Wir schreiben das Jahr 2067. Unermessliche Flüchtlingsheere aus dem, durch die Klimakatastrophe austrocknenden, sterbenden Afrika erobern Europa. Die staatliche Ordnung bricht weitgehend zusammen. Die vereinigten europäischen Streitkräfte sind nur noch in der Lage größere Industrieansiedlungen und Ballungsräume zu verteidigen. Moderne Stadtstaaten. Die USA, Russland, China und Indien hatten bereits drei Expeditionen zum Mars geschickt, mit dem Ziel, den Planeten dauerhaft zu besiedeln. Sie gründeten die Marssiedlung Tycho Brahe im Krater von Olympus Mons, dem größten Berg im Sonnensystem. Mit der dritten Expedition war eine religiös-fundamentalistische Sekte auf den Mars gekommen. Sie wollte den Mars mittels Terraforming in eine neue Erde verwandeln und auch eine neue Menschheit begründen. Zu diesem Zweck schleppten sie, Sauerstoff produzierende, irdische Cyanobakterien ein. In der harten, von keiner Atmosphäre oder Magnetfeld abgeschirmten, Strahlung auf dem Mars, mutierten einige der Bakterien schnell und bildeten Geschwüre auf der Haut, die sich ihre Energie aus der Körperwärme holten. Die mutierten Bakterien verseuchten die Eden-Außenstation. Dort mutierten sie abermals. Jetzt fraßen sie sich mit kleinen Schläuchen durch die Haut bis in die Blutbahn, entnahmen den befallenen Menschen Nährstoffe, versorgten sie dafür aber mit Sauerstoff. Eine Lebensgemeinschaft zum gegenseitigen Nutzen, Symbiose. Marssymbionten waren so auf der Eden-Außenstation entstanden die, ohne Pressluftatmer, auf dem Mars existieren konnten.
In den Regierungen der vier raumfahrenden Nationen war unter dem Eindruck der tobenden Bürgerkriege umstritten, ob weitere Expeditionen zum Mars unterstützt werden sollten, oder die gewaltigen Ressourcen nicht besser auf der Erde zu verwenden wären.
Mittlerweile war das erste Baby auf dem Mars geboren, Aaron Finkelstein. Sein biologischer Vater war Alex Gillespie, der neue Messias der Naturreligiösen Eden-Gruppe. Die Mutter, Lidia, trennte sich sofort von Alex als sie von seinen fanatischen Plänen erfuhr.
Auf Tycho Brahe wurde die Ankunft der 4. Marsexpedition erwartet. Wie üblich war Sergeij Rjazanow mit dem Rover hinausgefahren um die zwanzig Gelandeten einzusammeln. Im Versammlungsdom mit dem großen, dreieckigen Tisch hatten sich die Menschen, erwartungsfroh, versammelt. Das Algenbier war kaltgestellt. Alle hofften natürlich, die Astronauten würden Sekt von der Erde mitbringen. Man gewöhnte sich zwar nach ein paar Monaten an den Geschmack von Algenbier, aber richtiger Erdensekt war natürlich ganz etwas anderes! Die anwesenden sieben „Neuen Menschen“ der Eden-Sekte saßen für sich, alle mit einheitlich blauen Jogginghosen und weißen T-Shirts. Sie hatten wieder die „Letztes Abendmahl“-Formation eingenommen mit Alex Gillespie als „Jesus“ in der Mitte. Lose im Raum verteilt waren sechzehn, bunt gekleidete, „normale“ Menschen. Es herrschte eine gelassene, fröhlich neugierige Stimmung. Alle waren sehr gespannt darauf, was da für Persönlichkeiten von der Erde gelandet waren, wie gut man sich mit ihnen verstehen konnte, was für Neuigkeiten und Geschichten sie mitbrächten. Sie würden zusammen den Rest ihres Lebens auf dem Mars verbringen. Lidia, den kleinen Aaron stillend, war umschwärmt von Babyverrückten die dauernd „Dutzidutzi“ machten, Schönheit und Ähnlichkeit kommentierten und Kindertips austeilten. Vom Hauptgang her waren Stimmen und Schrittgeräusche zu hören. Die Gespräche erstarben und alle Gesichter wandten sich dem Eingang zu. Der riesige, blonde Sergeij kam mit den Neuen an, über beide Backen strahlend. In der Mitte des Raumes hatten sich die Four Nations, die vier Erstangekommenen, Hershel Goodwin, Svetlana Ajvazova, Lin Piao und Hardeep „Hardy“ Kaur aufgebaut um die Neuankömmlinge herzlich zu begrüßen. Diese machten jedoch einen Bogen um sie und stellte sich vor die „Letztes Abendmahl“ Gruppe hin. Alle fassten sich mit der Hand aufs Herz, das Erkennungszeichen der Eden-Sekte. Im Chor riefen sie: „Sei gegrüßt Alex, großer Eindringer, wir sind eben zum Mars heimgekehrt!“ Für die Eden-Leute war der Mars eine neue Heimat; sie wollten hier eine neue Welt erschaffen.
