Wir schreiben das Jahr 2067. Unermessliche Flüchtlingsheere aus dem, durch die Klimakatastrophe austrocknenden, sterbenden Afrika erobern Europa. Die staatliche Ordnung bricht weitgehend zusammen. Die vereinigten europäischen Streitkräfte sind nur noch in der Lage größere Industrieansiedlungen und Ballungsräume zu verteidigen. Moderne Stadtstaaten. Sie sind vom Umland und damit von der Versorgung mit Nahrungsmitteln abgeschnitten. Diese Nahrungsmittel müssen durch militärische Expeditionen immer wieder erobert werden. Aber die Felder werden durch den Bürgerkrieg nicht mehr bebaut. Niemand wagt eine Prognose, wie lange die Städte und Industrieregionen der Belagerung durch die hasserfüllten, unorganisierten Menschenmassen noch standhalten können. Niemand wagt sich auszumalen, was dann folgen wird. Das Land außerhalb der belagerten Stadtstaaten versinkt in einer Orgie von Mord, Vergewaltigung und Folter. Die rasenden Massen haben hinter sich einen sterbenden Kontinent und vor sich, mitleidlos verteidigte, europäische Festungen. Dazwischen nur blanke Verzweiflung, Tod und Raserei.
Die USA, Russland, China und Indien hatten bereits drei Expeditionen zum Mars geschickt, mit dem Ziel, den Planeten dauerhaft zu besiedeln. Sie gründeten die Marssiedlung Tycho Brahe im Krater von Olympus Mons, dem größten Berg im Sonnensystem. Mit der dritten Expedition war eine religiös-fundamentalistische Sekte auf den Mars gekommen. Sie wollte den Mars mittels Terraforming in eine neue Erde verwandeln und eine neue Menschheit begründen. Zu diesem Zweck schleppten sie, Sauerstoff produzierende, irdische Cyanobakterien ein. In der harten, von keiner Atmosphäre oder Magnetfeld abgeschirmten, Strahlung auf dem Mars, mutierten einige der Bakterien schnell und bildeten Geschwüre auf der Haut, die sich ihre Energie aus der Körperwärme holten. In den Regierungen der vier raumfahrenden Nationen war umstritten, ob weitere Expeditionen zum Mars unterstützt werden sollten, oder die gewaltigen Ressourcen nicht besser auf der Erde zu verwenden waren.
Die „Four Nations“, die Erstangekommenen, saßen mit ernsten Minen im Kartenraum zusammen. Auf einem der Monitore war die typische, rostbraune, Mars-Trümmerlandschaft zu sehen, eine Bildübertragung von einem der drei Scoutroboter, welche die weitere Umgebung von Olympus Mons erkundeten. Das Bild sah durchschnittlich und langweilig aus, bis auf ein kleines Detail. Einer der Felsbrocken war von einer grünen Schicht überzogen. In einem Textfeld war die Botschaft des Scoutroboters zu lesen:
„Von Lederstrumpf 1 - Meldung über einen Fund: Bakterien, Farbe Grün. - Vermutlich zur Photosynthese fähig. - Möglicherweise vergleichbar mit irdischen Cyanobakterien vom Typ Anabaeana.“
