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Wir schreiben das Jahr 2069. Die Menschliche Zivilisation hat sich im Inferno der Klimaerwärmung selbst zerstört. Seit 2061 sind mittlerweile fünf Expeditionen, insgesamt 52 Menschen, auf dem Mars gelandet und haben drei Siedlungen gegründet.

Die erste Siedlung hieß Tycho Brahe. In ihr hat mittlerweile eine religiös-fundamentalistische Sekte die Macht übernommen die sich „Eden“ nennt und den Mars in eine neue Erde verwandeln will.

In der zweiten Siedlung, „Eden-Außenstation“, leben sechs Wissenschaftler, unter ihnen der berühmte Biologe Manuel Lustig. Durch ein missglücktes Experiment wurden sie zu Marssymbionten. Ihre Haut wurde von einer mutierten, ursprünglich von der Erde stammenden, Grünalge befallen die photosynthetisch Sauerstoff erzeugt und ihrem Blutkreislauf zufügt. Die sechs Marssymbionten können in der Kohlendioxidatmosphäre des Mars ohne Atemgeräte überleben.

Vierzehn Menschen und ein marsgeborenes Baby hatten sich mit fünf Ballons von den totalitären Eden-Fanatikern abgesetzt und New York Mars, gegründet. Zwei von ihnen sind auf dem Anflug mit ihrem Ballon verunglückt.

Die fünfte und letzte Marsmission war auf dem Mars angekommen. Eigentlich wollten sie bei Tycho Brahe landen denn sie wussten nichts von irgend einer anderen Siedlung auf dem Mars. Aber die indische Computerspezialistin Hardeep Kaur hatte sich in die Computer eingehackt und landete die Raumschiffe zwangsweise in der Nähe von New York Mars.




Anna Gavalda krampfte sich in ihrem Sessel fest. Panische Angst schnürte ihr die Kehle zu. Die Landeeinheit von Mars 51 raste auf den Marsboden zu. Bremsraketen explodierten, erschütterten und rüttelten das Fluggerät durch. Sie durchstießen die Flammenwolke ihrer Bremstriebwerke, dem Erdboden entgegensinkend. Neben Anna saß Michail Scholochow, russischer Astronaut und ehemaliger Geheimagent. Seine graumelierten Haare, die braunen, sanften Augen und vor allem seine ruhige, gelassene Haltung, beruhigten Anna ein wenig. Anna Gavalda war keine Astronautin. Sie war Chairwoman von EADS. Sie war nie dafür vorgesehen gewesen, zum Mars zu fliegen. Der Weltraumbahnhof Ottobrunn war von Aufständischen überrannt worden, die anderen Piloten getötet, sie selbst um ein Haar vergewaltigt. Dann waren die Befestigungsstränge des Space-Elevator, dessen oberes Ende der Weltraumbahnhof war, gesprengt worden. Sie hatte nicht mehr auf die Erde zurückgekonnt. Glück? Auf ihrem einjährigen Flug zum Mars empfingen sie Funksprüche, die den Schluss nahe legten, dass die Menschen auf der Erde sich gegenseitig zerfleischten. Wer weiß, ob sie, zurückgekehrt auf die Erde, noch am Leben wäre? Aber jetzt war sie schon wieder in der Hand von Aufständischen die ihre Raumschiffcomputer gehackt, sie gekidnappt hatten! Die Abtrünnigen von New York Mars landeten die Raumschiffe ferngesteuert. Namenlose Angst hatte Anna ergriffen. Was würden diese Marsaufständischen mit ihnen anfangen? Mit einem gewaltigen Ruck schlugen sie auf dem Marsboden auf. Hunderte Meter schoss eine Staubfontäne empor. Im Minutentakt schlugen die anderen Einheiten der Raumschiffe rings um sie her auf. Jedes Raumschiff bestand aus sechs Landeeinheiten. Nach eineinhalb Stunden waren die, insgesamt achtzehn, Landeeinheiten glücklich am Boden. Langsam senkte sich die gewaltige Staubwolke.

