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Wir schreiben das Jahr 2068. Der jüngste Tag für die Menschheit bricht an.

Australien brennt. Eine extreme, jahrelang anhaltende, Hitzewelle verwandelte den Kontinent in einen Scheiterhaufen der nur noch auf den einen Funken gewartet hatte.

Das Übermaß an CO2 in der Atmosphäre übersäuerte weite Areale im Meer und erzeugte dort Todeszonen. In einer Tiefe zwischen 200 und 800 Metern gab es fast keinen Sauerstoff mehr und Fischschwärme, die dort hinein gerieten, erstickten, drehten die Bäuche nach oben und verursachten riesige Aasteppiche auf der Wasseroberfläche. Fischer kreuzen hoffnungslos durch diese Totfischmeere, in den kilometerlangen Schleppnetzen nur Kadaver.

Die auftauenden Permafrostböden in Kanada und Sibirien entließen Billionen Tonnen Kohlenstoff in Form von Methan in die Atmosphäre. Die mittlere Erdtemperatur machte einen Sprung. Los Angeles, San Francisco und andere Städte in Trockengebieten wurden unbewohnbar und verlassen, Geisterstädte, nur noch bewohnt von psychisch Kranken, Rückzugsgebiete für motorisierte Verbrecherbanden.

Die äquatorialen Regenwald-Ökosysteme sind zusammengebrochen. Aus der verrottenden Biomasse gelangen zusätzliche Emissionen in die Atmosphäre. Weltweit zersetzen sich staatliche Ordnungen, ziehen sich in industrielle Zentren zurück, moderne, durch Panzer geschützte Wagenburgen. Eine Weltvölkerwanderung kommt in Bewegung. Eindringende Flüchtlinge verbeißen sich mit zurückgelassenen Einwohnern. Die panzerbewachten Stadtstaaten werden längst nicht mehr nur von verzweifelten, dunkelhäutigen Klimaflüchtlingen berannt sondern von einem bunt gemischten Völkermischmasch, nur zusammengehalten vom aktuellen, gemeinsamen Interesse am Überleben, an Plünderungen, an Vergewaltigungen, am Überleben.

Die USA, Russland, China und Indien hatten bereits vier Expeditionen zum Mars geschickt, mit dem Ziel, den Planeten dauerhaft zu besiedeln. Sie gründeten die Marssiedlung Tycho Brahe und Eden-Außenstation im Krater von Olympus Mons, dem größten Berg im Sonnensystem. In der kleinen Marskolonie hatte eine religiös-fundamentalistische Sekte die Macht übernommen die den Mars mittels Terraforming in eine neue Erde verwandeln und auch eine neue Menschheit begründen wollten. Zu diesem Zweck schleppten sie, Sauerstoff produzierende, irdische Cyanobakterien ein die jedoch ständig mutierten. In Eden-Außenstation waren so Symbionten entstanden, vom mutierten Anabaeana Ares befallene Menschen, die ohne Atemgeräte auf dem Mars existieren konnten. Uralte Marsviren hatten sich der Zelleiber einiger Anabaeanas bemächtigt. So entstanden Amöbenquallen, amorphe, flache Gebilde, die sich bewegen konnten und auf Beute aus waren.

Die, von der Sekte unterdrückte, Minderheit der „Normalos“ hatte sich mit Hilfe von Fesselballons abgesetzt und versuchte einen eigenen Stützpunkt, irgendwo auf dem Mars, zu gründen.

In den Regierungen der vier raumfahrenden Nationen war unter dem Eindruck der tobenden Bürgerkriege umstritten, ob weitere Expeditionen zum Mars unterstützt werden sollten, oder die gewaltigen Ressourcen nicht besser auf der Erde zu verwenden wären.