Hershel Goodwin haute mit seiner schwarzen Faust auf den Tisch. „Diese Arschlöcher!“ Der afroamerikanischer Geologe sah aus wie ein Rapper, mit Ohrring, Kinnbart und sogar einer Narbe unter dem linken Auge. Auch die russische Physikerin Svetlana Ajvazova runzelte ärgerlich die Stirn unter ihren dunkelblonden Locken. Die ausdrucksstarken schwarzen Augen funkelten böse. Die indische Informatikerin Hardeep „Hardy“ Kaur schüttelte nur ihren, schmuckbehängten Kopf dass es klimperte. „Das können nur diese verdammten „Spaghettis“ gewesen sein!“ kommentierte sie. „Spaghettis“ war der wenig schmeichelhafte Spottname für die Anhänger der religiös fundamentalistischen „Eden“-Gruppe. Der Name bezog sich auf ihr Logo, ein altertümliches, verschnörkeltes E das, wenn man so will, einer übriggelassenen Spaghetti auf einem Tellerrand ähnelte. „Wie haben sie das nur fertiggebracht?“ Lin Piao, der chinesische Arzt, war fünfundfünfzig Jahre alt, der älteste menschliche Marsbewohner und er sah aus wie siebzig. Er legte, angestrengt nachdenkend, seine ohnehin faltige Stirn in noch mehr Falten. Jetzt sah er aus wie achtzig. „Ich glaube, sie lassen die Cyanobakterien von den Marsstürmen verteilen.“ vermutete er. „Hardy“ hackte bereits in die Computertastatur. Auf dem Monitor erblickte man jetzt den Nebenkrater, in dem Alex Gillespie mit seinen Anhängern Cyanobakterien zur Sauerstoffproduktion gezüchtet hatte. Die Kamera schwenkte und zoomte. „Da! Hier wurde etwas abgekratzt.“ In der Nahaufnahme war genau zu sehen, dass Bakterienrasen entnommen worden war. „Gar nicht dumm, diese Eden-Leute.“ Lin Piao kratzte sich nachdenklich am Kinn. „Gar nicht dumm??“ Hershel Goodwin explodierte. „Das ist vollkommen irre!!! Die verteilen hier irdische Organismen über einen ganzen Planeten wie man Reis über ein Brautpaar streut! Niemand weiß was die damit lostreten!!!“ Unvermittelt senkte er die Stimme zu einem gepressten Flüstern. „Die Eden-Außenstation steht schon unter Quarantäne, weil die Bakterien dort mutiert sind und sich geschwürartig in die Haut fressen!!!!!“ Hershels Augen schienen aus den Höhlen zu treten. Die Narbe unter dem linken Auge hatte sich dunkel verfärbt, dicke Adern traten aus dem Hals hervor. „Was sollen wir noch alles unter Quarantäne stellen. Den ganzen Mars etwa?“ „Was willst du tun?“ fragte Lin Piao sachlich. „Was ich tun will? Diesen verdammten Motherfuckern den Arsch aufreißen, bis zum Anschlag, das will ich tun!!!“ Hershels Stimme überschlug sich. In diesem Moment sah er einem ehemaligen Vorsitzenden, der American Association for the Advancement of Science, besonders wenig ähnlich. „Was GENAU willst du tun?“ Lin Piao ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Svetlana Ajvazova assistierte ihm. “Das ist der Punkt. Wir können nichts tun. Wir sind auf die acht Leute angewiesen.“ Von Hardy Kaur kam zustimmendes Klimpern. „So leid es mir tut. Genau so ist es.“ Hershels Kinnmuskeln arbeiteten unter der Haut wie eingenähte Kampfhunde. Leider stimmte es. In der verseuchten Eden-Außenstation lebten sechs Menschen isoliert. Hier auf Tycho Brahe waren sie noch vierundzwanzig. Sie konnten unmöglich auf acht Menschen, ein Drittel, verzichten. Jede Hand wurde gebraucht. In zwei Monaten würde die vierte Marsexpedition ankommen. Bis dahin war noch Allerhand zu tun damit man die zusätzlichen zwanzig Personen unterbringen konnte. Wenigstens bis dahin konnten sie nichts unternehmen. Aber dann, vielleicht .... seine Zähne knirschten besorgniserregend.