„Anuschka.“ Michail Scholochow wandte sich zärtlich an Anna. Auf dem einjährigen Flug waren sie eine Art Paar geworden. Michail war sich nicht so ganz sicher, ob es von Annas Seite her nicht vielleicht eher eine Art Zweckgemeinschaft war; sie war einsam, traumatisiert, oder ob es wirklich eine echte Beziehung war. „Kann ich dich für eine kurze Zeit allein lassen?“ „NEIIIN!!!“ Anna riss die Augen weit auf und starrte ihn entsetzt an. “Anuschka, es ist nur für eine kurze Weile. Ich möchte gerne die Eingänge von so vielen Landeeinheiten wie möglich verriegeln, bevor die Aufständischen da sind. Wenn sie nicht an die Raumschiffe ran können, haben wir eine Verhandlungsmasse.“ In Annas Hirn kämpften zwei Frauen. Die eine sagte, natürlich ist das ganz vernünftig was Michail sagt. Die andere war voll panischer Angst und wollte auf keinen Fall allein gelassen werden. Anna schloss krampfhaft die Augen. Kalte Schweißperlen rannen über ihr Gesicht. Gepresst atmete sie ein und aus. „Gut.“ Stieß sie hervor. „Verschließ die Landeeinheiten und komm so schnell wie möglich wieder zurück.“ Chairwoman Gavalda hatte über das kleine, ängstliche Mädchen Anna triumphiert.

Lin Piao und Hershel Goodwin näherten sich der Landestelle mit einem Rover. Die Staubwolke hatte sich immer noch nicht verzogen. Sie sah wie ein rostroter Berg aus. Einzelteile der achtzehn Landeeinheiten stachen wie silbrige Berggipfel aus diesem Staubgebirge hervor. Gott-sei-dank hatte Hardy Kaur es geschafft, sich in die Computer, wenigstens von drei der vier Raumschiffe einzuhacken. Es stand nicht gut um New York Mars. Sie hatte ganz am Anfang schon zwei Tote beklagen müssen, die mit ihrem Ballon in die 7.000 Meter tiefe Schlucht der Valles Marineris gestürzt waren. Die Ressourcen, die Roboter, welche mit der fünften Marsmission angekommen waren, stellten einen wichtigen Faktor im Überlebenskampf dar. Hoffentlich konnte sie sich mit den menschlichen Astronauten verständigen. Immerhin waren die gegen ihren Willen hierher entführt worden.

Michail Scholochow stand hinter dem Sessel in dem Anna, klein und verzagt, sich verkrochen hatte. Seine muskulösen Arme hielten ihre Schultern ganz fest. Auf dem Bildschirm beobachteten sie, wie sich ein einzelnes Fahrzeug von der Rebellenstation New York Mars näherte. Michail war misstrauisch. Geheimdienstleute waren immer misstrauisch. Ein Leben lang darauf getrimmt, andere hinters Licht zu führen, Fallen zu stellen, ein Leben im Verborgenen zu führen, versuchte man ständig Witterung aufzunehmen vom Gegner der einen hinters Licht führen wollte, Fallen stellte, im Verborgenen lauerte. Der fremde Rover hielt in respektvoller Entfernung an. Das Funkgerät erwachte zum Leben. „Mars 51 von New York Mars Rover.“ Anna zuckte zusammen. “Hier Mars 51. Was wollen Sie?” „Willkommen auf dem Mars, Mars 51. Entschuldigen sie bitte die unangenehmen Umstände ihrer Landung.“ „Sie meinen den Piratenüberfall auf uns, New York Mars Rover.“ „Das kann ich Ihnen erklären, Mars 51. Darf ich an Bord kommen?“