Die anderen Menschen erstarrten. Wie konnte das geschehen? Schon wieder zwanzig von diesen verdammten „Spaghettis“, wie sie wegen ihres verschnörkelten Logos von ihnen genannt wurden? Damit waren die Mehrheitsverhältnisse umgekehrt. Vierzehn Normalos gegen achtundzwanzig „Neue Menschen“-Fanatiker. „Ich heiße euch auf der Station Tycho Brahe hier auf dem Mars willkommen!“ Lin Piao lächelte unverzagt. Die Neuankömmlinge reagierten nicht. Alex Gillespie erhob sich, stellte sich vor seinen Jüngern auf und entgegnete lässig: „Und ich heiße EUCH in der NEUEN WELT willkommen, Bedenkenträger.“
Die Nukleinsäure, das Hirn, der Bauplan der uralten, marsianischen Viren, war von einer, Hülle aus gleichartigen Eiweißmolekülen umgeben. Diese Hülle bildete eine sehr regelmäßige geometrische Form. Deshalb konnte der Virus in kristalliner Form nahezu allen Umwelteinflüssen widerstehen. Er war unempfindlich gegen die Kälte von – 85° C die Nachts auf dem Mars manchmal herrschte. Und er war unempfindlich gegen die Zeit. Und so wartete er, Millionen Jahre lang, auf der Oberfläche eines rostigen Felsbrockens auf seine Chance. Die Jahrtausende strichen vorüber. Ereignislos. Unzählige Stürme nagten an dem Felsbrocken, in dessen Ritzen sich die letzten Überreste des ausgestorbenen Lebens auf dem Mars festgekrallt hatten. Die Ewigkeit schien angebrochen. Bis eines Tages einer der unzähligen, apokalyptischen, Wochen andauernden, Marsstürme fremdes Leben herbeiwirbelte. Irdische Cyanobakterien, freigesetzt von den Mitgliedern der radikalen, naturreligiösen Eden-Gruppe, die den Mars damit wieder zum Leben erwecken wollte. Die Blaualgen, wie sie auch noch genannt wurden, setzten sich an dem Felsen fest. Sie vermehrten sich, breiteten sich aus, bildeten einen grünen Überzug, einen Bakterienrasen. Bis sie die Risse im Gestein zu überwuchern begannen, in denen die alten Marsviren seit Äonen, traumlos, als Kristalle fortbestanden. Die Marsviren glichen in ihrer Gestalt kleinen Mondfähren. Unterhalb des, geometrisch regelmäßig geformten, Körpers, befand sich ein langgestreckter Zylinder mit acht geknickten, an Spinnenbeine erinnernden, Ausläufern. Diese Spinnenbeine dockten an der Außenwand der Bakterien an. Der langgestreckte Zylinder wurde positioniert. Wie mit einem Bolzenschussgerät abgefeuert, stanzte er sich durch die Außenmembran der Blaualge. Jetzt kam das Wichtigste, die Nukleinsäure, der Bauplan, Matrize für unendlich viele Nachkommen. Der zusammengeknäulte Faden mit den Basenpaaren entrollte, streckte sich und schlüpfte durch die lange Röhre in den Leib der hilflosen Blaualge. Dort übernahm er das Kommando. Im Zelleib wurden sofort weitere Nukleinsäuren, nach dem Muster der eingedrungenen, produziert. Manche Bakterien haben so etwas Ähnliches wie Sex. Der Eindringling hatte Glück! Er war in ein Bakterium eingedrungen, das einen Sexpilus bilden konnte. Der Pilus wurde gebildet und das danebenliegende Bakterium angezapft. Nukleinsäure wurde ausgetauscht. Der Vorgang wiederholte sich, immer und immer wieder, bis alle Blaualgen auf diesem Felsen ein marsianisches Gehirn hatten.