München hatte sich zum europäischen Zentrum für Raumfahrt entwickelt. Genauer gesagt, der Münchner Vorort Ottobrunn. Das hatte historische Gründe. Die EADS, European Aeronautic Defense and Space Company, nutzte seit vielen Jahrzehnten das Gemisch aus Hochtechnologie, acht Hochschulen und sechs Großforschungseinrichtungen, die sich in Bayern mit Luft- und Raumfahrt beschäftigten. Die EADS Vorstände für Finanzen/Controlling und Technologie sowie der Chairman residierten in Ottobrunn. Der augenblickliche Chairman war eine Frau, die Pariserin Anna Gavalda. Die vier, an der Marsmission beteiligten Nationen, einigten sich deshalb konsequenterweise für Ottobrunn als Standort für einen Weltraumbahnhof, von dem aus die Marsmssionen starten sollten. Zu diesem Zweck wurde in Ottobrunn ein sogenannter Space Elevator errichtet. Im Weltraum, 36.000 km oberhalb von Ottobrunn, platzierte man einen großen, geostationären, Satelliten. Zwischen ihm und der Bodenstation wurden hochfeste Kunststoffstränge gespannt. Die Idee für so einen „Weltraumaufzug“ war uralt. Der russische Schriftsteller Konstantin Ziolkowski nahm in Romanen viele, später tatsächlich verwirklichte, Entwicklungen der Raumfahrt voraus; zum Beispiel die Verwendung von Raketenmotoren. Er beschrieb bereits 1895 einen Weltraumaufzug. Technisch möglich wurde er erst als man entsprechende, hochfeste, Seile herstellen konnte.

Die Raumschiffe für die Marsmissionen wurden im Weltraum zusammengebaut, die Bauteile über den Lift transportiert. Dadurch sparte man ungeheure Mengen Energie. Außerdem musste man bei der Konstruktion der Raumschiffe keine Rücksichten auf irdische Aerodynamik nehmen. Der Space Elevator von Ottobrunn wurde weltweit als Sensation gefeiert, ähnlich dem Eiffelturm mehr als hundert Jahre zuvor, und zog ungeheure Touristenströme an. Die meisten Münchner schenkten sich das Wort „Space“ und sprachen lieber vom „Ottobrunner Älewator“, wenn sie das beliebte Ziel für Konfirmandenausflüge oder Hochzeiten meinten.

Anna Gavalda war ungefähr 160 cm groß. Ihr gleichmäßig ovales Gesicht mit den, leicht schrägstehenden, braunen Augen und den schmalen Lippen, blickte meistens neutral in die Welt. Oder streng, wenn sie forderte. Sie hatte überhaupt kein Problem damit, zu fordern. Sonst wäre sie nicht Chairwoman von EADS geworden. Sie konnte jedoch auch sehr herzlich sein und dann strahlte das Gesicht wie eine Sonne. Ihre, beinahe hüftlangen, glatten Haare in der Farbe von Milchschokolade, hatte sie zu einem Zopf gebunden. Im Weltraumbahnhof herrschte Schwerelosigkeit. Da hätte sie mit ihren ungeflochtenen Haaren wie eine Hexe ausgesehen und das gehörte sich nicht für die Chairwoman von EADS. Sie hatte ihren eleganten grauen „Arbeitsanzug“ angelegt, mit einer cremefarbenen Bluse, nicht zu figurbetont, geschäftsmäßig. Das Sacko klemmte bereits am Kleiderclip an der Wand. Ihr gegenüber saßen die, für diese
5. Marsmission ausgewählten, Astronauten. Michail Scholochow aus Russland. Für die USA, Alan Bennett. Aravind Adiga stammte aus Madras in Indien und Yu Chien Kuan aus Tientsin in China. Die Station war bis auf Anna und die vier Männer leer. Sparmaßnahmen.

Anna Gavalda beschloss gerade ihren Bericht. „Diese
5. Mission, übermorgen, wird voraussichtlich die letzte sein. Alle vier Regierungen und auch Europa wollen, angesichts der herrschenden chaotischen Zustände, nichts mehr in Marsmissionen investieren.“ Die Astronauten schwiegen. Dazu war nichts zu sagen. Das wussten sie natürlich bereits; es war auch nicht so wirklich geheim. Diesmal waren gleich vier Raumschiffe gebaut worden. Ein letztes Aufbäumen aller nationaler Weltraumagenturen, halb hinter verschlossenen Türen, die jeweiligen Regierungen nicht einweihend. Glücklicherweise hatten diese Regierungen im Augenblick ganz andere Sorgen als sich um irgendwelche Weltraumprogramme zu kümmern. Die Weltraumagenturen wollten so viele Ressourcen wie möglich auf den Mars bringen. Nach dieser, allerletzten, Marsmission, waren die Kolonisten ganz auf sich allein gestellt. Und wer konnte wirklich sagen, ob es so etwas wie eine menschliche Hochzivilisation auf der Erde nächstes Jahr noch geben würde? Das Schweigen hatte etwas Bedrückendes.