In der Eden-Außenstation stand Manuel Lustig im Labor und kontrollierte die Petrischalen. In jeder dieser Schalen züchtete er die mutierten, Wucherungen bildenden, Cyanobakterien. In jeder dieser Schalen hatte er einen anderen, Antibiotika absondernden, Pilz gesetzt. Zehn Lagen mit jeweils 50 Petrischschalen. Sie alle zu kontrollieren war eine äußerst anstrengende, ermüdende, Konzentrationsarbeit. Die Ergebnisse hackte er in seinen Wrist am Handgelenk, der sie drahtlos in den Computer übertrug. Lage 7, Schale 319, normales Wachstum. Mit zwei Fingern rieb er sich über die müden Augen. Schale 320, normales Wachstum. Manuel unterdrückte ein Gähnen. Er rieb sich beide Schläfen um wieder wach und aufmerksam zu werden. Wo war er stehengeblieben? Ah, ja. Schale 320, normales Wachstum. Weiter. Schale 321, ... sieht mal einer an. Ein bakterienfreier Hemmhof hatte sich um den Pilz herum gebildet! Manuel war jetzt hellwach. Ein bakterienfreier Hof bedeutete, dass dieser Antibiosepilz das Wachstum von Anabeana Lustig hemmte. Oder den Bakterienstamm vielleicht sogar aktiv tötete. Jah!!! Danach hatte er gesucht!!!
Manuel Lustig war ein hochintelligenter Student gewesen. Schon als Schüler war er immer Klassenerster. Urkunden und Pokale, wie man sie bekommt wenn man Schulbester ist, füllten bei ihm eine ganze Vitrine. Das Studium der Biologie flog nur so dahin. Schon zwei Jahre vor seiner Abschlussarbeit die, fast müßig zu erwähnen, natürlich prämiert und in Current Biology, einer der weltweit führenden Fachzeitschriften, veröffentlicht wurde, hatte er den Vertrag einer Biotechnologiefirma in Kalifornien in der Tasche. Er war ein junger Wilder, einer von dem Format die Lehrmeinungen in Frage stellen und dann auch noch Recht behalten! Sein ambitioniertestes Projekt, vor dem Flug zum Mars, war die biologische Reaktivierung des Ganges, des 2.700 km langen Hauptstromes im Nordosten Indiens. Durch starke Wasserentnahme, für den Bewässerungsfeldbau, führte er zu wenig Wasser. Hinzu kamen verstärkte Abholzungen im Himalaya, was seinem oberen Einzugsgebiet die Wasserspeicherfähigkeit entzog. So kam es einerseits zu katastrophalen Überschwemmungen während der Regenzeit und im Gegenzug, in den regenarmen Perioden, zu Überhitzung, Algenwachstum und biologischem Umkippen. Manuel Lustig entwickelte durch Genmanipulation wärmeresistente Mikroorganismen die das Umkippen verhinderten. Der Ganges wurde wieder fischreich, in der dichtbesiedelten Gangesebene bevölkerten sich ausgestorbene, aufgegebene Flussansiedlungen neu.
Professor Lustig wurde in Indien mit Ehrungen und Preisen überhäuft. Universitäten und Straßen wurden nach ihm benannt, wenn er durch Straßen spazierte warfen sich die Menschen vor ihm in den Staub und huldigten ihm, wie einem Gott. Manuel Lustig genoss das alles, stand mit Fliege und Cocktailglas auf Sektempfängen gönnerhaft herum, lächelnd, im Bewusstsein dass er Millionen Menschen zu einem neuem Leben verholfen hatte, geschmeichelt dass die Menschen es ihm dankten. Er war ein Star in der Wissenschaftsgesellschaft. Die Studentinnen balgten sich um ihn, den berühmten Professor und Menschenfreund; ja, auch das. Die nachfolgenden Veränderungen im Ganges waren zunächst nahezu unsichtbar. Einige der Mikroorganismen begannen, nach einer bestimmten Anzahl von Generationen, Säure auszuscheiden. Zuerst trieben nur vereinzelte tote Fische im Wasser. Darüber machte sich noch niemand Gedanken. Dann wurden es Duzende, später Tausende. Als ein bestimmter Tipping-Point überschritten war, brach sich die Katastrophe Bahn. Der Ganges bekam einen Ph-Wert wie Batteriesäure! Mit Ausnahme der Säureausscheider selbst, starb alles Leben in dem 2.700 km langen Fluss, der Lebensgrundlage für Millionen Menschen. Sie verloren alles, sogar das Trinkwasser.
