionten. Das Gesicht hatte durch die Derbheit der Haut etwas affenartiges bekommen. Die blonden Locken wirkten auf nichtangepassten Menschen daher eher befremdlich. Ein grünes, grobes Affengesicht mit blonder Perücke. Die Marsangepassten untereinander fanden die Haarpracht dagegen attraktiv. Sunna fasste zusammen:

„Die Spaghettis haben Manuel gesteinigt.“

„Spaghettis“ war der Spottname für die Anhänger der naturreligiösen Edenreligion, abgeleitet von ihrem Symbol, einem verschnörkelten „E“ das einer gekringelten Spaghetti glich.

„Alex Gillespie, ihr religiöses Oberhaupt, hat damit gedroht seinen eigenen Sohn, dich Immanuel, umzubringen. Sie haben die Landestelle von René’s Raumschiffen unterminiert und gesprengt. René konnte nur ungefähr 25 % der Roboterbesatzungen hierher zur Eden-Außenstation retten.“

Sunna raschelte bedeutungsvoll mit ihren Fledermausflügeln. Es waren Atemflügel, mit Anabaeana besiedelt um noch mehr Sauerstoff herzustellen. Die Symbionten verfügten dadurch über eine hohe Leistungsfähigkeit. Zum Fliegen waren sie nicht geeignet, auch wegen der dünnen Marsatmosphäre.

„Wir können also davon ausgehen, dass die Entschlossenheit der Spaghettis keine Grenzen kennt. Irgendwelche Vorschläge?“
„Wir müssen sie so schnell wie möglich angreifen!“ bellte Viktor wie aus der Pistole geschossen.

Betretenes Schweigen breitete sich aus.

Alex Gillespie lächelte unter seinem leichten Schutzanzug. Gut, sie hatten fünf Mann bei der Sprengung verloren. Aber dafür hatten sie eine Menge Roboter erbeutet. Roboter waren stabiler als Menschen. Den Sturz in eine Grube überlebten sie relativ unbeschadet. Und jetzt hatte er unbeschränkten Zugriff auf die Roboter, nachdem dieser impertinente Schrotthaufen René und seine ganze Bagage geflohen waren. Dreiviertel der Robots, vorher unter feindlichem Einfluss gestanden, waren in die Sprenggrube gefallen und standen ihm jetzt zur Verfügung. Alex’s Lachen dröhnte unter seinem Schutzanzug. Was für ein Potential! Unermüdliche Roboter!! Starke Roboter!!! Mit Spezialfähigkeiten!!!! Zuallererst muss eine Methanproduktion geschaffen werden, mit Hilfe der Sabatier-Reaktion. Damit hätte man Brennstoff für Raketen bzw. Brandbomben. Danach würde man weitersehen. Alex’s Lachen bekam etwas dämonisches.

Roboter René ergriff das Wort. „Es wäre unmoralisch sie anzugreifen. Wir würden viele verletzen, oder sogar töten.“
Viktor stieg das Blut ins Gesicht. „Na und? Ihr habt gesehen zu was sie fähig sind. Sie haben ein ihnen fremdes Wesen, euren Freund Manuel, einfach so gesteinigt. Sie haben gedroht mich umzubringen!!! Sie haben diese riesige unterirdische Halle gegraben und gesprengt. Was glaubt ihr werden sie als nächstes tun?“
Sunna schüttelte entschieden ihren Kopf. „Wir können hier keinen Krieg anfangen. Davon würde niemand profitieren. Vergiss nicht, wir sind mit dir zusammen sechs Personen...“
„Verzeihung wenn ich sie unterbreche,“ warf der Roboter ein. „Sie sollten mich mitzählen. Ich bin zum Bewusstsein erwacht und bin einem menschlichen Wesen daher näher als einer bewusstlosen Maschine.“
„Verzeihung, ich wollte Sie nicht beleidigen.“
„Sie dürfen mich René nennen.“
„Na gut, ich bin Sunna. Du hast Recht René. Wir sind eine Schicksalsgemeinschaft. Da brauchen wir uns nicht mit Siezen aufhalten. Willkommen in unserem Kreis!“
René bewegte sich keinen Millimeter. Als Menschenwesen wäre er jetzt wahrscheinlich aus Verlegenheit rot geworden. Bisher hatte er, mit Ausnahme von Viktor, nur ihm feindliche Menschenwesen kennen gelernt.
„Wir sind also sieben Personen. Wie viele leben in Tycho Brahe?“
René antwortete „Unter der Voraussetzung dass niemand bei der Sprengung ums Leben gekommen ist: 28 Erwachsene und, abzüglich Viktor, 57 Kinder.“
„Was glaubst du, Viktor, wie viele werden wir töten müssen bis sie nachgeben?“
Viktor bebte vor Zorn, konnte aber keine Antwort darauf geben.
„Wir müssen ihre Herzen und Hirne erobern. Bei den Erwachsenen ist wahrscheinlich Hopfen und Malz verloren. Ich setze meine Hoffnungen auf die 57 Kinder.“

