Nennt mich Immanuel. Ich sage mich los von dieser verlogenen und gewalttätigen Erwachsenenwelt in die ich zufällig hineingeboren worden bin, hier auf Tycho Brahe, auf dem Mars. Man gab mir den Namen Viktor Crouch – ich lege ihn hiermit ab, diesen Namen, ich will ihn nicht mehr! Man erzog mich im Geiste der allumfassenden Natur zu einem „Neuen Menschen“. Ich sollte Mitglied und Erschaffer einer neuen Welt werden, in der die alten Fehler der untergegangenen Menschheit auf der Erde nicht wiederholt werden würden. Sie haben mir nur scheinheilige Lügen erzählt. Heute musste ich mit ansehen, wie diese sogenannten „Neuen Menschen“ aus fanatischem Hass ein menschliches Lebewesen erschlagen haben, einen marsangepassten Symbionten. Das Tischtuch zwischen mir und diesen Mördern ist zerrissen! Ich bin nicht wie sie!! Wir haben NICHTS gemeinsam!!!
Die mattschimmernde Gestalt des Roboters René joggte durch das gemischtgrüne Marskraut. Gerade war der Biologe Manuel Lustiger gestorben. Manuel Lustiger hatte nicht wie ein Mensch ausgesehen, obwohl er zum größten Teil ein Mensch gewesen war. Rein äußerlich ähnelte er eher dem, was man auf der Erde einen Dämon genannt haben würde. Die Haut war schrumpelig, derb und in Grüntönen gefärbt gewesen. Aus den Rippen waren ihm große Fledermausflügel gewachsen, allerdings nicht zum Fliegen gedacht sondern zum Atmen. Sie waren, wie der restliche Körper auch, verwachsen mit mutierten, zur Photosynthese fähigen, Bakterien die für das Wesen stellvertretend in der Stickstoff-Kohlendioxid-Atmosphäre des Mars atmeten, Sauerstoff erzeugten und dafür vom Blutkreislauf mit Nährstoffen versorgt wurden. Symbiose nannte man so etwas, Koexistenz zum beiderseitigen Nutzen. Jetzt waren die Flügel zerbrochen, durch Risse in der Haut war Blut gedrungen, das Leben ausgelaufen, geronnen, verkrustet. Den Schädel hatte ein großer Stein eingedrückt, wie ein Ei. Menschen hatten das „Monster“ gesteinigt, den ehemals berühmten Biologen Manuel Lustig.
Roboter René joggte durch das gemischtgrüne Marskraut in Richtung der Marssiedlung Tycho Brahe. Er war befreundet mit dem 14jährigen Jungen Viktor Crouch, dem Sohn des religiösen Führers der „Neue Menschen“ Sekte, der den Mord mit ansehen musste. Am Haupttor angekommen, betätigte er den Schleusenknopf. Nichts geschah. Wäre René ein Mensch, würde er jetzt ärgerlich die Stirne runzeln. So aber zog er sich nur eine Fingerkuppe ab, eine drehbare Welle erschien. Darauf steckte er einen Kreuzschlitz-Bit mit dem er die Abdeckplatte der Schleusensteuerung abschraubte. Der entsprechende Kontakt war schnell kurzgeschlossen und die Schleuse öffnete sich. In der Schleuse wiederholte sich der Abschraub-Kurzschließ-Vorgang.
René sah sich einer wütenden Menschenmenge gegenüber und wurde sofort mit Schuhen, Flaschen und anderen Gegenständen beworfen. Die „Neuen Menschen“ mochten ihn nicht, denn er war kein Roboter dem man einfach nur Befehle geben konnte, sondern er war zum Bewusstsein erwacht. Er hatte gelernt selber zu denken. Befehle nahm er seitdem grundsätzlich nicht mehr entgegen.