Die Verehrung schlug um in blindwütigen Hass. Puppen mit seinen Zügen wurden öffentlich verbrannt, nach ihm benannte Schulen angezündet. Millionen hungerten, verhungerten, starben an Verätzungen in der Speiseröhre wenn sie trotz Verbot von dem Flusswasser tranken. Für die Welt, entlang des heiligen Flusses der Hindu, brach der jüngste Tag an. Fassungslos verfolgte Manuel Lustig damals die Nachrichten vom Untergang Nordost-Indiens, was Verhungern, Verdursten und Verätzung durch das säureartige Wasser für Millionen bedeutete! Manuel Lustig versteckte sich. Sein Abflug zum Mars, als Triumphzug geplant, vollzog sich in aller Stille. Eine Sintflut von Flüchen begleitete ihn auf seinem einjährigen Flug zum Mars. Er fühlte sich vernichtet.
Die Zuversicht und das Sendungsbewusstsein von Alex Gillespie und seinen ‚Neuen Menschen’ zog ihn magisch an. Alex war durchdrungen von verwegenen, grenzsprengenden Ideen, was Manuel an sich selbst erinnerte. Und er war zuversichtlich. Manuel begann sich an Alexs Zuversicht aufzurichten. Was konnte hier auf dem Mars schon groß schief gehen? Der Mars war tot. Steiniger Schrott auf einer Umlaufbahn um die Sonne. Schon genial die Idee, diesem Schrotthaufen zum Leben zu erwecken! Schlimmstenfalls misslang es und der Mars blieb so tot wie er vorher schon war. Bestenfalls erschufen sie eine neue Erde, neues Leben, eine neue Zukunft für Millionen, Milliarden Menschen! Manuel hängte sich das verschnörkelte E um, das Abzeichen der ‚Eden’-Gesellschaft. Er sah sich als einen modernen Prometheus, der den Menschen von den Göttern das Feuer brachte. Prometheus wurde von den Göttern bestraft, an einen Berg gekettet und von einem Adler gequält in dem er ihm die, immer wieder nachwachsende, Leber aus dem lebendigen Leib fraß. Manuel Lustig wurde nicht so hart bestraft. Es war nicht überhaupt nicht schmerzhaft. Es mutierte lediglich ein, eigentlich sauerstoffspendender, Bakterienstamm. Fortan wucherte der, hässliche Geschwüre bildend, auf seiner Haut und entzog ihm Körperwärme.
Manuel Lustig schmierte sich die roten Geschwüre mit der Antibiotika-321-Creme ein. Er hatte den anderen noch nichts gesagt. Er befand sich noch in der Phase des Selbstversuches und wollte keine falschen Hoffnungen wecken. Sie gingen sich ohnehin aus dem Weg, so weit das in der kleinen Eden-Außenstation ging. Schon nach zwei Tagen begannen die Geschwüre auszutrocknen und abzubröckeln. Aber noch war es Manuel nicht eindeutig genug. Er wartete eine Woche. Die Geschwüre waren jetzt mehr oder weniger verschwunden. Zurück blieb eine, von Narben entstellte, Haut. Manuel gestand sich ein dass es ziemlich scheiße aussah! Nachdenklich betrachtete er sein verwüstetes Gesicht im Spiegel. Ob ihn je wieder eine Frau ansehen würde? Er fühlte sich verletzlich. Es machte ihm, dem ehemals umschwärmten Professor, etwas aus. Er wagte sich noch nicht unter die anderen Menschen. Eine weitere Woche verging. Manuels Haut begann zu jucken. Nebenwirkungen? Gut, dass er noch nichts von seiner Entdeckung verraten hatte. Das Jucken wurde schlimmer, steigerte sich zum Brennen bis es schlagartig aufhörte. Gleichzeitig begann sich seine Haut grün zu verfärben. Manuel schabte sich Schuppen von der grünen Haut und untersuchte sie mit dem Elektronenmikroskop. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag! Die Anabeana waren abermals mutiert. Sie konnten wieder Photosynthese. Das Jucken und Brennen war davon gekommen, dass sie sich mit kleinen Ausläufern durch die Haut bis in die Blutgefäße gebohrt hatten. Daraufhin versiegelte Manuel das Labor und teilte seinen Mitbewohnern auf Eden mit, dass sich das Labor unter Quarantäne befand, weil das Bakterium wiederum mutiert sei. Die Leute mieden ihn wie die Pest. Eine Quarantänestation in einer unter Quarantäne stehenden Außenstation! Super. Nach 48 Stunden ohne Schlaf hatte Manuel aufgeklärt, was es mit den kleinen Schläuchen auf sich hatte, die der neue Bakterienstamm in seine Blutgefäße getrieben hatte. Durch diese Schläuche gab er Sauerstoff direkt in seine Blutbahn ab und entnahm dem Blut dafür Nährstoffe. Symbiose. Eine Doppelexistenz zum beiderseitigen Nutzen. Nutzen? Wie viel Sauerstoff konnte Anabeana Ares, Biologen lieben es neue Lebewesen zu entdecken und ihnen Namen zu geben, herstellen? Es gab nur einen Weg, das herauszufinden.