Die Beute-Roboter auf Tycho Brahe wurden ohne Verzögerung eingesetzt. Sie gruben unterirdische Stollen und Hallen. Schließlich sollten die Gegner der Eden-Station nichts mitbekommen. In den letzten Jahren hatten sie schon größere Wasservorkommen auf dem Mars entdeckt, in der Regel in Form gefrorener Seen, knapp unterhalb der Oberfläche. Wasserstoff, durch Elektrolyse aus Wasser erzeugt, war entscheidend für die erfolgreiche Produktion von Methan im Sabatier-Reaktor. Schon bald nahmen die ersten Reaktoren ihren Betrieb auf und produzierten. Gleichzeitig wurden, knapp unter der Oberfläche, elektromagnetische Katapulte aufgebaut. Ihre Standorte bildeten einen Halbkreis um die Eden-Außenstation. Unterhalb relativ flacher Bodenregionen wurden die Hallen für die Elektrokatapulte gegraben. Unter die Oberfläche wurden Stahlbetonplatten gezogen. Diese waren hydraulisch aufzuklappen. Wenn die Katapulte so einsatzbereit gemacht würden, wäre es für zu spät für die Eden-Außenstation.

Es wurde beschlossen sich lediglich gegen Angriffe zu verteidigen. René bekam die Aufgabe, mit Hilfe seiner Roboter einen Frühwarn- und Verteidigungsring zu bilden. Außerdem wollten sie unauffällige Alltagsroboter in die Tycho Brahe Station einschleusen mit einem Pädagogikprogramm für die Kinder.

Immanuel blickte sehr ernst zu Sunna hinüber. „Ich möchte werden wie ihr!“ Stille füllte den Raum. René drehte seinen Metallkopf und fragte interessiert: „Du willst ein marsangepasster Symbiont werden?“ „Ja.“ kam die trotzige Antwort. „Mich verbindet nichts mehr mit diesen mörderischen Arschlöchern auf Tycho Brahe. Ich will auch nicht mehr so aussehen.“ „Mäßige bitte deine Ausdrucksweise!“ tadelte ihn der Roboter, ein wenig steif. „Findest du den Anblick der Marsangepassten denn nicht schrecklich?“ René war noch nicht sattelfest in Fragen der Höflichkeit, und so bemerkte er nicht die scheuen Blicke, welche die Marsangepassten sich gegenseitig zuwarfen.