„Was soll dieser Unsinn!“ schleuderte er unwirsch gegen die aufgebrachte Menge. „Ihr wisst genau dass ihr mir nichts tun könnt!“ „Tötet ihn!!!“ brüllte es vielstimmig, sinnlos. „Er hat dem Monster geholfen! Er ist selber ein Monster!!“ Die aufgehetzte Meute stürzte sich auf ihn, versuchte ihn zu Fall zu bringen, ihn zu schlagen, ihm irgendwie zu schaden. Sinnlos natürlich. René schüttelte sich kurz, wie ein Hund, wodurch die Angreifer gleich Wassertropfen von ihm wegspritzten. René’s Hochleistungsoptik fahndete nach einem schwarzen Lockenkopf mit meerblauen Augen. „Alex Gillespie! Ruf deine Leute zurück. Sie werden sich nur wehtun.“
Aus dem Schatten der Wand löste sich eine schlanke, durchtrainierte, schwarzlockige Gestalt. „Was willst du, Blechbüchse!“ zischte sie bösartig. Der religiöse Führer der Eden-Sekte versuchte in seine Stimme die Verachtung einer ganzen Welt zu legen. Sie war durchtränkt von Verbitterung und Hass. Verbitterung und Hass darüber, weil die „Maschine“ René sich ihm verweigerte, selber dachte, keine Befehle entgegennahm, „Nein“ sagte. René stellte seine Optik in Richtung auf Alex Gillespie scharf: „Wo ist Viktor Crouch?“ Der Hass der jetzt aus Alex brach glich einer Vulkaneruption: „VIKTOR CROUCH IST MEIN SOHN! ER HAT NICHTS MIT EINER SCHEIß MASCHINE WIE DIR ZU TUN!!“ Die Eden-Anhänger murmelten zustimmend, drohend.
René musste sich wieder ein bisschen schütteln um die lästigen Menschen loszuwerden, die ihn penetrant immer wieder ansprangen. „Viktor Crouch ist mit mir befreundet, wie du sehr wohl weißt. Es gibt jetzt genau zwei Möglichkeiten. Du sagst mir wo Viktor ist, und ich hole ihn ohne viel zu zerstören. Oder aber du sagst es mir nicht. Dann werde ich Viktor suchen und wenn ich ein paar Türen öffnen muss, werde ich mich nicht damit aufhalten es besonders materialschonend zu tun!“
Unendlicher Hass machte Alex glühend. Seine Augen flackerten, um seine Mundwinkel zuckte ein teuflisches, beinahe überirdisches Lächeln als er dem Roboter entgegnete: „Nein mein Freund, es gibt noch eine dritte Möglichkeit. Glaubst du, Blechbüchse, Repräsentant einer untergegangenen, naturzerstörenden Welt, glaubst du, Schrotthaufen, dass ich zulasse ...“ Alex atmete flach, sein Herz raste, Hitze wallte in seinem Hirn hin und her „... dass MEIN SOHN, sich mit so einem nichtsnutzigen Sack von Schrauben, gesteuert durch einen Taschenrechner, einlässt? GLAUBST DU DAS???“ Über sein Gesicht flackerten Entschlossenheit und Wahnsinn. „Lieber TÖTE ich ihn.“
Stille breitete sich aus. Der Atem von Alex normalisierte sich. Gepresst stieß er noch hinaus: „Viktor Crouch ist irgendwo hier auf der Station. Und er ist nicht allein. Wenn du, ohne dass ...“ Alex legte eine triumphierende Kunstpause ein „... ICH es dir erlaube ...“ Jetzt war sein Atem ganz ruhig geworden. Fast flüsternd fuhr er fort: „Wenn also – irgendwer – ohne meine Erlaubnis – sich Viktor nähert ...“ Alex trat noch einen Schritt vor. Dann machte er eine Geste, als wenn er sich die Kehle durchschneiden würde.