„Sie meine Herren werden die einzigen menschlichen Teilnehmer der 5. Expedition sein.“ Jetzt kam Unruhe auf, das war wirklich etwas Neues. Weltweit trainierten seit Monaten ungefähr hundert Astronauten für die Marsmission. Anna klärte sie auf. „Wir schicken Roboter mit, alles was wir haben. Im Direktorium waren wir uns einig, dass auf diese Weise den Kolonisten auf dem Mars am meisten geholfen ist. Roboter sind kräftig und ausdauernd. Sie können in extremer Umgebung arbeiten. Es wird kein Nachschub mehr kommen. Wenn sie auf dem Mars sind müssen Sie und die anderen Marskolonisten mit dem auskommen was sie haben.“ Annas Stimme klang belegt.

Ein Ruck ging durch den Weltraumbahnhof. Was war das? Anna sah aus dem Fenster. Die Erde, normalerweise ein überwältigendes, blaugrünes Panorama, begann zu kippen. Alarmglocken schrillten. Eine automatische Stimme plärrte: „Dekonnektion – Dekonnektion - ...“ Michail Scholochow kapierte es als erster. „Die Aufständischen haben Ottobrunn überrannt und die Kabel gesprengt!“ Jetzt setzten die Stabilisierungsdüsen des Weltraumbahnhofs automatisch ein. Das Erdpanorama drehte sich wieder gerade.

„Was ist das für Lärm?“ „Da sind welche von unten raufgekomen!“ Yu Chien Kuan stieß sich ab und schwebte zu dem Schott, aus dem jetzt laute, undefinierbare Geräusche und deutliches Schreien zu hören war. Ein trockener Knall zerriss die Luft. Aus einem Loch, unter Kuans Kiefer, quoll Blut. In der Schwerelosigkeit bildete es eigenartige, rote Kügelchen die wie Sektperlen in den Raum strömten. Das Projektil war ihm schräg von unten in den Schädel gedrungen und hatte die Kalotte gesprengt. Die zähe Kopfhaut hielt jedoch die Knochenstücke zusammen so dass der Schädel lediglich die Form verlor. Die Gesichtszüge verflossen wie bei einem Gemälde des spanischen Surrealisten Dali. Ein erstickter Schrei des Entsetzens entrang sich Annas Kehle. Jetzt begannen die Plünderer in den Raum einzudringen. Anna schlug blitzartig auf den Pilzknopf für Druckabfallalarm. Unter Sirenengeheul und kreisendem Rotlicht fuhren überall auf der Station die Schotten hoch und riegelten alle Räume luftdicht ab. Die Mordbrenner kommentierten das mit wütendem Geheul. Eine unrasierte, zottelhaarige Gestalt in schmuddeligem Trainingsanzug riss Anna heftig an der Bluse so dass die Knöpfe absprangen. Sein erregtes Glied beulte die ausgebleichte Schlabberhose zeltartig aus. Erbittert trat Anna mit aller Macht zu. Der Zottelige grunzte, hielt sich die Genitalien und schwebte, sich überschlagend, in die Mitte des Raumes. „Du Schlampe!“ bellte es, speichelverspritzend an ihr Ohr. Eine kräftige Hand zerrte schmerzhaft an ihren Haaren während die andere nach der aufgerissenen Bluse griff. Anna packte die Blusenhand und erwischte den Zeigefinger. Entschlossen brach sie ihn auf den Handrücken zurück. Der Speichelnde schrie auf. Wieder griffen zwei Hände nach ihr. Sie gehörte zu einem hässlichen Glatzkopf der entsetzlich nach Schweiß, Mundgeruch und Schnaps stank. Der Glatzkopf hielt sich mit einer Hand an ihrer Bluse fest und schlug sie mit der anderen so heftig ins Gesicht dass Anna kurzfristig schwarz vor Augen wurde.

Als sie wieder klar sehen konnte war ihr die Kleidung schon halb heruntergerissen. Speichelnder und Glatzkopf zerrten gemeinsam an ihr herum während der Zottelige in der Mitte des Raumes hilflos versuchte etwas zu greifen an dem er sich festhalten konnte. Anna durchlief es heiß, ihr Magen krampfte sich zusammen, die Zeit schien sich zu verlangsamen. Der gebrochene Finger des Speichelnden stand in einem absurden Winkel ab und wackelte sinnlos hin und her. Speichelnder war so rasend dass er keinen Schmerz zu spüren schien. Glatzkopf bemerkte dass Anna wieder wach war und holte aus um erneut mit der Faust zuzuschlagen. Anna packte ihn mit beiden Händen an den Ohren und riss sie kräftig nach unten ab. Ihre Hände öffneten sich und ließen die abgerissenen Ohren los. Die schwebten, leicht taumelnd, vor den Augen des Glatzköpfigen, von ihm entsetzt angestarrt. Ein gurgelnder Schrei kämpfte sich aus seinem schiefen Maul. Entsetzt versuchte er sich vor seinen schwebenden Ohren in Sicherheit zu bringen. Anna versuchte die Schrecksekunde auszunutzen um zu entkommen. Wie eine Katze entwand sie sich dem Speichelnden mit dem gebrochenen Finger. Sie wusste wenigstens, wie man sich in Schwerelosigkeit bewegte. Die Plünderer ruderten immer wieder hilflos herum. Da, schon hatte sie ihre Beine frei.