Sicher, mittlerweile waren 16 Jahre vergangen seit die Anabaeana Bakterien mutierten und begannen, sich auf der Haut der Biologen festzusetzen. Aber sie konnten sich noch erinnern, wie sie vorher ausgesehen hatten. Und an das Grauen, als sie die ersten Veränderungen an sich selbst bemerken. Sie hatten Jahre gebraucht, sich damit wirklich abfinden zu können. Als sie diesen Punkt schließlich erreicht hatten, begannen sie das Positive an der Sache zu sehen, die Tatsache sich auf dem Mars relativ frei bewegen zu können zum Beispiel. Und dann hatten sie sich einfach „weiterentwickelt“. Der alte Forscherdrang brach durch. Jetzt waren sie eben selbst das Forschungsobjekt! Zug um Zug hatten sie sich per Biodesign „verbessert“. Die Haut machten sie derber um ganz ohne Schutzanzug an der Oberfläche spazieren zu können. Manuel Lustiger kam schließlich auf die Idee mit den „Atemflügeln“. Sie ließen sich aus den Rippen Knorpelspangen wachsen mit lebender, durchbluteter Haut dazwischen. Fledermausflügel. Es stellte sich bald die Frage, woher denn das Wasser für die erhöhte Sauerstoffproduktion mit den Atemflügeln kommen sollte. Sunna hatte schließlich die Idee mit den Reptilienschwänzen. Sie ließen sich Schwänze wachsen die im Inneren schwammartig waren und Wasser speicherten. Mit Hilfe dieses Wasservorrates konnten sie jetzt eine gute Woche im Freien verbringen, sogar ohne Essen zu müssen wegen der durch die Photosynthese hergestellten Glucose.

„Bist du dir wirklich sicher, Immanuel, dass du dich äußerlich so weitgehend verändern willst? Du kannst es nicht mehr rückgängig machen!“ Der Klang ihrer Stimme hatte etwas mütterlich-besorgtes. Immanuel war ein kleiner, 14jähriger Junge. Er konnte gar nicht wissen was für ihn gut war! In dem Alter wollten die Kinder immer nur irgend etwas und drei Tage später das genaue Gegenteil.

„Ich bin mir GANZ sicher.“ Immanuel klang nicht wie ein kleiner Junge. Er war als Persönlichkeit schon gealtert Er hatte den gewaltsamen Tod eines Menschen miterleben müssen. Wie er sich jetzt hinstellte, die Arme vor der Brust verschränkt, strahlte er so eine innere Sicherheit aus dass die anwesenden Erwachsenen unwillkürlich nickten zu seinem Wunsch.

René dozierte: „Das ist kein untypisches menschliches Verhalten. Vor circa 100 Jahren gab es auf der Erde die Punk-Jugendbewegung. Jugendliche in seinem Alter begannen sich äußerst auffällig zu kleiden und ungewöhnliche Frisuren zu tragen.“ René hatte das im unerschöpflichen Fundus seiner, aus dem Internet heruntergeladenen, Dateien recherchiert. Ihm fiel auch keinerlei Ironie in Sunnas Tonfall auf als sie ergänzte: „Ja wenn das so ist ...“

Immanuel wischte mögliche Einwände hinweg. „Nach Tycho Brahe kann ich nicht zurück. Und hier werde ich sowieso irgend wann einmal mit den Bakterien infiziert.“ Sunna Masdottir ließ sich überzeugen. „Na gut. Schlaf noch einmal darüber, und wenn du morgen noch der selben Meinung bist werden wir dir deinen Wunsch erfüllen.“

In der darauffolgenden Nacht fand Immanuel keinen Schlaf. Bis zum frühen Morgen wälzte er sich in seinem Bett hin und her. Ja, er war sich ganz sicher. Er wollte Symbiont werden. Am nächsten Morgen folgte Immanuel Sunna ins Labor. Die beiden waren ganz allein.

„Hast du dir das Ganze noch mal durch den Kopf gehen lassen?“
„Ja. Die ganze Nacht.“ In Immanuels übernächtigten Augen leuchtete etwas auf wie Wind, der in ein verlöschendes Feuer bläst und die Holzstücke noch einmal aufglühen lässt.
„Ich will Symbiont werden. Es ist der radikalste Bruch zwischen mir und DENEN. Ich bin nicht wie sie. Ich will auch nicht mehr wie sie aussehen.“
„Nun gut. Durch die Symbiose mit den Anabaeana Ares wirst du dich auf der Marsoberfläche weder atmen noch essen müssen, das erledigen alles die Blaualgen für dich. Du musst nur bei längerem Aufenthalt bestimmte Stoffe zu dir nehmen die essentielle Aminosäuren enthalten weil die dein Körper nicht selbst herstellen kann. Die Knorpelspangen für die Atemflügel lassen wir aus deinen Rippen wachsen.“
Sunna legte eine bedeutungsschwangere Pause ein.
„Bist du bereit?“