Ich befinde mich in einem geheimen Raum. Allerdings kannte ich ihn schon. Eigentlich kenne ich so ziemlich alle Gänge, Stollen und Räume hier auf Tycho Brahe. Unter den Gleichaltrigen bin ich nicht besonders beliebt, weil ich einen Roboter zum Freund habe. Daher habe ich oft Zeit allein die Station zu durchstreifen. Ich habe bemerkt, dass im Verborgenen Gänge gegraben und geheime Räume angelegt werden. Die Zugänge sind so getarnt, dass man sie nicht ohne Weiteres erkennt. Mir ist natürlich auch die Geheimnistuerei aufgefallen. Das steigerte meine Neugier ins Unermessliche! Die Geheimtür war mit einem Funkimpuls zu öffnen. Versteckt beobachtete ich wie mein Vater die Tür mit Hilfe seines Wrist öffnete. Mit meinem eigenen scannte ich das Funksignal. Leider nützt mir das hier in dem Raum hier gar nichts. Diese Türe lässt sich nicht mit einem Funksignal öffnen. Sie ist mit einem Zahlencode verschlossen. Achtung! Da nähert sich wer – es ist Sergeij Rjazanow. Ein treuer Anhänger meines Vaters. Ein bisschen doof, nicht im Sinne von dumm, eher naiv, aber als Mensch ganz O.K. Er hat mir Essen gebracht. Viel hat er mit mir nicht geredet. Er scheint irgendwie bedrückt zu sein, hat mich ganz komisch angeschaut! Aber ich habe auch kein Wort mit ihm geredet. Er ist zwar menschlich O.K., aber er gehört zu DENEN. Mit DENEN habe ich keine Gemeinsamkeiten, egal mit wem! Jetzt wo er meinen Raum wieder verlassen hat – wie könnte ich diesen Scheiß Code herausbekommen! Wie könnte ich, wie könnte ich, wie ... AAAAAH! In meinem Wrist ist eine Wärmebildkamera. Damit könnte ich doch mal die Tastatur auf Wärmespuren von seinen Fingern abscannen .... na also, wer sagts denn. Moment mal, vergrößern .... YES! Eindeutig vier Flecken die wärmer als die anderen Tasten sind. Das müssen Sergeij’s Fingerabdrücke sein. Die Zahlen sind 0 – 2 – 5 – 6. Ich habe also ein mal zwei mal drei mal vier Möglichkeiten diese Zahlen zu kombinieren. 24 Möglichkeiten. Das ist machbar!
Tödliche Stille breitete sich in dem Raum hinter der Schleuse aus. René konnte es nicht fassen. Er hatte sich gerade die Aufzeichnung noch einmal vorgespielt, aber nein, er hatte sich nicht verhört. „Du würdest deinen eigenen Sohn lieber töten? Habe ich dich da richtig verstanden?“ Alex Gillespie schwieg bedeutungsvoll. Auch seine Anhänger gaben keinen Mucks von sich, schauten allerdings vereinzelt verunsichert. Die Ankündigung seinen eigenen Sohn lieber zu töten als ihm weiter den Umgang mit dem Roboter zu gestatten konnte auch nicht jeder Anhänger nachvollziehen. René kam zu dem Schluss das er Alex ernst nehmen musste. Er kannte ungefähr die Dimensionen der Siedlung Tycho Brahe. Seit 20 Jahren gruben sie Stollen um Stollen. Auch wenn er stärker und schneller als jeder Mensch war, auch wenn er alle technischen Möglichkeiten ausnutzte über die er verfügte, in Tycho Brahe lebten 28 Erwachsene und 58 Kinder. Er konnte niemals Viktor finden bevor sie Gelegenheit hätten ihn zu töten! Und Alex war das zuzutrauen!! René beschloss sich zurückzuziehen. Ohne weitere Worte zu verlieren drehte er sich um und verließ die Station.
2065 – Das Jahr in dem mein Vater auf dem Mars ankam. Das war ja nicht besonders schwierig! O.K. die Tür ist jetzt offen. Links oder Rechts? Nach links geht es in den bekannten Teil der Station zurück. Also Rechts. Mal sehen wohin der Gang führt ...
René begab sich zu den sechs Landeeinheiten mit denen er in der Nähe von Tycho Brahe vor 14 Jahren aufgeschlagen war. Jede Landeeinheit war von einem humanoiden Allrounder wie ihm aus der MDLVZR-3300er Serie geflogen worden. Allerdings war leider keiner von ihnen zu Bewusstsein erwacht. Sie waren tote Maschinen geblieben, gesteuert von intelligenten Computern. Trotzdem hatte René ihnen Namen gegeben, so wie Anna Gavalda ihm einen Namen gegeben hatte. Er hatte sie nach den, noch auf der Erde von Aufständischen getöteten Piloten benannt: Alan Bennett, Aravind Adiga und Yu Chien Kuan. Die beiden anderen hatte er Anna Gavalda und Michail Scholochow genannt. Konnte sich ein Roboter einsam fühlen? René war sich nicht sicher, er wusste eigentlich nicht wie sich „Einsamkeit“ anfühlte, niemand konnte es ihm erklären. Auf jeden Fall fühlte er sich wohler wenn seine „Verwandten“ Namen hatten, auch wenn er sich nicht vernünftig mit ihnen unterhalten konnte. Jetzt rief er sie zu sich. Warum eigentlich? Er konnte sich mit ihnen nicht beraten, sie waren nur „dumme Blechbüchsen“! Frustriert schickte er sie wieder weg mit dem Auftrag, nach Viktor Ausschau zu halten und ihn, sollte er sich irgendwo zeigen, sofort hierher in Sicherheit zu bringen. Wer weiß, Viktor war ein schlauer Junge, vielleicht konnte er ihnen ja irgendwie entwischen! René wusste was er jetzt zu tun hatte. Er musste den Leichnam des ermordeten Wissenschaftlers Manuel Lustiger zu dessen Leuten auf der Eden-Außenstation bringen. Der Biologe hatte ihnen vor seinem Tode von fünf weiteren Symbionten auf dieser Station erzählt. Wie würden sie auf die Nachricht von dem Mord reagieren?