Michail Scholochow überlegte. „LASS SIE NICHT AN BORD KOMMEN!!!!!“ verlangte Anna ängstlich. „Schhhhhh“ machte Michail beruhigend. Auf mehreren Monitoren konnte er die Gegend um die Landestelle herum beobachten. Scheinbar kein Hinterhalt. So wie es aussah, war wirklich nur ein Fahrzeug gekommen. Das ließ auf friedliche Absichten schließen – wenn er nicht etwas übersehen hatte. Michails Hirn lief auf Hochtouren. Er durfte auf keinen Fall etwas übersehen! Hier auf dem Mars waren sie ganz allein. Er war für die Sicherheit von Anna verantwortlich. Er würde sie mit seinem Leben verteidigen. Nun gut. Wenn wirklich nur einer reinkam, mit dem würde er zur Not fertig werden. Michail hatte in seinem Beruf schon eine ganze Menge Menschen töten müssen. Zuletzt während des Überfalls auf den Ottobrunner Weltraumbahnhof. Er konnte sich eigentlich nicht vorstellen, dass es auf dem Mars eine Einzelperson gab, die es mit ihm aufnehmen konnte. „In Ordnung, New York Mars Rover. Eine Person kann an Bord kommen.”


Hershel Goodwin erregte sich. „Das kann dieser kleine Wixer vergessen! Du wirst da nicht allein reingehen. Wer weiß, vielleicht ist das auch einer von diesen Eden-Spinnern.“ „Hershel“ Lin Piao fasste den afroamerikanischen Geologen am Oberarm. „Die sind gerade von uns entführt worden. Wir müssen ihr Vertrauen gewinnen. Was glaubst du, wie vertrauenswürdig sehen wir aus wenn ich mir dir im Schlepptau da aufschlage und du wild mit den Augen rollst?“ Hershel knischte mit den Zähnen. Seine Kinnmuskeln arbeiteten. Es gefiel ihm zwar nicht, aber er musste Lin Piao Recht geben.

Einsam stapfte Lin Piao über die staubige Schotterebene. Die Landeeinheit ragte vor ihm aus dem Rostsand. Durch den aufgewirbelten Staub sah es so aus, als ob sie da schon seit hundert Jahren liegen würde. Sie sah aus wie eine klassische „Fliegende Untertasse“. Eine flache Scheibe, auf der sich eine Halbkugel mit Bullaugen befand. Oben auf der Halbkugel thronte die durchsichtige Kanzel der Steuerzentrale. Der Ring war mit Hilfe eines Magnetlagers berührungsfrei drehbar an der Halbkugel befestigt. Während des Landevorganges wurde er durch die schwenkbaren Bremsdüsen in eine kreisende Bewegung versetzt. Der so erzeugte Gyroskopische Effekt stabilisierte das Fluggerät beim Landevorgang.
Auf halber Höhe erblickte er eine Einstiegsluke. Trotz seiner 58 Jahre kletterte er behände wie eine Eidechse an der Landemaschine empor. Ein Magnetventil klickte, und die Tür schwang nach Innen auf.

Die kleine, ängstliche, Anna hätte sich am liebsten in Rauch verwandelt um im nächsten Lüftungsschacht zu verschwinden. Aber Chairwomen Gavalda von EADS straffte ihren Oberkörper und befreite sich aus den schützenden Armen Michails. Mit Todesangst unter der dünnen Haut der Chairwoman, stellte sie sich aufrecht hin und erwartete ihr Schicksal. Michail blickte neugierig, wachsam, den Körper angespannt, eine Pistole auf seinem Rücken im Hosenbund in Richtung Schleuse. Ein Raumanzug stapfte herein, nicht besonders groß oder bedrohlich. Enthelmt, streckte sich ihnen ein brauner, schrumpeliger, mandeläugiger, grauhaariger Kopf entgegen, wie von einer Schildkröte. Hundert Falten verzogen sich zu einem freundlichen Lächeln, der Schrumpelkopf sagte: „Willkommen auf dem Mars. Ich bitte Sie vielmals um Entschuldigung für die Umstände ihrer Landung. Hören Sie mich bitte an.“ Anna entspannte sich. Dieses braune, höfliche Schrumpelmännchen hatte keinerlei Ähnlichkeit mit den mörderischen Vergewaltigern von Ottobrunn-Weltraumbahnhof. Michail schielte in seine Monitore. Der Rover blieb an seinem Standort und bewegte sich nicht. Auf keinem anderen Bildschirm war eine Bewegung zu erkennen. Alles safe! Er fixierte das braune Schrumpelmännchen, das an Bord gekommen war. Man durfte sich nicht von einem scheinbar harmlosen Äußeren täuschen lassen. Aber vorerst schienen sie nicht in unmittelbarer Lebensgefahr zu schweben. Michail entspannte sich nicht, aber er war bereit zuzuhören. Lin Piao lächelte. Und er begann zu erzählen und zu erklären.