Die schwere Türe der Außenschleuse von Eden schwang langsam auf. Heraus trat ein seltsames Wesen auf das man sich zuerst keinen richtigen Reim machen konnte. Zwei Beine, zwei Arme und ein Kopf staken in einer Art ungeschickt zusammengenähter, durchsichtiger Plastiktüte. Das Wesen war nackt. Es ähnelte einem Menschen, glich ihm nicht. Die Haut, pockennarbig, schien irgendwie feucht-grün zu sein, wie bei einer Kröte. Vorsichtig tastend, wackelig suchte erst ein Fuß, dann der andere, Halt auf dem staubigen Marsboden. Man erkannte kein Atemschutzgerät und diese Art Gefrierbeutel in der das Wesen steckte, sah einem Raumanzug so ähnlich, wie die Leder-Pflanzen-Fetzen auf Robinson Crusoes Leib Kleidung ähnlich gesehen haben mochten. Manuel Lustig schlurfte unsicher im Freien herum, stellte sich in die Sonne. Die Plastiktüte in der er steckte, bestand aus einem neuartigen Polymer das die Weltraumstrahlung so gut wie Wasser abschirmen konnte und gleichzeitig die Körperwärme isolierte. Würde es funktionieren? Konnte er ohne Pressluftatmer in der dünnen Kohlendioxidatmosphäre des Mars überleben? Manuel ertappte sich dabei, wie er flacher atmete. Das war ja nun wirklich Blödsinn! Entweder es funktionierte, dann würde er leben. Oder es funktionierte eben nicht, dann würde er mit der flachen Atmung nur etwas später ersticken. Er schloss den Mund und atmete gar nicht mehr. Langsam wurde ihm schummrig. Die ferne Sonne bestrahlte ihn, durch die gelbliche Staubatmosphäre des Mars. Anabeana Ares nahm das Sonnenlicht auf und begann Sauerstoff zu produzieren. Würde es genug Sauerstoff sein? Verbissen presste Manuel Lustig jetzt seine Lippen aufeinander. Ganz oder gar nicht!
Wie lange stand er eigentlich schon draußen? Manuel sah auf seinen Wrist. Es waren 15 Minuten vergangen. Tja, das bedeutete wohl dass er überleben würde. Überleben, aber als was? War er noch Mensch oder war er schon Monster? Er war Symbiont geworden, lebte in Symbiose mit einem Bakterienstamm der für ihn atmen konnte. Er hatte die Fähigkeit im Sonnenlicht auf dem Mars ohne Pressluftatmer zu existieren. Das genaue Gegenteil eines Vampirs, Manuel musste schmunzeln. ER würde im Sonnenlicht leben und im Schatten ersticken, weil Anabeana Ares dann keine Photosynthese mehr betreiben könnte. Er war der Erste seiner Art. Vielleicht würde er der Einzige bleiben. Mit voller Wucht traf ihn die ganze Einsamkeit seiner Existenz. Allein. Allein im unendlichen Universum lastete wie eine Grabplatte auf ihm.