Immanuel, vormals Viktor, wanderte zwei Stunden lang bis er das Ende des Ganges erreicht hatte. In seinem Wrist speicherte er eine dreidimensionale virtuelle Karte von Tycho Brahe. Den geheimen Gang mit dem Raum fügte er schon vor Monaten, als er ihn frisch entdeckt hatte, ein. Davon ausgehend versuchte er Entfernung und Distanz zu schätzen um sich über seine ungefähre Position im Klaren zu werden. Er musste sich schon außerhalb des normalen Stationsgeländes befinden, irgendwo in der Nähe der Aufschlagsregion von René’s Landeeinheiten. Immanuel stand wieder vor einer, ungesicherten Tür. Sie zu öffnen bereitete keinerlei Schwierigkeiten. Dahinter befand sich eine ziemlich große, grob ins Gestein gehauene, Halle. Sie mochte ungefähr 200 auf 200 Meter Grundfläche haben. Überall waren steinerne Streben zurückgeblieben. Wenn Immanuel jemals vorher eine Tropfsteinhöhle gesehen hätte, würden er die Halle für eine solche halten.
Was soll das? So eine riesige Halle? Was soll das für einen Zweck haben? Ist hier irgend ein Stoff abgebaut worden? Die Halle sieht irgendwie instabil aus.
Immanuel wandelte durch einen Wald aus zusammengewachsenen Stalagtiten und Stalagmiten.
Mühelos hatte René die Stelle mit dem zurückgelassenen, ermordeten Biologen wiedergefunden. Ebenso mühelos hatte er den zerschlagenen Körper auf seine Arme gehoben und im Laufschritt den Weg nach Eden-Außenstation zurückgelegt. Einmal darauf aufmerksam gemacht, hatte er in den Datenbeständen von Tycho Brahe Aufzeichnungen über die genaue Lage der Außenstation gefunden. Jetzt stand er von dem Eingangstor. Er stand da. Er suchte in seinen Speichern nach irgend einer Hilfe, wie er sich jetzt am Besten verhalten sollte. Die Auskünfte auf seine Suchanfrage waren verwirrend. So viele Totenriten, so viele Möglichkeiten diese, für die Hinterbliebenen sicher schmerzliche, Nachricht auszudrücken – aber vor allem so viele Tabus, so viele Möglichkeiten genau das Falsche zu sagen!
Das Tor öffnete sich langsam. René war noch immer nicht zu einem Entschluss gekommen, wie er sich am vernünftigsten verhalten sollte oder wie er am wenigsten Schaden anrichten könnte. Nach dem er sich nicht für eine positive Handlung entscheiden vermochte blieb er einfach stehen, den toten Manuel Lustig auf den Armen.
Immanuel fielen Auswüchse auf die ungefähr in der Mitte der Steinstreben angebracht waren. Die Auswüchse hatten ungefähr die Größe und Dicke seiner Hand. Immanuel befühlte sie. Sie waren weich, eine weiche Masse. Auf jeder Steinstrebe befand sich so eine eigenartige Masse, wie angeklebt. In jeder Masse steckte ein Draht. Die Drähte liefen zusammen, lagen auf dem Boden, vereinigten sich. Was hatte das zu bedeuten? Immanuel verfolgte die Drähte. Alle Drähte vereinigten sich schließlich zu einem Hauptstrang der in einer Art Schaltkasten endete. Immanuel stand sinnend vor diesem Schaltkasten. Auf der Vorderseite prangte eine zersplitterte Kugel. Manuel kannte das Zeichen. Sie hatten es ihm von frühester Jugend an eingeprägt. Die zersplitterte Kugel war das Zeichen für Sprengstoff!