Am Ende war Michail noch nicht überzeugt. Nur etwas beruhigt. „Wir möchten vorerst in unserer Landeeinheit bleiben. Wir werden versuchen, über Marssatelliten mit Tycho Brahe Kontakt aufzunehmen und uns auch deren Version der Geschichte anhören.“ Lin Piao war nicht enttäuscht. „Selbstverständlich. Ich bin froh, dass wir uns nicht im Zustand der Feindschaft befinden.“ Damit zog er ab. Anna Gavalda reichte ihm zum Abschied ihre Hand.


„Wieso geht das alles so schnell?“ Svetlana Ajvazova, die russische Physikerin mit dem schönen Gesicht einer Schauspielerin, assistierte ihrer Freundin, der Biologin Lidia Finkelstein im Labor. „Was meinst du mit schnell?“ Fragte Lidia zurück. „Diese ganze Begrünung des Mars. Ich meine, das ist doch ein ganzer Planet! Vor nur vier Jahren haben diese Eden-Spinner begonnen, Anabaeana-Bakterien auszustreuen. Das war auf Olympus Mons, 5.000 km von hier entfernt. Jetzt hat das Grünzeug uns schon erreicht. Wie ist das möglich?“ Die naturreligiöse Eden-Sekte mit ihrem Guru Alex Gillespie hatte, genetisch veränderte, Sauerstoff produzierende, sogenannte Grünalgen auf den Mars geschmuggelt. Sie wollten damit den Mars begrünen und in eine neue Erde verwandeln. Die Grünalgen breiteten sich rasend schnell aus, der Mars begann tatsächlich allmählich grün zu werden. Es war wie anbrechender Frühling!

Lidias Antwort kam prompt: „Lebende Organismen verbreiten sich, solange ihr Lebensraum nicht begrenzt wird, exponentiell. Eine Anabaeana teilt sich alle paar Stunden. Nehmen wir, der Einfachheit halber mal an, alle sechs Stunden, also vier mal am Tag. Wenn ich mit einer Zelle anfange, habe ich am Ende des ersten Tages sechzehn Zellen. Am Ende des zweiten Tages sind es aber schon 256 Zellen, am dritten Tag 4096 und so weiter.“ Svetlana hatte, als Physikerin, eine Vorstellung von Exponentialfunktionen. Das leuchtete ihr ein. Nach hundert Tagen ergab das nach diesem Muster – sie tippte in ihren Taschenrechner – 2,5822 mal 10 hoch 120 – eine Zahl mit 120 Nullen hinter dem Komma! Und hundert Tage sind noch nicht einmal ein halbes Jahr!! Svetlana murmelte: „Vier Erdenjahre sind 1.460 Tage, mal vier macht ungefähr 5.840 Vermehrungszyklen.“ Ihre Finger tippten Zwei hoch 5.840 – der Taschenrechner antwortete mit „Overflow Error“. Lidia hatte Svetlanas Berechnungen mit einem feinem Lächeln beobachtet. „Das überfordert deinen Taschenrechner. Zu viele Stellen, die Zahl ist einfach zu groß!“ Aber die Physikerin Svetlana Ajvazova hatte sich bereits festgebissen. Taschenrechner überfordert? Lächerlich! Entschlossen griff sie zu Papier und Bleistift. Fünf Kritzelzeilen später verkündete sie das Ergebnis: „Nach vier Jahren macht das 1,26 mal 10 hoch 1.758 Zellen.“ Lidia war verblüfft. „Wie hast du das jetzt angestellt?“