Immanuel atmete schwer. Die Entscheidung, die er jetzt fällen würde, war unumkehrbar. Sein Herz pochte wild gegen die armen Rippen. Wenn die Blaualgen sich erst mal mit seiner Haut verbunden hatten, konnte man sie nie mehr entfernen. Sie bohrten sich mit schlauchartigen Ausläufern durch die Haut, bis in die Blutgefäße hinein. Ihm wurde ein bisschen schwindelig bei dem unheimlichen Gedanken. Sein Mund fühlte sich trocken an.
„Fangen wir an.“

„Zieh dich aus.“
Immanuel entkleidete sich. Sunna Masdottir holte in der Zwischenzeit Anabaeana-Gel aus dem Brutschrank.
„Damit schmierst du dich an allen Stellen ein, die du erreichen kannst. Deinen Rücken werde ich später übernehmen.“
Schweigend führte Immanuel die Anweisungen aus. Das Gel zog schnell in die Haut ein. Minuten später meinte er schon ein leichtes Kribbeln wahrzunehmen. Waren das nur seine überreizten Nerven?
„Die Bakterien wachsen ziemlich schnell. Es wird ungefähr 24 Stunden dauern, bis die ersten mit ihren Ausläufern deine Blutgefäße erreicht haben. Die Schläuche sind so dünn, dass es nicht wehtut. Das mit den Atemflügeln ist schon unangenehmer. Hast du als Kind Wachstumsschmerzen gehabt?“
Immanuel konnte sich nicht erinnern und schüttelte den eingekremten Kopf.
„Das ist so ähnlich. Wir setzen auf deinen Rippen Wachstumsfugen auf. Aus denen wachsen dann deine Atemflügel. Das dauert so drei Monate. Kann ein bisschen unangenehm werden.“
„Das halt ich schon aus.“

In den folgenden Wochen konnte Immanuel beobachten, wie seine fledermausartigen Atemflügel wuchsen. ‚Ein bisschen unangenehm’ war nicht genau das, was er spürte. Es war wie ein nie mehr vergehender Muskelkater. Der Schmerz strahlte auf seine Rippen aus und machte ihm das Atmen schwer. Nach vierzehn Tagen bekam Immanuel Fieber und musste sich hinlegen. Tage- und nächtelang war er ans Bett gefesselt, schwitzte, hatte Alpträume. Außerdem musste er sich erst noch an seine neuen flügelartigen Auswüchse gewöhnen, zum Beispiel beim Hinlegen. Das sind alles Dinge, über die man sich vorher gar keine Gedanken macht. So lange die Flügel noch kleine Flügelchen waren, gewöhnte er sich an auf dem Bauch zu schlafen. Später lernte er, sie um seinen Körper zu wickeln wie eine zweite Haut. Sunna erklärte ihm dass man sich so auf der Marsoberfläche nachts vor Auskühlung schützen konnte. Als seine Flügel voll ausgebildet waren weihte sie ihn in das letzte Geheimnis der Anpassung ein. Neue Sinne!