Aus dem geöffneten Maul der Schleuse traten fünf „Dämonen“ ins Freie. Stumm schauten sie auf den mattschimmernden Roboter mit ihrem toten Artgenossen auf den Armen. René legte Manuel Lustig auf den Boden und trat einen Schritt zurück. Die „Dämonen“ näherte sich dem Toten. Sie ließen sich auf die Knie nieder, betasteten den zerschlagenen Körper. Tränen rannen ihnen über die Wangen. Schließlich sagte einer von ihnen: „Ich habe immer gewusst, dass es einmal so weit kommen würde. Irgend wann einmal wird immer der erste Ketzer verbrannt, das war schon immer so.“ In René’s Kopf sirrte es: Check – Ketzer – Anhänger einer von der Kirche abweichenden Lehre – was? „Was ist ein Ketzer?“ Fragte er verwirrt, oh, nicht vergessen: Trauersituation. „Herzliches Beileid!“ fügte er an, eine mit hoher Wahrscheinlichkeit sinnvolle Aussage.
Sprengstoff! Wo genau befinde ich mich? Immanuel blickte sich erschrocken um. Da! Eine Schleuse. Dahinter eine Metalltreppe. Immanuel schleuste sich ein. In der Schleuse hingen an Haken an der Wand zwei Druckanzüge. Er zwängte sich hastig in einen hinein und stürzte die Treppe hinauf. Sie endete unter einem Stahldeckel. Unterstützt durch einen Gasdruckdämpfer stemmte Immanuel den Deckel hoch, bis er aus einem Spalt heraussehen konnte. Er befand sich jetzt an der Oberfläche. Ein Rundblick brachte ihm Gewissheit. Die Halle mit den Sprengstoffgespickten Steinstreben befand sich genau unter der Landestelle von Renés Landeeinheiten!!! Mit einem Ruck schlug Immanuel die getarnte Klappe zurück, stemmte sich am Rand hoch und lief auf die nächste Landeeinheit zu.
Die fünf marsangepassten Symbionten blickten von ihrem Toten hoch. Es war aber auch befremdlich, wenn ein Roboter einem „Herzliches Beileid“ wünschte. Sie waren natürlich über die Landung der Roboter informiert. Seit Jahren streiften sie in der Gegend umher um zu beobachten. Sie wussten, dass René kein gewöhnlicher Robot war und er gegenüber den Eden-Fanatikern ein Eigenleben führte. Erwartungsvoll stumm blickten sie ihn an. René wusste nicht genau, was er tun sollte. Also begann er zu erzählen.
MDLVZR-3337 - Aravind Adiga registrierte den Alarm der Dopplersono Geländeüberwachung. Eine Person näherte sich seiner Landeeinheit. Seine Hochleistungsoptik zoomte – Check – leichter Druckanzug, schnelle Annäherung, Arme fuchteln in der Luft. Voralarm. Aravind Adiga alarmierte die anderen MDLVZRler. Dann schleuste er sich aus und näherte sich dem Eindringling. Check – Zoom – Bei dem Eindrickling handelt es sich um Viktor Crouch. Check – Aufgabenstellung von René: Viktor Crouch ist gefunden! Aravind Adiga informierte die anderen MDLVZRler und Roboter René über Funk von seinem Erfolg.
René stockte in seiner Erzählung. Die menschlichen Marssymbionten wunderten sich. Warum erzählte der Roboter nicht weiter? Er war ein potentieller Verbündeter gegen die Fanatiker. Wenn sie zusammenarbeiteten könnte die Eden-Außenstation sich wunderbar Entfalten.