Svetlana richtete ihre schönen Augen auf die Freundin und dozierte: „Logarithmen. Damit hat man gerechnet, bevor es Taschenrechner gab. Also, ich will Zwei hoch 5.840 in eine Zehnerpotenz umwandeln. Dann schreibe ich: Zehn hoch x ist gleich Zwei hoch 5.840. Dann ist x gleich dem Zehnerlogarithmus von Zwei hoch 5.840 beziehungsweise 5.840 mal Zehnerlogarithmus von Zwei. Den Zehnerlogarithmus von Zwei liefert mir mein Taschenrechner, dafür hatte man früher ein Tafelwerk zum Nachschauen. So, mal 5.840 macht das ungefähr 1758,01. Zehn hoch 1.758,01 ist das Gleiche wie Zehn hoch 1.758 + 0,01 oder Zehn hoch 1.758 mal Zehn hoch 0,01. Zehn hoch 0,01 übersteigen nicht die Fähigkeiten meines Taschenrechners, das macht ungefähr 1,26. Voila!“

„Wow!“ Lidia war beeindruckt. „Du kannst Sachen ausrechnen, die deinen Taschenrechner überfordern! Du fragst dich wahrscheinlich, warum sich die Grünalgen auf der Erde nicht so schnell vermehren. Die Antwort ist relativ einfach. Auf der Erde müssen die Grünalgen mit anderen Lebewesen um den gleichen Lebensraum konkurrieren. Hier auf dem Mars gibt es kein konkurrierendes Leben. Also können sich die Bakterien exponentiell ausbreiten, bis irgend etwas dieses Wachstum begrenzt.“

Ein Scoutroboter rollte summend ins Labor. Er sah aus, wie eine Kreuzung zwischen fliegender Riesenheuschrecke und Weinbergschnecke auf sechs Rädern. Vier Stück, Lederstrumpf 1 bis 4 benannt, waren in der Umgebung von New York Mars unterwegs, um sich umzusehen. „Svetlana, schaust du mal bitte was uns unser geschätzter Lederstrumpf 1 mitgebracht hat?“ Der Scoutroboter war auf eine ungewöhnliche Lebensform gestoßen. Es war nicht ganz klar um was es sich handelte, seine Rückmeldung war widersprüchlich gewesen. Die „Grünalge“ hatte sich angeblich bewegt! „Möglicherweise vergleichbar mit der irdischen, beweglichen, Kieselalge Navicula.“ hatte der Robot zuletzt rückgemeldet. Svetlana Ajvazovas dunkelblonde Locken waren hochgesteckt. Nur an den Schläfen ringelten sich ein paar Strähnen dekorativ herunter. Sie öffnete eine Klappe im Bauch vom Lederstrumpf, in dem er seinen Fund deponiert hatte.