Hinter dem Geothermiedom führte ein Gang zu dem Außenkrater, in dem die ‚Neuen Menschen’ illegal Cyanobakterien züchteten. Das war mittlerweile bekannt geworden. Auf halben Weg dort hin zweigte ein weiterer geheimer Gang ab, der zu einem Labor führte. Das war noch nicht allgemein bekannt. In diesem Labor saß Alex Gillespie und laborierte an Flechten, symbiotischen Lebensformen aus Cyanobakterien und Pilzen, herum. Er versuchte Flechten herzustellen, die unter Marsbedingungen existieren konnten. Als nächstes waren dann Moose dran. Zu diesem Zweck plante er, an Zellkernen von irdischen Algen herumzubasteln. Inzwischen waren die Genstrukturen von vielen Pflanzen und Lebewesen aufgeklärt. Man konnte sie über wissenschaftliche Netzwerke herunterladen. Alex hatte sich schon die Genome verschiedener Moose auf seinen Rechner geladen. Die Funkverbindung mit der Erde dauerte zwar gute zwanzig Minuten, was das Surfen im Internet ungemein nervig machte, aber Herunterladen von Dateien funktionierte grundsätzlich. Wenn er das mit den Flechten geschafft hatte, würde er versuchen das Genom verschiedener Moose in den Zellkernen von Algen nachzubilden. So muss Gott sich gefühlt haben, lief es ihm warm durch den ganzen Körper. Hey, das ist ja besser als Sex!
Lidia Finkelstein wiegte den ersten Marsgeborenen, Aaron, auf den Knien und summte ihm ein Schlaflied. Aaron war der Sohn von Alex Gillespie. Als Lidia erkannte, was für wahnsinnige Ideen der verfolgte, hatte sie sofort mit ihm gebrochen. Sie war ein leidenschaftlicher Mensch und die Erkenntnis des Größenwahns von Alex hatte in ihr heftigste Ablehnung hervorgerufen. War sie überhaupt richtig verliebt gewesen? Oder hatte sie den schönen, geheimnisvollen Mann einfach nur begehrt? Manchmal dachte Lidia darüber nach. So genau konnte sie das nicht beantworten. Das Kind hatte sie schließlich mit Hilfe von Lin Piao und Svetlana Ajvazova zur Welt gebracht. Aaron hatte keinen Vater und er hatte viele Väter und Mütter. Natürlich wuselte das gesamte Volk von Tycho Brahe um den kleinen Hosenscheißer herum. Jeder und jede knuddelte und herzte dieses erste Baby auf dem Mars. In was für eine Welt wirst du wohl hineinwachsen, kleiner Mann, so weit von der Erde entfernt? Die Erde wirst du nur noch aus Erzählungen kennen, Erdlegenden für dich. Deine Heimat wird der Mars sein.
Nukleinsäure ist ein zäher Stoff. Viren bestehen im Wesentlichen daraus. Sind Viren überhaupt Lebewesen? Sie haben keinen Stoffwechsel, bestehen nur aus Informationen, ein Hirn ohne Körper. Aber ein Kuckuckshirn. Viren benutzen fremde Bakterien als Korpus. Können sie in einen fremden Bakterienleib eindringen, programmieren sie ihn um. Das Kuckuckshirn schmeißt das Originalhirn aus dem Schädel, sozusagen. Vor Jahrmillionen hatte es auf dem Mars auch Leben gegeben. Allerdings war es über das Stadium sehr primitiver Lebensformen nicht hinausgekommen, bis Sonnenwinde die mickrige Marsatmosphäre, von keinem Magnetfeld geschützt, hinwegfegte und dem Leben auf dem Mars ein Ende bereitete. Übriggeblieben waren Viren, diese geheimnisvollen, unglaublich zähen Mikrogebilde, an der Grenze zwischen belebter und unbelebter Materie. Am 12. September 2067 drang ein, jahrmillionen alter, marsianischer Virus in eine irdische Blaualge auf dem Mars ein. Er zerstörte deren Nukleinsäure. Jetzt hatte er wieder einen Körper.
Tag der Veröffentlichung: 19.03.2009
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Widmung:
Manuel Lustig bedankt sich bei Ulizit für die Idee zu seiner Vita