Alex Gillespie hatte eine perfekte Kindheit. Sein Vater, Brian Gillespie, war ein berühmter Chirurg. Er arbeitete im Münchner Universitätsklinikum Rechts-der-Isar. Ein paar Kunstgriffe bei der Nierentransplantation hatte er neu erfunden, sie wurden heutzutage unter seinem Namen gelehrt. Seine Mutter war eine gefeierte Opernsängerin, Maria Gillespie, geborene Schelnegger, wohnhaft in München Herzogpark. Geld, humanistische Bildung und Kindermädchen umspülten den Heranwachsenden, hübschen Jungen. In der Schulzeit ließ er es so richtig krachen. Wilde Partys in der Villa seiner Eltern; er hatte oft sturmfreie Bude. Alkohol, Shit, frühe erotische Erfahrungen; Geld macht sexy. Trotzdem schaffte er sein Abitur relativ respektabel; er war ziemlich intelligent. Dem Jurastudium folgten recht schnell lukrative Anstellungen in den Vorstandsetagen diverser Firmen; Vater und Mutter waren ja nicht irgendwer. Alex war gelangweilt. Sein Leben war wie in Watte gepackt. Es gab keine Widerstände in seinem Leben, die nicht vor dem Einfluss seiner Eltern oder deren Geld verpufften. Mit einundzwanzig sprang er einmal während einer Party, sturzbesoffen, vom Balkon aus dem ersten Stock auf den Rasen. Einfach so. Vielleicht wollte er endlich einmal so etwas wie Widerstand spüren? Egal. Er brach sich lediglich einen Fuß, keine große Sache.
Dann lernte er den Naturapostel Maximilian Kreuzpaintner kennen. Er war ein später Vertreter, der sogenannten Schwabinger Boheme. Seine Auftritte waren mystisch stark aufgeladen. Wann und in welcher Privatwohnung er auftrat, konnte man nur mündlich über das Netzwerk seiner Bewunderer erfahren. Besoffen in dem Lokal „Schwabinger Sieben“ wurde Alex eingeladen einmal auf so einer Veranstaltung zu erscheinen. Er versprach sich einen unterhaltsamen Abend davon. Nüchtern erlebte er an diesem Abend seine Erweckung! Kreuzpaintner kam natürlich zwei Stunden zu spät. Die versammelte Gemeinde wartete schon, unruhig aber geduldig, schicksalsergeben, auf den Propheten. Als Kreuzpaintner schließlich erschien elektrisierte sich die Stimmung schlagartig. Dem konnte sich auch der satte, gelangweilte Alex nicht entziehen. Kreuzpaintner sprach von der Verworfenheit der Menschheit, von den Sünden die sie begangen, von der Gewalt die Natur und Natürlichkeit angetan worden war. Alex saugte sich voll mit diesem bedeutungsschwangeren Gerede. Ja, natürlich stimmte das, die Menschheit war verworfen! Dann sprach Kreuzpaintner von den neuen Chancen der Genetik, von dem göttlichen Schöpfungsimpuls, der Forderung nach Schöpfung durch GOTT selbst, die den gewöhnlichen Menschen nur noch nicht klar geworden war, die sie auch nie kapieren würden, weil sie so gewöhnlich und uninspiriert waren. Ja, auch das leuchtete Alex ein. Die Menschheit war gewöhnlich und uninspiriert. Sie warteten auf einen ungewöhnlichen und inspirierten Messias, der diesen, eigentlich völlig offensichtlichen, göttlichen Auftrag erkannte und umsetzen konnte. Alex ging von dieser Versammlung nach Hause, nüchtern und beseelt von einer Aufgabe. Endlich eine Herausforderung! Kreuzpaintner kam eine Woche später bei einem Autounfall ums Leben. Alex begann ein Studium der Biologie. Und er setzte sich an die, durch Kreuzpaintners Unfalltod verwaiste, Spitze der naturreligiösen Bewegung „Eden – die neuen Menschen“.