Immanuel lag flach auf dem Boden. Mittlerweile hatte er sich schon an seine Anpassung gewöhnt und bewegte sich routiniert und sicher auf der Marsoberfläche. Heute hatte er seine erste Mission zu erfüllen. In den Monaten seiner Anpassung war es seltsam ruhig auf Seiten der Eden-Fanatiker von Tycho Brahe geblieben. René hatte rundum robotische Späher postiert. Das einzige was sie wahrnehmen konnten war, dass sie von der Gegenseite ebenfalls beobachtet wurden. Ansonsten konnte sie keinerlei verdächtige Bewegungen wahrnehmen. Ob sie wirklich jetzt Ruhe gaben, nachdem sie die vielen Roboter erbeutet hatten? Immanuel konnte sich das eigentlich nicht vorstellen. Vorsichtig hob er seinen Oberkörper ein wenig. Er lag fünfhundert Meter vor dem ersten Außenposten von Tycho Brahe und aktivierte seinen Elektrosinn. Elefantenrüsselfische oder Zwergwelse auf der Erde konnten elektrische Felder erzeugen oder wahrnehmen. Sunna hatte darüber ihre Diplomarbeit geschrieben. Im Zuge ihrer Selbstexperimente hatten die marsangepassten Biologen auf der Eden Außenstation mit verschiedenen, Menschen normalerweise nicht zugänglichen, Sinnen experimentiert.

Angestrengt „horchte“ Immanuel auf fremde Elektrofelder. Ah ja, da haben wir ihn ja. Das typische Feld eines Scoutroboters, in 600 m Entfernung und – es bewegt sich – jaaaa – nach links, weg. Gut so! Die Spaghettis waren mittlerweile dazu übergegangen ihre Scoutroboter zu tarnen. Sie beklebten sie sehr geschickt mit, dem Marskraut nachempfundenen, Plastikblättern, so dass sie optisch auf größere Entfernung perfekt mit ihrem Hintergrund verschmolzen. Nur die elektrischen Felder der Roboter konnten sie nicht tarnen. Überdeutlich „sah“ Immanuel die elektromagnetischen Felder des Roboters, wie sie sich auf ihrem Patroulliengang weiterbewegten. Der Elektrosinn produzierte ein dreidimensionales Bild aller Elektromotoren, Kabel, des Computergehirns. Fast konnte Immanuel das Surren der Servomotoren hören oder ergänzte nur das Gehirn die ungewöhnliche Sinneswahrnehmung? Egal. Entscheidend war, dass die Felder sich wegbewegten. Er schaltete um auf Feldempfang. Jetzt konnte er die Radarstrahlen „sehen“, mit denen der Scoutroboter die Gegend scannte, auf der Suche nach – ihm? Die Radarstrahlen flirrten über ihn hinweg. Vorsichtig schob er sich auf dem Bauch weiter durchs Marskraut. Wie Nordlichter „sah“ Immanuel die suchenden, fahndenden Radarstrahlen, mal hierhin, mal dorthin huschen. Über ihn hinweg. Er kroch weiter. In größerer Entfernung „sah“ er andere Radarstrahlen des nächsten Scoutroboters, aber zu weit entfernt um ihm gefährlich zu werden. Der erste Scoutroboter blickte jetzt auch in eine ganz andere, ungefährliche Richtung.

Immanuel riskierte es sich halb aufzurichten. O.K., elektrische Felder waren jetzt keine mehr in gefährlicher Nähe. Er begann zu rennen, 100, 200, 300, 400 Meter, ließ sich wieder ins Marskraut fallen. Verharrte regungslos. Empfang: keine elektrischen Felder. Er stemmte sich hoch und blickte umher: keine optische Wahrnehmung. Umschalten auf Infrarot. Auch das, ein tierischer Sinn. Die marsangepassten Symbionten hatten grubenförmige Vertiefungen auf der Stirn. Mit diesen Vertiefungen konnten sie, ganz wie irdische Grubenottern, Wärmestrahlung wahrnehmen. Vor seinem geistigen Auge versank die Umgebung in tiefstes, samtartiges Dunkelblau – außer – jaaaa – ganz nah, nur 50 Meter entfernt erkannte er einen orangeroten Korpus. Das musste Eleonore sein. Er stellte seinen Wrist auf die vereinbarte Frequenz ein, minimale Sendeleistung.
„Elli von Immanuel. Bist du es?“
Als Antwort erhob sich der orangerote Korpus. Immanuel schaltete wieder um auf normales Sehen. Eleonore war zwei Jahre älter als er selbst. Ein 16jähriges, hochgewachsenes Mädchen, seine einzige Freundin unter den Kindern auf Tycho Brahe.