Sie hatte sich zu früh gefreut. Wie ein Schraubstock legten sich fünf schmutzige Finger um ihren Knöchel. Der Speichelnde brüllte triumphierend auf und begann sich an ihrem Bein emporzuziehen. Verzweifelt suchte Anna nach Halt. Mit ihrer rechten Hand erwischte sie einen, an der Wand befestigten, Feuerlöscher. Der Speichelnde hatte sich schon bis zu ihrem Hosenbund emporgearbeitet, an dem er nun wütend zerrte. Mit beiden Händen löste Anna den Feuerlöscher aus der Verankerung und schlug dem Speichelnden damit mit aller Wucht auf den Schädel. Sie spürte sofort, wie sein Griff lockerer wurde und er sanft, wie ein zerkäultes Badetuch, von ihr wegschwebte.

Zitternd, den Feuerlöscher in ihren verkrampften Händen, sah sie sich um. Alan Bennett wurde soeben von einem der Aufrührer erstochen. Zwei reglose Plünderer umschwebten Michail Scholochow; er wandte sich jetzt dem Alanmörder zu und brach ihm das Genick. Michail war vom russischen Geheimdienst zur Luftwaffe und von dort zum Marsprogramm gekommen. Er war der Einzige unter ihnen der kämpfen konnte und wohl auch schon hatte. Gerade schwebte Aravind Adiga vorbei, verknäult mit einem widerlich fetten, schwitzenden Plünderer, wie zwei Katzen. Anna wollte sich von der Wand abstoßen um ihm zu Hilfe zu eilen, aber sie konnte nicht. Sie war wie gelähmt! Michail schwamm gleich einem weißen Hai durch den Raum. Der Fette bemerkte ihn aus den Augenwinkeln und drehte sich um. Michail war aber schon bei ihm und rammte ihm mit voller Wucht seinen Schädel ins aufgedunsene Gesicht bevor er auch ihm den Gar aus machte. Mehrere trockene Knaller ertönten und verursachten einen schrillen Pfeifton. „Die Idioten haben die Außenwand durchschossen! DRUCKABFALL!!!“

Jetzt löste sich die Erstarrung von Anna. Wie ein Aal wand sie sich nach der Halterung für den Feuerlöscher um. Daneben war ein Leckabdichter. Mit fliegenden Händen riss sie den Sicherungsstift heraus und zielte in Richtung des schrillen Pfiffes. Wie bei einer Bauschaumdose spritzte ein Strahl zähflüssige, aufschäumende Masse heraus in Richtung des Lecks, von der herausströmenden Luft auch schon angesogen. Schlagartig erstarb der Pfiff. Anna und Michail hörten panische Angstrufe und verzweifeltes Klopfen von der anderen Seite. Diese kopflosen Wahnsinnigen hatten wild in der Gegend herumgeschossen und mussten nun in der dünner werdenden Luft ersticken. „Wir müssen das Schott aufmachen, schnell! Sie ersticken!!!!“ forderte sie von Michail. Der hielt sie am Handgelenk fest und schüttelte nur stumm den Kopf.

Anna heulte hemmungslos. Michail hielt sie fest umarmt. Michail war ein eiskalter Mörder. Und er war ein Retter. Und er ließ dutzende Menschen mitleidlos ersticken. Und er rettete sie vor dutzenden entmenschten Plünderern und Vergewaltigern. Sie wäre fast vergewaltigt worden, von den Bastarden! Und Yu Chien Kuan war erschossen worden. Und Alan Bennett war erstochen worden. Und Aravind Adiga war erwürgt worden. Und so viele waren gestorben. Und sie konnte nicht mehr zurück auf die Erde. „Sssssscht“ machte Michail. Er wiegte sie in seinen Armen. Er war so sanft. Sie fühlte sich so sicher, so sicher in den Armen eines eiskalten Mörders.

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Tag der Veröffentlichung: 02.04.2009

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