„AAAAAAAAAAAAAAAAAHHHHHH! Verflucht, das tut so weh!!!!“ Erschrocken drehte Lidia sich nach ihrer Freundin um. Svetlanas schönes Gesicht war mit dunkelroten Pusteln übersäht die offensichtlich höllisch schmerzten. Aus dem Materialschacht des Robots kroch eine Art grüner Pfannenkuchen heraus. „AAAAAAAAIIIIIIIIIIHHHHHH!“ Lidia sah, wie sich auf der Oberfläche des Pfannenkuchens feine Bläschen bildeten, aus denen so etwas wie winzige Stacheln in Richtung Svetlana geschleudert wurde. Das erinnerte Lidia an Nesselkapseln, wie sie auch von bestimmten Quallen zum Lähmen oder Töten ihrer Beute benutzt wurden! Sie versuchte die, sich vor Schmerzen windende, fast blinde, Svetlana an den Schultern zu packen und in Sicherheit zu bringen. Wieder eine Nesselattacke! „Lederstrumpf! Fang das Biest wieder ein!“ Der Robot klappte einen Greifarm aus und versuchte den grünen Pfannenkuchen wieder in seinen Materialschacht zurückzubefördern. Doch der teilte sich einfach als die Schaufel ihn berührte. So oft der Robot auch versuchte ihn zusammenzukratzen, teilte sich das Wesen in immer kleinere Untereinheiten die zielstrebig auf Svetlana zukrochen. Lidia schleppte die keuchende und wimmernde Physikerin aus dem Labor und verschloss die Türe. Das Wesen musste so etwas Ähnliches wie eine Staatsqualle sein, ein Tier, das sich aus vielen Einzeltieren zusammensetzte. Siphonophorae, wie zum Beispiel die „Portugiesische Galeere“. „Svetlana, Liebes, ich muss dich jetzt hier kurz hinlegen. Geht es einigermaßen? Ich muss Doktor Lin Piao finden damit er dir helfen kann!“ Lidia legte einen, zunehmend erschlaffenden, sich mit immer mehr Pusteln bedeckenden, Körper auf den Boden. Sie sprach in ihren Wrist, eine Art Multifunktionsgerät am Handgelenk. „Rundruf an alle. Medizinischer Notfall. Ich brauche unbedingt Lin Piao vor dem Biologielabor. Hier hat es eine Nesselattacke gegeben!“ Der schlaffe, gekrümmte, zitternde Körper von Svetlana Ajvazova wimmerte erbärmlich. Lidia hatte große Angst um ihre Freundin. Svetlana war bei der Geburt ihres Sohnes Aaron dabei gewesen. Sie durfte einfach nicht sterben! Was war mit ihr? Lidia versuchte mit zitternden Händen bei Svetlana einen Puls zu finden. Pulste der Kreislauf? Sie war sich nicht sicher. Verzweiflung überschwemmte Lidia wie ein glühender Sturzbach. Musste sie ihre Freundin jetzt reanimieren? Sie hatte so etwas noch nie gemacht! Lidia hatte furchtbare Angst, etwas falsch zu machen doch da – ganz leise – meinte sie einen Puls zu spüren. Gott sei dank, Svetlana lebte noch. Hoffentlich!

Lin Piao, der alte chinesische Arzt, keuchte um die Ecke. In der Hand schleppte er eine Notfalltasche. In seinem Schlepptau kamen noch weitere Bewohner von New York Mars. „Schnell, Lidia, hol Wasser. Wir müssen so viel Gift wie möglich abwaschen oder verdünnen!“ Natürlich! Heiß durchlief es Lidia – dass sie nicht selbst daran gedacht hatte! Aber wo Wasser hernehmen! Ins Labor wagte sie sich nicht mehr so lange sie nicht sicher wusste, dass dieses grüne marsianische Nesseltier sicher eingesperrt war. Lin Piao kniete neben Svetlana und kontrollierte Atmung und Kreislauf. Svetlana atmete noch, stöhnend. Auch ihr Kreislauf funktionierte noch, schwach. Lin Piao versuchte einen Zugang zu legen, eine Kanüle in Svetlanas Vene zu platzieren. Leider hatte keiner der Mitgelaufenen die allergeringste medizinische Ahnung, so musste Lin Piao alles alleine machen. Er nahm sich vor ein paar Erste-Hilfe-Kurse zu halten. Wenigstens konnte einer eine Infusion halten. Lin Piao zog Kortison und ein Antihistaminikum auf. Das dürfte fürs Erste reichen.

Svetlana wurde in die Krankenstation gebracht. Ihr Zustand war soweit stabil. Sie atmete, ihr Herz schlug. Sie schlief. Die Pusteln bildeten sich langsam zurück. Allerdings würde die Nesselattacke durch das eigenartige Wesen nicht folgenlos bleiben. Lin Piao betrachtete das, ehemals schöne, Gesicht Svetlanas. Das ausgeschleuderte Nesselgift hatte seine Spuren hinterlassen. Hässliche Narben entstellten Svetlanas linke Gesichtshälfte. Außerdem schien ein Augenlid nicht mehr ganz zu schließen. Lin Piao tröpfelte künstliche Tränenflüssigkeit hinein damit die Hornhaut des Auges nicht austrocknete.