Bevor er sich erhob, sendete er noch ein „Elli von Immanuel. Erschrick jetzt nicht. Ich werde anders aussehen, als du es gewohnt bist.“ Dann erhob er sich langsam.

Elli blickte mit ihren wasserblauen Augen suchend umher. Aus dem Marskraut erhob sich in unmittelbarer Nähe ein eigenartiges Wesen, ausgestattet mit Fledermausflügeln und einem Reptilienschwanz. Sie war nicht leicht aus der Ruhe zu bringen. Ihr einziger Freund, Viktor-Immanuel, hatte ihr angekündigt, er werde „anders aussehen“ als sie es gewohnt sei. Sie ließ die Dinge auf sich zukommen.

Immanuel sprach seine einzige Freundin an. „Elli. Ich bin es. Immanuel. Ich bin jetzt ein marsangepasster Symbiont. So wie die Biologen auf Eden-Außenstation, dem Ort, von dem Auf Tycho nie gesprochen wird. Vertrau mir.“

Eleonore Anzengruber vertraute Immanuel. Sie hatte ihm schon immer vertraut. Er war das einzige Wesen, dem sie je vertraut hatte. Sie hatte gar keine andere Wahl. Wenn er ankündigte, anders auszusehen, als sie es gewohnt war, bitte sehr. Eleonore war bereit, jedes Aussehen zu akzeptieren.

Immanuel ging auf seine Freundin zu. Er meinte, ein leichtes Zögern bei ihr wahrzunehmen. Kein Wunder. Sie war schon ziemlich tapfer, seine Elli. Immerhin hatte er sich in einen „Dämon“ verwandelt, da gehörte schon eine gehörige Portion Vertrauen dazu, sich mit ihm einzulassen. Aber Elli hatte keine andere Wahl. Er war die einzige Vertrauensperson in ihrem Leben.

„Bist das wirklich du Immanuel?“ fragte sie zögernd.
„Ja. Ich lebe jetzt auf Eden-Außenstation. Die Menschen dort sehen alle so aus. Durch diese Anpassung kann ich mich ohne Hilfsmittel auf dem Mars fortbewegen.“

Elli setzte einen nüchtern-kritischen Blick auf. Zögernd streckte sie ihren Arm aus um Viktor-Immanuel zu berühren. Langsam, tastend, machte sie sich ein Bild von der neuen Gestalt ihres einzigen Freundes. „Bist das wirklich du und du nennst dich jetzt Immanuel?“
„Ja.“
Schweigen, Tasten, schweigen.
„Gut. Was machen wir jetzt?“
Immanuel fiel ein Stein von Herzen.
„Elli, hör zu. Wir werden Alltagsroboter bei euch einschleusen. Sie sollen Kontakt mit den Kindern herstellen und sie zu Toleranz erziehen.“
„Meinst du wirklich, das wird funktionieren?“

Ehe Immanuel antworten konnte überstürzten sich die Ereignisse. Etwa einen Kilometer neben ihnen drückten massive Hydraulikstempel das Bodenprofil nach oben, um eine Grube freizugeben. Immanuel und Elli konnten das schussbereite elektromagnetische Katapult nicht sehen.

Das Bombardement auf Eden-Außenstation begann. Etwa fünf elektromagnetische Katapulte schleuderten Blechbehälter mit einem brennbaren Sauerstoff-Methan-Gemisch in Richtung Eden-Außenstation. Sie detonierten in gewaltigen Feuerwalzen. Immer und immer wieder flogen die Metallbehälter gegen die Station der verhassten Feinde. Die Region um Eden-Außenstation glich einem riesigen Flammenmeer, dem Schlund der Hölle. Es war keine Lebensregung von außen mehr zu erkennen.

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Tag der Veröffentlichung: 22.10.2009

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