Jetzt begannen sich die Bakterien zusammenzutun und zu spezialisieren. Sie bildeten einen Stock, ähnlich irdischer Staatsquallen. Die Bakterien an der Außenseite wurden hart, bildeten eine robuste Haut. Manche Außenbakterien entwickelten die Fähigkeit zu riechen. Andere konnten Auswüchse, Füße bilden. Das Gesamtwesen wurde beweglich. Es glich einer Kreuzung aus Amöbe und Qualle. Im Inneren bildeten sich Nesselvesikel. Sie konnten an beliebigen Stellen aus der Außenhaut austreten, ihren Inhalt herausschnellen lassen und ein Beutetier lähmen oder töten. Ja, das Gesamtwesen, diese marsianische Amöbenqualle war ein Räuber! Sie konnte auch Photosynthese; um die Zeit ohne Beute zu überbrücken reichte das. Ein fremdes Lebewesen jedoch, voller Eiweiße und anderer nützlicher, energiereicher Stoffe, das war schon etwas Anderes! Die Geruchszellen rochen Lebewesen über weite Entfernungen. Irdische Schmetterlinge können Geschlechtspartner über Kilometer hinweg riechen. Auf dem Mars betrug die Schwerkraft nur 38 % der irdischen. Die Amöbenqualle konnte noch viel weiter riechen als ein irdischer Schmetterling. Und im Augenblick roch sie etwas, irgendwie eigenartig, unbestimmbar, auf keinen Fall taubes Marsgestein. Füße begannen sich zu bilden und die marsianische Amöbenqualle kroch langsam auf den ungewöhnlichen, möglicherweise beuteanzeigenden, Geruch zu.
Seit Alex mit seinen Anhängern die Mehrheit auf Tycho Brahe geworden waren, wehte ein anderer Wind. Als Erstes musste Svetlana Ajvazova ihre Privaträume aufgeben um Alex Platz zu machen. Mehrere Privaträume hatten traditionell nur die Four Nations die zu viert, zwei Jahre allein, die Grundlagen der Station geschaffen hatten. Das war Alex von Anfang an ein Dorn im Auge gewesen. Ursprünglich hätte er gerne die Räume von Hershel Goodwin bezogen aber der reagierte dermaßen wütend; Alex wurde klar es würde nicht ohne Verletzte abgehen. Svetlana bezog einen freien Einzelraum neben Lidia. Sie hatte Lin Piao bei der Geburt von Aaron assistiert. Es hatte Komplikationen gegeben, eine Schulter war hängen geblieben. Glücklicherweise konnten sie das Problem lösen. Seit der Geburt jedenfalls hatte Lidia zu Svetlana ein innigeres Verhältnis als zum biologischen Kindsvater Alex. Der Rausschmiss von Svetlana aus ihren Privaträumen war erst der Anfang. Die „Neuen Menschen“ begannen den Normalos oder „Bedenkenträgern“, wie sie von ihnen genannt wurden, Vorschriften zu machen. Zuerst einmal „anständige Kleidung“. Es wurde Wert darauf gelegt, dass einheitlich blaue Jogginghosen und weiße T-Shirts getragen wurden. Dann kam der ideologische Unterricht. Dreimal in der Woche gab es Ansprachen von Alex vor versammelter Mannschaft. Wer sich weigerte wurde unter Druck gesetzt. Bei dem afroamerikanischen Geologen Hershel Goodwin versuchten sie es allerdings nur ein einziges mal. Hershel war ein impulsiver Mensch. Drei ausgeschlagene Zähne später war das Thema für ihn durch. Auch Lidia weigerte sich. Sie hatte wohl noch eine Art Sonderbonus, als Mutter des Sohnes von Alex-Jesus, dem Eindringer. Die anderen beugten sich dem Druck und hörten sich dreimal in der Woche Alexs Sermon an, von den alten Sünden, von der neuen Welt, vom göttlichen Auftrag.