Lidia beobachtete mit Hilfe einer schwenkbaren Kamera das Biologielabor. Dem Scoutroboter war es nicht gelungen, nennenswerte Teile der Marskreatur einzufangen. Das Wesen schien aus lauter, möglicherweise einzelligen, Einzelwesen zu bestehen und konnte sich fast beliebig aufteilen. Jedes Mal, wenn der Greifarm von Lederstrumpf 1 versuchte einem Stück habhaft zu werden, teilte es sich in mehrere Teile auf. Es war, als ob man Wasser mit der offenen Hand zu schöpfen versuchte. „Lederstrumpf – Stop!“ Lidia sprach den Robot über die Gegensprechanlage an. Der Robot erstarrte mitten in der Bewegung. Lidia beobachtete, wie die kleinen, grünen, Einzelfetzen danach strebten sich wieder zu vereinigen. Sie hatte eine Idee. „Lederstrumpf. Im Labor befindet sich ein Kohlensäurefeuerlöscher.“ Die vier Tentakel an seinem Kopfende, jedes mit einer Kamera ausgestattet, verdrehten sich in alle Richtungen auf der Suche nach dem Kohlensäurelöscher. Schließlich hatte er ihn gefunden. Die Einzelteile des marsianischen Nesselwesens hatten sich inzwischen wieder zu einem einzigen grünen Pfannenkuchen vereinigt. Der Pfannenkuchen waberte unschlüssig umher, schien sich zu orientieren versuchen. Lidia konnte keine Augen erkennen. Vielleicht orientierte sich das Wesen am Geruch? „Lederstrumpf. Nimm den Kohlensäurelöscher und sprühe das unbekannte Lebewesen damit ein.“ Die Kohlensäure aus einem Feuerlöscher tritt erst einmal als, - 80 C° kalter, Schnee aus. Das müsste dieses Wesen eigentlich zum Erstarren bringen. Lederstrumpf rollte auf den roten Zylinder des Kohlensäurelöschers zu. Geschickt hob er ihn aus seiner Halterung und zog den Sicherungsstift. Mit einem röhrenden Fauchen strömte die Kohlensäure, weiße Trockeneinsflocken schneiend, aus. Der grüne, wabernde Pfannenkuchen verschwand in der grauweißen Wolke. Lidia wartete ab bis der Robot die ganzen 6 kg Kohlensäure aus dem Löscher auf das Wesen abgefeuert hatte. Schließlich verzog sich die Wolke. Es schien zu klappen. Der Pfannenkuchen waberte nicht mehr. „Lederstrumpf – Nimm einen Glaszylinder aus dem Regal und befördere das Wesen hinein.“ Sie hatten es eingefangen!

Lidia gönnte sich keine Ruhe. Vierzehn Tage lang untersuchte sie das eigenartige, pfannenkuchenartige Marslebewesen, das Svetlana angegriffen hatte. Svetlana hatte den Angriff überlebt. Allerdings würde sie entstellt bleiben. Die schöne Svetlana Ajvazova, wenn sie nur einen Raum betreten hatte, verbreitete sie automatisch Schauspielerinnenglamour. Hatte sie Schauspielerinnenglamour verbreitet. Ihre linke Gesichtshälfte war durch Narben entstellt. Sie konnte ihr linkes Auge nicht mehr ganz schließen. Diese schwarzen, ausdrucksstarken Augen, die einen so völlig in Bann ziehen konnten. Vorbei. Ab jetzt würde sie regelmäßig Tränenflüssigkeit in ihr linkes Auge tropfen müssen. Noch nahm Svetlana ihr Schicksal sehr tapfer hin. Allerdings verrieten die roten Ränder um ihre Augen die bitteren Tränen, die sie wohl vergoss wenn sie alleine war. Lidia fühlte sich verpflichtet die Natur dieses seltsamen Wesens aufzuklären. Sie gönnte sich kaum Schlaf, konnte auch keinen Schlaf finden. Immer wenn sich ihre Lider bleischwer über die Augen schließen wollten, hörte sie die grauenhaften Schreie Svetlanas. Da blieb sie lieber wach. So lange, bis sie völlig erschöpft, traumlos hinsank zu einem kurzen Schlaf, aus dem sie nach wenigen Stunden wieder hochschreckte.