Übertragung von MDLVZR-3337 - Aravind Adiga – Viktor Crouch gefunden und in Sicherheit – Botschaft von Viktor Crouch an René – Störgeräusche, Pfeifen, Brummen, dann eine abgehackte Stimme: „René!!! Sie haben den Boden unter den Landeeinheiten unterminiert und Sprengstoff angebracht!!!!! Wenn sie den zünden, stürzen alle Landeeinheiten mit allen Robotern in ein riesiges Sprengloch!!!!!!!!“
Check – Viktor Crouch zweifelsfrei identifiziert? – Check – Ja – Aussage daher ernstzunehmen. Gegenmaßnahmen: 1. Evakuierung aller Robotereinheiten zur Eden-Außenstation. 2. Entschärfung der Sprengladungen 3. Viktor Crouch unbedingt sicher zur Eden-Außenstation verbringen.
MDLVZR-3337 - Aravind Adiga bestätigte und wiederholte den Einsatzbefehl. Er beauftragte die anderen MDLVZRler mit der Evakuierung. Dann wandte er sich auf den aufgeregten, stoßweise atmenden, Viktor, der sich jetzt eigenartigerweise Immanuel nannte.
„Ich soll die Sprengladungen entschärfen. Wo sind sie? Wie kann ich sie entschärfen?“
„Komm mit, ich zeige es dir!“
„Nein. Du wirst nicht mitkommen. Du darfst auf Anweisung von René nicht gefährdet werden.“
„Aber ich weiß wie man sie entschärft! Bis ich es dir erklärt habe kann es zu spät sein!! Sie verfolgen mich bestimmt!!!“
Aravind Adiga überlegte. Check – Wahrscheinlichkeit Verfolgung gegeben – Priorität Sicherheit von Viktor-Immanuel. Seine stählerne Hand ergriff Viktor-Immanuel am Kragen um ihn an der Flucht zu hindern. Aravind Adiga beauftragte MDLVZR-3335 - Alan Bennett mit der Entschärfung der Bomben, packte sich Viktor-Immanuel wie einen Sack Reis auf die Schultern und trabte in Richtung Eden-Außenstation davon.
„Viktor-Immanuel ...“
„Ich heiße nicht mehr Viktor!!!!!“
„O.K. Immanuel. Ich bringe dich in Sicherheit zur Eden-Außenstation. Das hat Priorität. Ich habe Funkverbindung mit MDLVZR-3335 - Alan Bennett der die Bomben entschärfen wird. Alles was du mir sagst kann er mithören und wird ihm nützen.“
„Ich will die Bomben selber entschärfen! Bis ich dir das erklärt habe kann es zu spät sein!“
„Auf Anweisung von René darf Viktor – Entschuldigung – Immanuel nicht gefährdet werden.“
Stur rannte der Roboter weiter. Unbeeindruckt vom Gezeter des Jungen auf seiner Schulter. Aus den Landeeinheiten begannen sich Karawanen von unterschiedlichsten Robotern zu ergießen. Humanoide, skurrile, lange, dicke, breite, undefinierbare. Ein vielgestaltiger Wurm, auf unzähligen Rollen, mit Fühlern, Armen, Antennen, beweglichen Werkzeugen, wälzte sich dem Paar Aravind-Immanuel hinterher, rostroten Staub aufwirbelnd. Der humanoide Roboter MDLVZR-3335 - Alan Bennett war schon längst über den Sand gewieselt und in der Klappe, aus der Immanuel erschienen war, verschwunden. An den Sprengstoffkontrollen, in der Tropfsteinhöhle, hatte er begonnen Kabel herauszuziehen als die ersten Eden-Fanatiker eintrafen. Er war nicht vorbereitet auf die menschenverachtende Dynamik religiöser Fanatiker. Der Robot Alan Bennett versuchte gerade einen angreifenden Menschen, ohne ihn über Gebühr zu verletzen, wieder in den Gang zurückzuwerfen als ein anderer die Sprengladungen auslöste.
Fünfhundert Sprengladungen detonierten und brachten die Höhle unter den Landeeinheiten zum Einsturz. Der Boden unter den sechs Landeeinheiten bekam Risse und brach ein. Die Landeeinheiten versanken mit den Robotern die noch nicht evakuiert waren oder die noch nicht weit genug geflohen waren und wurden unter Felstrümmern begraben. Rostroter Staub wirbelte auf und schwebte noch stundenlang in der Marsatmosphäre, ehe er sich langsam auf einen gigantischen Schrottplatz und Grab von fünf Eden-Fanatikern senkte.
Tag der Veröffentlichung: 31.08.2009
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