Lederstrumpf 1, der Scoutroboter, meldete einen Fund. „Bakterien, Farbe Grün. - Vermutlich zur Photosynthese fähig. - Möglicherweise vergleichbar mit irdischen Cyanobakterien vom Typ Anabaeana.“ Diese Meldung hatte er in den vergangenen Monaten schon öfter gesendet. Moment mal, Lederstrumpf überprüfte die durchgegebenen Koordinaten für den Fund. Da hatte er sich doch glatt um einen Meter verschätzt. Das war schon sehr ungewöhnlich. Er unterzog sich einem Selbsttest. Fünf Minuten später lag das Ergebnis vor. Keine Funktionsstörungen. Er überprüfte abermals die Koordinaten für den Fund. War das möglich? Er hatte sich abermals um einen Meter verschätzt. Eine Fehlmessung war schon ungewöhnlich. Zwei Fehlmessungen hintereinander waren dermaßen unwahrscheinlich dass es sie eigentlich nicht geben durfte. Lederstrumpf 1 scannte den Fund minutenlang. Kein Zweifel. Der Fund bewegte sich. Die Meldung musste korrigiert werden. „Möglicherweise vergleichbar mit der irdischen, beweglichen, Kieselalge Navicula.“ Der Fund hatte Lederstrumpf 1 jetzt erreicht und begann an ihm hochzukriechen.
Die Four Nations, Hershel Goodwin, Svetlana Ajvazova, Lin Piao, Hardeep „Hardy“ Kaur, saßen im Kartenraum zusammen. Die Situation auf Tycho Brahe war unerträglich geworden. Täglich wurden die „Bedenkenträger“ tyrannisiert, wurde versucht sie der „Bewegung“ anzupassen. Die vorher so selbstbewussten Normalos, sie nannten sich mittlerweile selbst so, waren inzwischen ziemlich eingeschüchtert. Es ist schon so, die Mehrheit bestimmt die Wirklichkeit. Lin Piao, der 56 Jahre alte chinesische Mediziner, der mit seinen Falten immer noch zwanzig Jahre älter aussah, ergriff das Wort. „Was hast du herausgefunden, Hardy?“ Hardeep Kaur sah, für marsianische Verhältnisse, ziemlich exotisch aus. Aus dem indischen Informatik-Mekka Bangalore stammend, hatte sie es irgendwie fertiggebracht, eine Seesack voll indischer Tücher und Schmuck auf den Mars zu schmuggeln. Auf ihrer Stirne prangte der Bindi, der traditionelle weibliche Punkt der Inderinnen. Zwischen dem linken Ohrläppchen und der Nase klimperte eine Schmuckkette. Sie war überhaupt ziemlich behängt mit Schmuck. So gesehen, saß sie äußerlich genau so aus, wie man sich eine traditionelle Indische Frau vorstellte. Von dem Eindruck sollte man sich jedoch nicht täuschen lassen. Hinter einem Bildschirm, die Computertastatur auf dem Schoß, verwandelte sie sich in ein Ebenbild der hinduistischen Gottheit Shiva, dem Zerstörer, Bewahrer und Schöpfer. „Alle Eden-Frauen sind schwanger. Ich habe ihre Profile in Verbindung mit Schwangerschaftstests gehackt.“ „Diese Fotzen!!!“ Ereiferte sich Hershel Goodwin. Das brachte ihm ein missbilligendes Stirnrunzeln von Svetlana Ajvazova ein. „Entschuldige bitte!“ ruderte er zurück. „Das habe ich nicht so gemeint. Mich REGT DAS HALT AUF. Diese Scheiß-Eden-Vollidioten vermehren sich wie die Karnickel! They are pain in the ass!!!“ „Was hast du noch herausgefunden, Hardy?“ „Die Spaghettis wollen eine Außenstation gründen. Sie haben im Geheimen fünf Fesselballone hergestellt.“ Tja, einer Computerhackerin bleibt eben nichts verborgen. Sie waren auf dem Mars noch weit davon entfernt, Raketen herzustellen. Flugzeuge würden in der dünnen Atmosphäre ohnehin nicht fliegen können. Ein Ballon war eine, technisch simple, Möglichkeit, auf dem Mars weite Strecken zurückzulegen und große Lasten zu transportieren. „Ich will euch mal was sagen.“ resümierte Lin Piao. Dabei legte er sein Gesicht so in Falten dass man fast befürchten musste, es würde auseinanderfallen. „Da wir hier auf Tycho Brahe in die Minderheit geraten sind, müssen wir wohl abhauen. Wir klauen die fünf Ballons.“ „Und du meinst die Eden-Idioten lassen sich das gefallen?!“ In Hershel Goodwins Gesicht kämpften alle Muskeln gegeneinander. „Nein, natürlich nicht.“ Entgegnete Lin Piao. „Aber da habe ich ein Kraut dagegen.“ Lin Piao lächelte. Zweihundert Stirnfalten wechselten von der Stirn auf seine jungenhaft roten Backen.