In New York Mars gab es noch keinen Raum, der alle Bewohner gleichzeitig fassen konnte. So versammelten sie sich auf dem freien Platz, zwischen den vier Druckkammern, unter dem kuppelartigen Zeltdach aus Flüssigkristall-Polymer. Svetlana Ajvazova war inzwischen wieder völlig genesen. Eine Hälfte ihres Gesichts war so makellos und schön wie zuvor. Um so schärfer war der Kontrast zur entstellten, vernarbten, linken Gesichtshälfte, mit dem Auge dass sich nur halb schließen konnte. Lidia erstattete Bericht. „Bei dem Wesen das Svetlana angegriffen hat handelt es sich um ein irdisch-marsianisches Mischwesen. Ein marsianischer Virus ist auf ein irdisches Anabaeanabakterium getroffen, eingedrungen und hat es umprogrammiert.“ Svetlana fragte dazwischen: „Wie kann es auf einem toten Mars Viren geben?“

Traurig blickte Lidia in das entstellte Gesicht ihrer Freundin. Vom rein wissenschaftlichen Standpunkt her war ihre Entdeckung eine Sensation. In Bezug auf Svetlana leider eine Katastrophe. „Auf dem Mars muss es vor ein paar Millionen Jahren einmal primitives Leben gegeben haben. Vielleicht sogar eine Atmosphäre. Viren sind eine sehr eigenartige biologische Struktur. Man kann sie nicht einmal eindeutig als Lebewesen bezeichnen weil sie einen anderen Körper brauchen um wirklich leben, Stoffwechsel haben, sich vermehren zu können. Viren kann man vergleichen mit einem Hirn ohne Körper. Sie sind von einer Hülle aus gleichartigen Eiweißmolekülen umgeben die eine sehr regelmäßige geometrische Form bilden. Deshalb können Viren in kristalliner Form nahezu allen Umwelteinflüssen widerstehen. Offensichtlich auch Millionen Jahre lang.“

Lidia bemerkte einen bitteren Zug um Svetlanas Lippen. Fast hatte sie ein schlechtes Gewissen die kalten, wissenschaftlichen Fakten auszubreiten, angesichts des Leids das dieses – Lebewesen – an ihrer Freundin verursacht hatte. „Ich nenne das Lebewesen eine Amöbenqualle. Die einzelnen Untereinheiten bilden einen Stock, ähnlich irdischer Staatsquallen. Das heißt, es handelt sich nicht um ein einzelnes Lebewesen, sondern um Tausende, einzeln lebensfähige Einzeller die sich sinnvoll ergänzen und handeln ALS OB sie ein einzelnes Lebewesen wären. Der Gesamtorganismus kann kriechen. Er orientiert sich am Geruch. Er kann Nesselzellen bilden mit denen er ein potentielles Opfer lähmen oder töten kann. Dieses Wesen ist ein primitives Raubtier.“

Ungläubiges Raunen erfüllte den Platz unter der Kuppel. Viele Biologen waren nicht darunter. Den Meisten erschien das Gesagte ziemlich phantastisch. Sie mussten es allerdings glauben wenn sie Svetlana Ajvazova ansahen.

„Die Amöbenqualle ist nicht einfach einzufangen oder zu bekämpfen, eben weil sie aus Tausenden Einzellebewesen besteht. Sie kann sich fast unbegrenzt teilen. Ich habe dieses Exemplar nur unter Kontrolle bekommen, in dem ich es mit einem Kohlensäurelöscher schockgefroren und dann in einen Behälter gesperrt habe.“ Lin Piaos Gesicht zerfurchte sich in unzählige Sorgenfalten. „Ist dieses Exemplar das einzige auf dem Mars?“ fragte er, hoffend. „Das kann ich nicht sagen. Aber ich würde nicht davon ausgehen. Wenn es vor längerer Zeit entstanden ist, müssen wir damit rechnen dass es sich schon mehrmals geteilt hat.“

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Tag der Veröffentlichung: 23.04.2009

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