Lederstrumpf 1 kratzte den Fund mit seinem Greifarm von sich ab so gut es ging. Das bewirkte jedoch nur, dass die Amöbenqualle sich in kleinere Einzeleinheiten zerteilte, jedes für sich eine kleine Amöbenqualle und lebensfähig. Sie begann Nesselvesikel auszuspeien um die vermeintliche Beute zu lähmen oder zu töten. Das misslang natürlich bei einem Scoutroboter. Bis die Amöbenquallen die Solarzellen erreichten und sich über sie ausbreiteten. Stück für Stück, Quadratzentimeter für Quadratzentimeter, bedeckten sie die Solarflügel von Lederstrumpf 1. Der bemerkte den versiegenden Energiestrom. Lederstrumpf 1 schaltete auf Akkubetrieb um. Nach zwei Stunden, erfolglosem Rumkratzen, die Amöbenqualle teilte sich immer nur in kleinere Einheiten, reagierte er wie bei einer einbrechenden Nacht oder einem der, staubschwangeren, Marsstürme. Er schaltete nach und nach Bereiche ab und begann zu warten. Die einzelnen Amöbenquallen vereinigten sich wieder zu einer einzigen. Lederstrumpf 1 wartete darauf, dass über die Solarpanels Energie hereinkam. Da wartete er umsonst. Sein elektronisches Gehirn begann einzuschlafen um Energie zu sparen.
Alex Gillespie lächelte inmitten seiner Jünger und Jüngerinnen. Einmal in der Woche feierten sie eine Art Gottesdienst zusammen. Sie benutzten dafür wie selbstverständlich den zentralen Versammlungsdom. Die Zugänge waren verschlossen worden, die Bedenkenträger dadurch ausgesperrt. Alex war am Ziel seiner Träume! Er hatte die Herrschaft über den Mars errungen. Von hier aus würde eine neue Welt, ein Garten Eden entstehen. Und dieser Garten Eden würde mit neuen Menschen bevölkert werden, ohne die Erbsünden der gescheiterten, an ihrem eigenen Dreck erstickenden, Erdenmenschheit. Sie würden hier alle wie Brüder und Schwestern zusammenleben, neues Leben erschaffen, züchten, genetisch verbessern! Das Goldene Zeitalter, es war nah. Alex schloss versonnen die Augen. Sie bildeten jetzt einen großen Kreis und fassten sich gegenseitig an den Schultern. Eine neue Gemeinschaft, eine starke Gemeinschaft und er selbst, der Eindringer, Erschaffer, Kenner und Vollender des Willens der allumfassenden Natur. Seine neu angekommenen Jünger hatten von der Erde etwas ganz Besonderes mitgebracht. Zehn Kisten Rotwein! Heute würden sie eine Flasche zusammen leeren um ihren Zusammenhalt symbolisch zu besiegeln. Sie würden alle aus derselben Flasche trinken die von Sergeij soeben entkorkt wurde. Alex lief es ganz warm durch seinen Körper wenn er an seine anhänglichen und gläubigen Jünger dachte. Gute Jungs, gute, schwangere Mädels, mit unbeugsamen Willen und starkem Glauben, tatendurstig. Seine Augen glänzten bei dem Gedanken an die fünf Fesselballons, die sie im Geheimen hergestellt hatten. Das war natürlich nichts für die Bedenkenträger. Solcher Kühnheit waren sie nicht fähig. Sie hatten keine Visionen, keine Phantasie, waren uninspiriert. Sie würden untergehen, genau so wie der Dreck der noch auf der Erde herumkroch, in den letzten Zügen liegend. Noch mehr Wärme schwallte wellenförmig durch seinen Körper. Die Lichter begannen zu kreisen. Alex begann breit zu grinsen. Er schaute in die Gesichter seiner Jünger und Jüngerinnen und bemerkte auch dort ein breites Grinsen. Alle waren froh. Das war gut so. Das war sehr gut so. Seeeeehr guuuuuuuuut. Dann fiel er um.
„Was hast du ihnen denn in den Wein getan?“ wollte Hershel Goodwin von Lin Piao wissen. „Etwas das im 19. Jahrhundert in Europa freiverkäuflich und billig als Allheilmittel zu haben war, Laudanum.“ „Laudanum? Was ist das denn für ein Zaubertrank?“ „Der Hauptbestandteil ist Opium, in Wein aufgelöstes Opium.“ „Opium?“ Hershel grinste breit. „Hey you old motherfucker. Wusste gar nicht dass du dealst!“ Lin Piao blickte streng. „Laudanum ist Medizin. Tausendfach erprobt mit einer selten großen Therapiebreite und Anwendersicherheit.“ Im weitergehn fügte er noch hinzu „Der einzige Nachteil ist dass man davon abhängig werden kann. Aber die Gefahr besteht in diesem Fall nicht weil ich meine Vorräte selbstverständlich mitnehme.“ Die neuen Menschen würden ein paar Stunden gemütlich schlafen. Schnell und konzentriert wurden die Ballons beladen. Es mussten eine Menge Gerätschaften mitgenommen werden. Schließlich wollten sie, weit weg von Olympus Mons, eine weitere Kolonie, ihr Exil, gründen. Sie nahmen alles mit was man zur Herstellung weiterer Fesselballons brauchte. Schließlich wollten sie ihre Ruhe vor den Fanatikern. Die Hüllen füllten sich langsam, begannen sich aufzurichten. Vierzehn Menschen und ein Baby bestiegen schweigend die Gondeln. Die Ballons hoben ab. Langsam stiegen sie in den gelben Marshimmel auf. Lin Piao sah, ein wenig wehmütig, auf die, kleiner werdenden, Außenanlagen von Tycho Brahe hinab. „Lin!“ „Ja, was ist Hardy?“ „Funkspruch von der Eden-Außenstation. Lustig ruft uns.“ „Lin Piao steckte sich den Clip ins Ohr. Der Clip war Funkgerät, Lautsprecher und Mikrofon in einem. Beim Sprechen vibriert ein menschlicher Schädel. Diese Vibrationen nahm der Clip auf und übersetzte sie in Schallwellen. Die Ära der lästigen Kehlkopfmikrophone kannte man nur noch aus dem Fach Technikgeschichte. „Lustig von Piao, was gibt’s.“ „Wir wünschen euch viel Glück, Piao. Wir halten Verbindung mit euch. Wir sind ja verseucht. Da werden sich die Spaghettis schon nicht hertrauen.“ „Machts gut Eden-Außenstation. Wir werden über einen der Satelliten mit euch Kontakt aufnehmen. Das ist das letzte Mal, dass wir unverschlüsselt miteinander reden können.“ Um den Mars kreisten allerhand Forschungssatelliten. Lin Piao lauschte noch eine Weile dem leeren Rauschen im Äther. Eden-Außenstation hatte sich abgeschaltet. Er wusste, dass die sechs Verbündeten dort unten im Freien stehen würden, nackt, mit grüner Haut, in durchsichtigen Polymeranzügen. Manuel Lustig war nicht mehr der einzige Symbiont. Die anderen fünf Menschen hatten sich freiwillig mit Anabaeana Ares infiziert und konnten so ohne Pressluftatmer auf dem Mars existieren.
Die Körbe unter den fünf Ballons waren Druckkamern. Die Sauerstoffvorräte würden für drei Monate reichen. Bis dahin mussten sie einen neuen Platz gefunden und ausgebaut haben, die Sauerstoffproduktion aus Algentanks musste angelaufen sein. Sie schwebten jetzt fünfhundert Meter über dem Kraterrand von Olympus Mons. Die Ballons hatten sich zu einer Kette auseinandergezogen. Eine leichte Marsbrise trug sie nach Südosten, auf Ascraeus Mons zu. Nachdenklich schaut Lin Piao aus dem Fenster in die Tiefe. Vor 133 Jahren begab sich schon mal ein Chinese auf einen langen Marsch, Mao Zedong. In 370 Tagen marschierte die damalige rote Armee ungefähr 12.500 km weit durch die unwegsamsten Regionen Chinas um sich vor drohenden Einkreisung und Vernichtung zu bewahren. Wo würde sie ihr langer Marsch hinführen? Lin Piao atmete schwer.
Tag der Veröffentlichung: 27.03.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Ich widme diesen Text meiner Biologielehrerin am Münchner Abendgymnasium, Frau von Schlichting, deren interessante Ausführungen über Leben, Einzeller und Evolution sehr zur Geburt der Amöbenquallen beigetragen haben